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Die Tagung der Arbeitsgemeinschaft
zur preußischen Geschichte wich insofern von dem sonst üblichen
Verlauf ab, als die Arbeitsgemeinschaft ihr 25jähriges Bestehen beging
und dieses Ereignis zum Anlaß einer Zwischenbilanz der Preußen-Forschung
während der vergangenen Jahrzehnte nutzte.
Die Fachvorträge beschäftigten
sich mit Themen und Perspektiven der Forschungen zur preußischen
Geschichte. Als erster Referent sprach Prof. Dr. Peter Baumgart (Würzburg)
über das Thema Das ‚alte Preußen` im Spiegel der neueren und
neuesten Historiographie. Ausgehend von der Feststellung, daß die
Preußen-Forschung während der letzten Jahrzehnte, ungeachtet
ihrer Randposition in der "organisierten Geschichtswissenschaft", beachtliche
Ergebnisse gerade auch für das Ancien Regime erbracht habe, zeigte
der Referent - durchaus in revisionistischer Absicht - an Hand neuerer
Arbeiten gegenwärtige Forschungstrends und -tendenzen auf Dabei befaßte
er sich zunächst kritisch mit der Dominanz des "Primats der Innenpolitik"
und der damit verbundenen Konzentration auf die inneren Strukturen des
frühneuzeitlichen Preußen, die in Anlehnung an die ältere
borussische Tradition der Schmoller-Schule insbesondere von der Gesellschaftsgeschichte
Bielefelder Provenienz favorisiert wird. Dieser Forschungsansatz, der sich
deutlich von Ranke und Droysen mit ihrem "Primat der Außenpolitik",
aber auch von der Interdependenz äußerer und innerer Faktoren
bei Hintze abgrenzt, habe zu einem radikalen "Paradigmawechsel" geführt,
der durch die unterschiedlichen Preußenbilder im geteilten Deutschland
seit 1949 noch verstärkt wurde.
Demgegenüber zeichne
sich in der jüngsten Preußen-Forschung eine Relativierung dieses
Ansatzes, wenn nicht sogar eine Trendwende ab. So läßt sich
nach Meinung des Referenten in den neuesten Arbeiten eine Abkehr von der
Dominanz der Innenpolitik und damit verbunden eine Wiederentdeckung der
Außenpolitik nachweisen, was insgesamt zu einer vorsichtigen Rückkehr
zur Interdependenz der inneren und äußeren Antriebskräfte
in der preußischen Geschichte führt. Diese teilweise in der
deutschen Geschichtswissenschaft feststellbare Entwicklung (J. Kunisch)
gilt in größerem Umfang für die Arbeiten englischer Historiker
der Cambridge-Schule über Preußen im 18. Jahrhundert. Das methodische
Fazit dieser Historiker - so wie es von Brendan Simms 1997 formuliert wurde
- lautet: "The historian of the preindustrial age has more to learn from
Ranke and Otto Hintze than from Marx".
Parallel zum außenpolitischen
Revisionismus ergeben sich vergleichbare Neuansätze in der Erforschung
des preußischen Heerwesens unter dem Absolutismus. So seien die neueren
Arbeiten durch eine Abkehr von den bloßen Militarisierungstendenzen
der Sozialhistoriker im Anschluß an O. Büsch gekennzeichnet;
ebenso würden die Thesen von der Sozialmilitarisierung zumindest für
Teilregionen durch die Edition von J. Klosterhuis "Bauern, Bürger
und Soldaten" (1992) relativiert. Revisionistische Tendenzen zur Historiographie
des Alten Preußen fänden sich weiterhin in den Bereichen der
Bildungs- und Schulgeschichte, wo namentlich die Monographie W. Neugebauers
(mit Editionsband 1992) zur Schulwirklichkeit im absolutistischen Staat
pädagogikgeschichtliche Klischees von der "Untertanenschule" als "Herrschaftsinstrument"
in Preußen einer grundlegenden Kritik unterzogen habe. Und schließlich
habe die vieldiskutierte Ständeproblematik seit dem Berliner Symposion
"Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen" (1980)
zu weiteren Vertiefungen und Differenzierungen des damaligen Ansatzes geführt,
wobei unter anderem die Bedeutung des "Regionalismus" stärker akzentuiert
worden sei. Der Referent schloß mit der Frage nach einer neuen Synthese
der historischen Erforschung des Alten Preußen auf der Basis der
neueren Arbeiten. Diese kann seiner Meinung nach nicht als Gesellschaftsgeschichte
konzipiert werden, sondern scheint nur dann möglich, wenn sie an Positionen
Otto Hintzes anknüpft, ohne sich allerdings auf die Problemstellung
einer Dynastiegeschichte zu beschränken.
In der Diskussion wurden
insbesondere folgende Themen angesprochen: die Leistungen und Grenzen neuer
methodischer Ansätze in der Geschichtswissenschaft, das Problem des
Revisionismus in der Geschichte des frühneuzeitlichen Preußen,
die Abgrenzung der Mikrohistorie von den traditionellen Regionalstudien.
Das zweite Referat hielt
Prof. Dr. Karl Heinrich Kaufhold (Göttingen). Er befaßte sich
mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Preußens im 19. Jahrhundert.
Wesentlich stärker als die anderen deutschen Staaten war die wirtschaftliche
und gesellschaftliche Entwicklung in Preußen zwischen dem Wiener
Kongreß und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs das Ergebnis unterschiedlicher
Abläufe in den einzelnen Provinzen, Diese Unterschiede wurden im Laufe
des Jahrhunderts nur zögernd und nur zu einem Teil ausgeglichen. Zieht
man dennoch eine Summe für den gesamten Staat, so ist festzustellen,
daß die wirtschaftliche Entwicklung zum einen vom wirtschaftlichen
Wachstum, zum anderen vom Wandel der Wirtschaftsstruktur bestimmt wurde.
Wichtigste Träger des Wachstums waren, vor allem nach 1850, das Gewerbe
und in ihm die Industrie. Im gesamten Zeitraum blieb die Grundtendenz der
Wirtschaftspolitik liberal, freilich mit Akzentverschiebungen im Ausmaß
des Staatseinflusses auf die Wirtschaft, der jedoch entgegen der verbreiteten
Auffassung niemals ganz fehlte. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu
berücksichtigen, daß Wirtschaftspolitik im Sinne einer Steuerung
des Wirtschaftsprozesses durch den Staat unbekannt war.
Die sozialen Verhältnisse
wurden im Laufe des Jahrhunderts von drei bedeutenden Einflußgrößen
bestimmt: dem anhaltend starken Bevölkerungswachstum, den Wirkungen
des wirtschaftlichen Strukturwandels und der Widerstandskraft wichtiger
Elemente der traditionellen ständisch orientierten Sozialstruktur.
In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entstand als Folge der Industrialisierung
eine umfangreiche Arbeiter- und später auch Angestelltenschaft. Im
Bürgertum schied sich das durch Besitz und/oder Bildung definierte
Großbürgertum zunehmend vom Kleinbürgertum in Handwerk
und Detailhandel. Dieses bildete trotz teilweiser Wandlungen ebenso wie
die ländliche Gesellschaft ein beharrendes Element. Das galt für
die Bauern, aber auch für den gutsbesitzenden Adel besonders im Osten
der Monarchie. Im übrigen war der Gutsbesitz bis zum Ende des Jahrhunderts
zu zwei Dritteln in bürgerliche Hände übergegangen, ohne
daß sich von einer "Verbürgerlichung" des Adels oder von einer
"Feudalisierung" der bürgerlichen Besitzer generell sprechen ließe.
Preußen betrieb als
Nachwirkung des wohlfahrtsstaatlich orientierten Kameralismus des 18. Jahrhunderts
auch im 19. Jahrhundert stets eine staatliche Sozialpolitik, allerdings
in unterschiedlicher Intensität. Seit den 1880er Jahren bestimmte
Preußen als Hegemonialmacht des Reiches dessen Sozialpolitik maßgeblich
mit. Diese Sozialpolitik, die in einigen Bereichen, vor allem in der Sozialversicherung,
vorbildlich war, markierte den "deutschen Weg" zur Entschärfung sozialer
Probleme. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Preußens fügte
sich in die der anderen großen europäischen Industriestaaten
durchaus ein. Selbstverständlich ging Preußen dabei einen "Sonderweg",
doch war seine Entwicklung in den Grundzügen mit denen der anderen
europäischen Wirtschaftsmächte vergleichbar und unterschied sich
nicht signifikant von dem "europäischen Industrialisierungsmuster"
des Jahrhunderts.
In der Aussprache ging es
im wesentlichen um die Beziehungen zwischen der preußischen und der
deutschen Wirtschaftsentwicklung und damit um eine eigenständige preußische
Wirtschaftsgeschichte, um Möglichkeiten und Grenzen der Wirtschaftsförderung,
in Preußen im 19. Jahrhundert, um das Verhältnis des Gesamtstaates
zu den Provinzen sowie um die Integrationskraft des preußischen Staates.
In dem abschließenden
Vortrag über Preußen 1806-1866 / 70 / 71. Vom alten Reich zum
neudeutschen Staat konzentrierte sich Prof. Dr. Heide Barmeyer-Hartlieb
(Hannover) auf drei Themenkomplexe: die preußische Reformzeit, die
Verfassungsproblematik und die Reichsgründung. Dabei charakterisierte
sie die Eigenart des Reformprozesses nach 1806 folgendermaßen: Die
preußischen Reformen bildeten im Unterschied zu den Vorläuferreformen
im Alten Preußen eine konzeptionelle Einheit, eine zusammenhängende
Reform "an Haupt und Gliedern". Die Gründe dafür resultierten
aus dem Überwiegen der Gemeinsamkeiten und der Stärke des Reformwillens
im Vergleich mit der Zeit vor 1806 bzw. nach 1822. Darüber hinaus
waren Stein und Hardenberg trotz unübersehbarer Unterschiede nicht
Antipoden, sondern in der Diagnose des Notwendigen weitgehend einer Meinung.
Die reformbereiten Mitarbeiter in Bürokratie und Heeresverwaltung
sorgten für eine Reformkontinuität über den personellen
Wechsel hinaus und beeinflußten die Reformtätigkeit im Alltag
so lange, bis die reformgünstige Großwetterlage 1819 umschlug.
Zu den Besonderheiten der preußischen Reformzeit gehört schließlich
auch, daß die Vorreformen auf dem Gebiet der Justiz, der Agrarverfassung
und der Verwaltung eine explosive Situation wie im vorrevolutionären
Frankreich verhindert und zugleich eine Modernisierungsbereitschaft geweckt
hatten.
Danach beschäftigte
sich die Referentin in einem Längsschnitt durch die preußische
Geschichte des 19. Jahrhunderts mit der Verfassungsproblematik. In diesem
Zusammenhang betonte sie den für die preußisch-deutsche Entwicklung
charakteristischen Schwebezustand zwischen monarchischem System und Volkssouveränität,
den sie aus der spezifischen historisch-politischen Entwicklung begründete.
Die konstitutionelle Monarchie mit monarchischem Prinzip und Lückentheorie
war keine Erfindung Bismarcks, sondern konnte auf eine lange staatsrechtliche
Tradition zurückblicken. Sie basiert auf dem älteren, vorrevolutionären
Verfassungsverständnis, das Herrschaft nicht allein aus der Verfassung
legitimiert, sondern aus dem historischen Verfassungsoktroi des Monarchen
das Fortbestehen vorkonstitutioneller monarchischer Herrschaftslegitimation
ableitet und daraus die Konsequenz monarchischer Souveränität
für den entscheidenden Konfliktfall in Verfassungsfragen zieht. Die
darauf bezogene Verfassungssicht eines eigenständigen, leistungsfähigen
preußisch-deutschen Weges (Huber) war weit verbreitet und wurde Kernbestand
einer deutschen Ideologie. Nach den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts
erfuhr diese Interpretation von Vertretern der sogenannten "kritischen
Geschichtswissenschaft" eine Wiederaufnahme und negative Umdeutung.
In ihren Schlußbemerkungen
skizzierte die Referentin die aktuellen Kontroversen über die Verfassungswirklichkeit
des Kaiserreichs. Am Beispiel der einschlägigen Arbeiten von Hans-Ulrich
Wehler und Thomas Nipperdey stellte sie die wichtigsten Positionen in dieser
Debatte dar und erläuterte dabei sowohl den strukturgeschichtlichen
Ansatz einer Geschichtswissenschaft, die sich als historische Sozialwissenschaft
versteht, als auch die stärker historisch-personalistisch arbeitende
Geschichtswissenschaft, die trotz der Kritik am Historismus an dessen methodischen
Verdiensten festhält und das Objektivitätspostulat als regulative
Idee verteidigt.
Die folgende Debatte konzentrierte
sich auf die Funktion Preußens als liberaler Kulturstaat, das Problem
der Verfassung in Preußen und die Idee der Volkssouveränität,
die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der Reformen in den
Rheinbundstaaten sowie Fragen der Periodisierung der preußischen
Geschichte im 19. Jahrhundert.
Den Abschluß der Tagung
bildete eine Podiumsdiskussion, in der Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft
zur preußischen Geschichte auf der Grundlage ihrer Arbeitsgebiete
weitere Forschungsperspektiven entwickelten und dabei auf Desiderate der
Forschung hinwiesen. Im Mittelpunkt stand zunächst die neuzeitliche
Kommunikationsgeschichte (PD Dr. Esther-Beate Körber). Die Themen,
die in diesem Zusammenhang genannt wurden, bezogen sich auf die Bedeutung
der internen Nachrichtenverbindungen für die Gestaltung der Politik,
die tatsächliche Verbreitung von Informationen, die Verbindungen und
Wechselwirkungen zwischen "privater" und "öffentlicher" Sphäre
sowie auf das Problem der Vielsprachigkeit des preußischen Staatenverbandes.
Ergänzt wurden diese Ausführungen durch Prof. Dr. Ernst Opgenoorth,
der mit Blick auf die innere Vielfalt Preußens die Dynastie bzw.
den Gesamtstaat im Verhältnis zu den Territorien / Provinzen als ein
nach wie vor bedeutsames Forschungsgebiet zur Sprache brachte. Ferner plädierte
er unter dem Aspekt "Staatsapparat und Gesellschaft" für eine stärkere
Beschäftigung mit der Sozial-, Bildungs- und Mentalitätsgeschichte
der Beamtenschaft, für Arbeiten zur regionalen Verwaltung (Kammern
und Vorbehörden, das Verhältnis zu den Ständen) und schließlich
für eine vertiefte Beschäftigung mit dem Thema Militär und
Gesellschaft in der frühen Neuzeit.
Ein weiterer Schwerpunkt
der Diskussion beschäftigte sich mit dem Nachleben Preußens.
Dabei wurde sowohl der Beitrag Preußens zur Entwicklung freiheitlicher
Vorstellungen in Deutschland angesprochen (Prof. Dr. Wolfgang Stribrny)
als auch das "lange Ende Preußens" während des "Dritten Reiches"
(PD Dr. Wilhelm Kreutz) sowie das Nachleben Preußens nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges, einschließlich seiner politischen Instrumentalisierung.
Für die Zeit zwischen 1933 und 1945 läßt sich feststellen,
daß trotz der seit zwei Jahrzehnten andauernden Konjunktur regional-
und lokalhistorischer Studien zur Herrschafts- und Verwaltungspraxis der
NS-Diktatur oder zum nationalsozialistischen Alltag die preußischen
Provinzen ungeachtet ihres quantitativen Übergewichts unterrepräsentiert
geblieben sind. In diesem Kontext erweist sich das Verhältnis von
"gesetzlichem Zentralismus" und "praktischem Partikularismus" als ein wichtiges,
bisher allerdings nur in Ansätzen erforschtes Gebiet.
Heinz Stübig
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