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1998 wurde auf zahlreichen
Veranstaltungen und wissenschaftlichen Konferenzen auf dreißig Jahre
"Studentenbewegung", auf dreißig Jahre seit 1968 zurückgeschaut,
also auf das Jahr, in dem die studentischen Proteste ihrem Höhepunkt
zustrebten. Als das Marbacher Projekt "Protest. Literatur um 1968" den
Historischen Kommissionen des Börsenvereins des deutschen Buchhandels
und der ARD bekannt wurde, griffen diese die Thematik der Marbacher Jahresausstellung
auf. Sie vereinbarten, das in der Folge ihrer Tagungen über die Wechselbeziehungen
zwischen Buchhandel und Rundfunk seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs "anstehende"
Symposium über die sechziger Jahre auf die zweite Hälfte des
Jahrzehnts und die Folgen der Ereignisse um 1968 für beide Medien
zu konzentrieren. Dank der Gastfreundschaft des Marbacher Archivs gelang
es auch, diese Tagung in der ersten Novemberwoche 1998, also noch während
der Öffnung der Ausstellung, durchzuführen. Referenten und Besucher
nutzten die Gelegenheit zu einem Besuch dieser hochinteressanten Präsentation
aus den Marbacher Beständen, über die man sich mit dem hervorragenden
Katalog ein vollständiges Bild machen kann. In einzelnen Vorträgen
und den Diskussionen wurde auch immer wieder Bezug auf das dort Vorgestellte
genommen.
Gegenstand der Tagung war
- und dies legte ja auch die gemeinsame Betrachtung von Buchhandel und
Rundfunk nahe - nicht das aktuelle Geschehen und die Berichterstattung
über die spektakulären, öffentlich gewordenen Ereignisse
des Studentenprotests in der Tages- und Wochenpresse sowie den aktuellen
Sendungen von Hörfunk und Fernsehen. Vielmehr ging es einerseits um
die längerfristig wirkenden mentalen bzw. kulturellen Strömungen
in der Jahren vor "1968" und in erster Linie um die Folgen von "1968" für
den kulturellen bzw. medialen Diskurs, wie er sich in Literaturproduktion
und Buchveröffentlichungen, im Hörfunk und vor allem in dem in
dieser Zeit zum Leitmedium aufgestiegenen Fernsehen niederschlug und wie
er diese zwar nicht schlagartig, aber dennoch nachhaltig veränderte.
Es erwies sich erneut als
ein glücklicher Umstand, daß das Medium Buch und die elektronischen
Medien, konzentriert auf ihre nicht aktuellen Gattungen, gemeinsam behandelt
wurden, und dies nicht einmal unbedingt wegen der wie auch auf den ersten
Tagungen thematisierten Wechselbeziehungen. Diese liegen für diese
Jahre nicht von vornherein auf der Hand bzw. ist die vielfache mediale
Auswertung von Texten und Stoffen bereits eine Selbstverständlichkeit
geworden, die kaum noch der besonderen Erwähnung bedarf. Mindestens
ebenso bedeutsam war etwas anderes: Es gehörte zu den häufig
angesprochenen und kaum widersprochenen Feststellungen der Tagung, daß
der Mediengebrauch der studentischen Akteure des Protestes in der zweiten
Hälfte der sechziger Jahre noch vom Text und von der Lektüre
geprägt war; vielfach bezweifelt wurden dagegen, daß vor allem
die Aktivisten das aktuelle Fernsehen gezielt für ihre Zwecke instrumentalisierten.
Es spricht einiges dafür, daß theatralisch inszenierter Protest
- der entsprach dem Selbstverständnis eines Teils der Bewegung, die
Nähe zu Happenings und anderen Aktionen der "Bildenden Künstler"
ist unübersehbar - dem Bedarf nach spektakulären Bildern seitens
der beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehmonopolisten entgegenkam.
Auf einen selbstverständlichen Umgang mit dem Fernsehen, die intimere
Kenntnis seiner Herstellungsbedingungen und Wirkungsmechanismen kann die
relativ umfangreiche Berichterstattung nicht zurückgeführt werden.
Von einer Fernsehkindheit bzw. -jugend konnte bei der Mehrzahl der "1968"
tragenden Bürgersöhne und -töchter noch nicht die Rede sein.
Es war damals weder üblich, auf den Studentenbuden ein Gerät
zu haben, noch hatten die Aktivisten Zeit "für die Glotze". Interessanterweise
setzte die intensivere Auseinandersetzung vor allem mit den elektronischen
Medien und der von ihr verbreiteten "Massenkultur" erst Anfang der siebziger
Jahre ein: Hans Magnus Enzensbergers "Baukasten zu einer Theorie der Medien"
erschien 1970 und reflektiert bereits erste Erfahrungen mit den Öffentlichkeit
herstellenden Instanzen und eine, wie der Autor mehrfach betont, unzureichenden
Auseinandersetzung mit den Medien der öffentlichen Kommunikation.
In mehreren Vorträgen
wurde darauf hingewiesen, daß es innerhalb der Studentenbewegung
in guter alter Manier eine starke Orientierung am geschriebenen Wort gegeben
habe, die späten sechziger und frühen siebziger Jahre eine Hochphase
der Textproduktion bzw. -vervielfältigung und der Lektüre darstellten,
vom typographisch ungelenken Flugblatt über Wandzeitungen bis hin
zu den marxistischen Klassikern und einer in ihrer Folge erscheinenden
umfangreichen vor soziologischen, politökonomischen und psychologischen
bzw. psychoanalytischen Literatur in der Edition Suhrkamp, der Reihe Hanser
und dem Luchterhand-Verlag, über dessen über 1968 zurückreichendes
Engagement für Soziologica und marxistische Klassiker Gunther Nickel
vom Literaturarchiv Marbach berichtete. Von der umfänglichen Textproduktion
auch außerhalb des etablierten Verlagswesens, ermöglicht durch
eine sich zu diesem Zeitpunkt gerade enorm verbilligende Reproduktionstechnik,
d.h. über Raubdrucke und Klein- bzw. Alternativverlage berichtete
der Freiburger Spezialist Albrecht Götz von Olenhusen.
Die Tagung konnte trotz
mancher Neuerscheinung im Gedenkjahr zu "68" nur eine vorläufige Bestandsaufnahme,
für den Bereich Buch und Rundfunk eine erste Strukturierung der Themen
vornehmen und auf ihre gegenseitige Verschränkung eingehen. Zu den
wichtigen Aussagen gehört u.a., daß "1968 und die Folgen" sich
selbstverständlich nicht allein auf die Studentenrevolte reduzieren
lassen. Dieses eine Jahr und eine zentrale Trägergruppe von Opposition,
Protest und Widerstand stellt vielfach eine Chiffre und einen Kristallisationskern
dar für gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozesse seit Beginn
der sechziger Jahre, die sich bis weit in die siebziger hinzogen. In der
Zeit zwischen 1967 und 1969 / 70 überschnitten und überkreuzten
sich viele Entwicklungen. Sie brachten, wie der Hamburger Sozialhistoriker
Axel Schildt zusammenfassend formulierte, am Ende der Wiederaufbauphase
und der Stillung dringendster materieller Bedürfnisse neue Fragen
auf die Tagesordnung. Auch eine neue Generationen - z.B. unter den Hochschullehrem
- drängte in dieser Zeit in Führungspositionen, ebenfalls mit
anderen Vorstellungen als die Aufbaugeneration. Wohlstand, Forschrittsoptimismus,
erhöhte Mobilität (Motorisierung) eröffnete Freiräume
für erste Ansätze dessen, was später "Erlebnisgesellschaft"
genannt wurde. "Individualisierung" bedeutete Lösung von Zwängen,
eröffnete Fragen nach neuen Zusammenhängen, neuen Interpretationen,
die auch in den Theorieangeboten der neuen Linken gefunden wurden.
Was z.B. den Generationswechsel
angeht, so ging im Verlagswesen die Epoche der Verleger-"Patriarchen" zu
Ende: Nicht nur Verlagsmitarbeiter, sondern auch die Autoren fragten nach
ihrer Stellung in den nach einer ersten Konzentrationswelle vergrößerten
Unternehmen und griffen dabei z.T. auf radikale Konzepte der "kollektiven
Mitwirkung" zurück. Gleichzeitig sahen sich Redakteure in den öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten veranlaßt, über ihre Rechte gegenüber
den nach Parteienproporz besetzten Gremien und dem von diesen einerseits
abhängigen, andererseits als allmächtig erscheinenden Intendanten
nachzudenken. Dietrich Schwarzkopf analysierte die Folgerungen, die aus
der Frage danach gezogen wurden, ob in welchem Verhältnis eine "äußere"
zur sogenannten "inneren" Rundfunkfreiheit stehe, die auch Tabuisiertes,
dem "mainstream" nicht Entsprechendes in den Sendungen zuließe. Über
Details dieser Prozesse berichteten Gerhard Lampe (über "Panorama")
und Jürgen Kritz (über das 1968 beginnende Kulturmagazin: "Titel
- Thesen - Temperamente"). Den rasanten Wandel der (straf- bzw. jugendschutzrechtlichen)
Bewertung sexueller Tabus stellte Achim Barsch anhand zweier exemplarischer
Beispiele vor. Welche Unterschiede zwischen den Rundfunkanstalten in Sachen
Toleranz damals bestanden, darüber gab auch das Zeitzeugengespräch
am Abend des ersten Tages, an dem Peter Merseburger (damals bei "Panorama"),
Hannes Schwenger, Otto Wilfert (damals beim ZDF) und K. D. Wolff teilnahmen
Auskunft.
Karl Prümm vor allem
und auch Peter Zimmermann machten in ihren Vorträgen über neue
literarische Formen bzw. den Dokumentarfilm deutlich, daß eine prinzipiell
durchaus offene Situation nach dem Ende der "Gruppe 47" bei der Suche nach
neuen Antworten für den Zusammenhang von Text bzw. Abbild und Wirklichkeit
einerseits noch einmal zur Selbstthematisierung der ästhetischen Verfahren
führte (das lag auch in der surrealistischen Komponente der "Revolte"),
andererseits habe sich teilweise das Spektrum rasch verengt und dogmatisiert,
haben sich ästhetische Konzepte nicht zuletzt in der Wiederanknüpfung
an die linksintellektuelle Kultur der Weimarer Republik den "Verismus"
der Weimarer Republik, als neuer "Dokumentarismus" etabliert, dessen Krise
in den siebziger Jahren rasch zutage getreten sei. Dies führte im
Fernsehspiel nach dem Ausklingen einer ersten Phase der Literaturadaption
und einem kurzen Zwischenspiel sozialkritischer Fernsehspiele zu einem
neuen Höhepunkt von Literaturvermittlung durch das Fernsehen, jetzt
aber filmischen Charakters: dies war ein überraschender, gleichwohl
interessanter von Knut Hickthier vorgetragener Beleg für den transitorischen
Charakter von "1968". Überraschenderweise erhielt jedoch - wie Stefan
Bodo Würffel berichtete - das schon vor 1968 ‚erfundene` "Neue Hörspiel"
einen starken Auftrieb durch die Aufbruch- und Umbruchstimmung am Ende
des Jahrzehnts und erfuhr als avantgardistische Kunstform (mit Collage
aus O-Ton-Material und Montagetechniken) erst jetzt seinen Durchbruch.
Daß die materiellen
Bedingungen der sechziger Jahre Basis für eine eigene Jugendkultur
legten, skizzierte Detlef Siegfried: Im Spannungsverhältnis zum Beitrag
von Reinhold Viehoff und Kathrin Fahlenbrach über den "Beat-Club"
wurde deutlich, daß eine schlichte Gleichsetzung von innovativer
Fernsehästhetik im Bereich der Musiksendungen, von (amerikanisierter
und als kommerzialisiert denunzierter) Popmusik und (Studenten-) Protest
keineswegs vollständig aufgeht. Die Große Masse der Jugendlichen
politisierte sich - wenn überhaupt - erst allmählich. Auch hier
wurde deutlich, daß bei dem Sichüberkreuzen verschiedener Entwick-lungstendenzen
vorschnelle Gleichsetzungen nicht angebracht sind.
Vergleichbares kann auf
einem ganz anderen Sektor beobachtet werden: Hans Altenhein, damals beim
S. Fischer Verlag beschäftigt, berichtete über den Beginn des
Funkkollegs als Ausfluß der Krise des Hochschulunterrichts und der
Überfüllung der Universitäten (als mögliche Antworten
galten Fernstudium und der Einsatz der Medien) und der Krise des klassischen
Bildungsfunks: profitiert habe jedoch von der Neuentwicklung in erster
Linie das "alte" Medium Buch: die Textabdrucke der ersten Funkkollegs wurden
zu Bestsellern.
Die Vorträge des Symposiums
werden als Band 3 der "Mediengeschichtlichen Veröffentlichungen" voraussichtlich
Ende 1999 publiziert werden.
Edgar Lersch
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