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Im Franz-Hitze-Haus in Münster
fand vom 10. bis 12. Dezember 1998 eine Fortbildungsveranstaltung für
Archivare und Archivarinnen sowie für andere historisch Interessierte
zu dem derzeit aktuellen Thema "Archive und historische Ausstellungen"
statt.
Nach der Begrüßung
der Teilnehmer und Teilnehmerinnen durch den Vorsitzenden des Vereins deutscher
Archivare, Dr. Norbert Reimann, die Kulturdezernentin der Stadt Münster,
Helga Boldt, und den Leiter des Franz-Hitze-Hauses, Dr. Thomas Sternberg,
führte der Leiter des Stadtarchivs Münster, Prof. Dr. Franz-Josef
Jakobi, mit seinem Vortrag "Archive und historische Ausstellungen - von
der Notwendigkeit einer Funktionsbestimmung" in die Tagungsthematik ein.
Jakobi forderte in seinen Ausführungen vor allem, daß sich Archivare
und Archivarinnen in Zukunft aktiv in die interdisziplinäre Diskussion
über Geschichtskultur und über die "lieux de mémoire"
einbringen bzw. diese überhaupt erst einmal zur Kenntnis nehmen. Er
verwies zum einen auf die theoretische Auseinandersetzung um die Funktion
und Bedeutung von Geschichte, um Geschichtsbewußtsein und historisches
Selbstverständnis, und zum anderen auf die Desiderata in der praktischen
Umsetzung historischer Ausstellungen, die an erster Stelle im Archivbereich
zu verzeichnen seien, der sich als Fachdisziplin an der Diskussion um Geschichtskultur
kaum beteilige.
Jakobi formulierte sechs
Leitfragen, die als Grundlage für die Tagungsdiskussion und für
den am Nachmittag vorgesehenen Besuch der 26. Europaratsausstellung "Krieg
und Frieden in Europa" dienen sollten: 1. Läßt bzw. wie läßt
sich Textüberlieferung ausstellen? 2. Gibt es den spezifischen Typus
"Archiv- oder Archivalienausstellung" und wodurch wäre er gegebenenfalls
charakterisierbar? 3. Sollten Archive bei eigenen Ausstellungen mit anderen
Institutionen kooperieren, wenn ja, mit welchen und unter welchen Rahmenbedingungen?
4. Wie ist aus archivarischer Sicht das Problem "Objektpurismus - begehbares
Lehrbuch" zu beurteilen und gegebenenfalls zu lösen? 5. Wie ist das
Verhältnis "Ausstellung - Dokumentation - Präsentation im virtuellen
Raum" aus archivarischer Sicht zu beurteilen? 6. Gibt es einen spezifischen
Beitrag der Archive zum historischen Ausstellungswesen insgesamt und worin
könnte er bestehen?
Zu Beginn der ersten Tagungssektion,
unter der Leitung von Dr. Norbert Reimann, gab der geschäftsführende
Direktor des Instituts für Didaktik der Geschichte der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster, Prof. Dr. Wolfgang Jacobmeyer,
einen Überblick über die konstitutiven Elemente der neuen Wissenschaftsdisziplin
"Geschichtsdidaktik", wie sie sich seit den 1970er Jahren herausgebildet
hat. In seinem Referat mit dem Thema "Geschichtsdidaktik als Reflexionsinstanz,
Forschungsdisziplin und Handlungswissenschaft" machte er zunächst
deutlich, daß die Geschichtsdidaktik nichts esoterisch Akademisches
sei, sondern überhaupt erst Anhalt zu reflektierenden Deutungen in
der Gesellschaft zu Geschichtsbewußtsein überhaupt gebe. Jacobmeyer
betonte in diesem Zusammenhang vor allem den historischen Wert von Schülerarbeiten
im Rahmen des nach fachdidaktischen Prämissen konstruierten Schülerwettbewerbs
"Deutsche Geschichte" um den Preis des Bundespräsidenten, in denen
schon Mitte der achtziger Jahre Oral History zu finden war und die somit
entgegen den Erwartungen der Fachwissenschaft wichtige historische Erkenntnisse
gewonnen hätten. Die geschichtsdidaktische Beschränkung auf die
Schule allein jedoch sei zu bieder und träfe den Memorialbedarf unserer
Gesellschaft nicht länger. Im Gegenteil: Museen, Gedenkstätten,
Archive stünden unter neuen Anforderungen geschichtsdidaktischer Natur
und müßten sich deshalb auch mit geschichtsdidaktischen Fragen
bei der Konzeption historischer Ausstellungen auseinandersetzen.
Im zweiten Teil dieser Sektion
präsentierte Dr. Manfred Treml vom Haus der Bayerischen Geschichte
in Augsburg eine praxisbezogene Betrachtung "historischer Ausstellungen
als ein komplexes Produkt aus Wissenschaft, Didaktik, Ästhetik und
Marketing". Treml ging in seinem Vortrag speziell auf die einzelnen Besuchergruppen
historischer Ausstellungen ein: das Stammpublikum, das themenspezifisch
interessierte Publikum und das sogenannte touristische Segment. Denn in
seinem Bemühen um eine zielgruppenorientierte Vermittlung historischer
Zusammenhänge befinde sich das Ausstellungswesen an der Schnittstelle
zwischen Wissenschaft und Publikum und versuche so eine Verbindung von
Lernen und Unterhaltung, Wissen und Erleben herzustellen. Historische Ausstellungen
bildeten damit sogleich eine Brücke zwischen Universitäten, Museen,
Archiven, Bibliotheken etc. und der breiten Bevölkerung, ohne die
deren Forschungsergebnisse und Bestände zum reinen Selbstzweck würden.
In seinen Ausführungen zu den verschiedenen Elementen der Ausstellungsarbeit
hob Treml insbesondere visuelle Lernangebote mittels der neuen Medien wie
zum Beispiel Internet und CD-ROM hervor und verwies damit bereits auf die
Einbeziehung neuer Präsentationsformen historischer Dokumente in Archiven
und Museen, die am zweiten Tagungstag noch ausführlicher diskutiert
werden sollten. [...]
Am Vormittag des folgenden
Tages moderierte Roswitha Link (Stadtarchiv Münster) die folgenden
Beiträge. Zunächst stellte Prof. Dr Klaus Backhaus, Direktor
des Instituts für Anlagen- und Systemtechnologien der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster, die Ergebnisse einer in Zusammenarbeit
mit dem Stadtarchiv Münster im vergangenen Jahr durchgeführten
zweiphasigen Bürgerbefragung zum Jubiläum "350 Jahre Westfälischer
Friede" vor, die auf anschauliche Weise das unterschiedliche Interesse
an Geschichte allgemein sowie den erheblich variierenden Kenntnisstand
einzelner Bevölkerungsgruppen in Münster zu Beginn und während
des Jubiläumsjahres über die historischen Ereignisse Dreißigjähriger
Krieg und Westfälischer Friedensschluß 1648 demonstrierten.
Dieser ausführlichen
Darstellung empirischer Daten, der sich eine rege Diskussion über
die Evaluationsmöglichkeiten von Geschichte, insbesondere über
die Frage, ob der immense Aufwand für das gesamte Jubiläumsprogramm
mit entsprechender Resonanz von der Bevölkerung honoriert wurde, anschloß,
folgten zwei Tagungsbeiträge zur praktischen Umsetzung und Gestaltung
historischer Ausstellungen.
Rainer Weichelt, Leiter
des Stadtarchivs Gladbeck, berichtete über eine im Jahre 1997 vom
Stadtarchiv und Stadtmuseum Gladbeck veranstaltete Fotoausstellung mit
dem Thema "Rätselhaftes Gladbeck. Die etwas andere Stadtgeschichtsausstellung".
Weichelt stellte vor allem heraus, daß die Besucher und Besucherinnen
unmittelbar in die Ausstellung miteinbezogen wurden, indem sie aufgefordert
waren, bei der Kommentierung, teilweise auch bei der Identifizierung großformatiger
unbeschrifteter Fotos aktiv mitzuwirken. Diese mit relativ geringem Kostenaufwand
organisierte Präsentation historischer Dokumente erreichte Weichelt
zufolge auch Bevölkerungsgruppen, die in der Regel als weniger geschichtsinteressiert
gelten. Er belegte anhand dieses Beispiels, daß durchaus mit den
knapp bemessenen Finanzbudgets kleinerer Kommunalarchive öffentlichkeitswirksame
Ausstellungen möglich sind, die u.a. mit dazu beitragen, die Transparenz
archivarischer Aufgabenbereiche zu erhöhen.
Auf welche Weise das Bewußtsein
für historische Zusammenhänge auch bei Kindern und Jugendlichen
sensibilisiert werden kann, führte im Anschluß daran die Leiterin
des Jugendmuseums Schöneberg (Berlin), Petra Zwaka, in ihrem Vortrag
"Experimentelle Formen der Geschichtsvermittlung oder: Muss Geschichte
langweilig sein? Ein Erfahrungsbericht des Jugendmuseums Schöneberg
(Berlin)" aus. Das 1995 gegründete Museum lädt junge Menschen
im Alter von 8 bis 14 Jahren zum Experimentieren ein, um sich der Geschichte
ihrer Stadt zu nähern und die eigene Umgebung aus historischer Perspektive
anders wahrzunehmen. Denn eines der zentralen Anliegen des Jugendmuseums
ist es, Geschichte nicht nur auszustellen, sondern den Prozeß der
Geschichtsproduktion, durch eigene aktive Teilnahme transparent werden
zu lassen. Zwaka dokumentierte anhand ausgewählter Dias die von Museums-
und Theaterpädagogen konzipierten Stationen der sogenannten Wunderkammern-Wunderkisten,
die die Phantasie und den Forschergeist der Kinder bei der historischen
Spurensuche herausfordern, den aktiven Lernprozeß und die unmittelbare
Auseinandersetzung mit Geschichte forcieren, aber auch unter sozialpädagogischen
Aspekten Kontakte unterschiedlicher Kulturen und ihrer Geschichte durch
den Austausch der Kinder und Jugendlichen beim gemeinsamen Entdecken und
Forschen fördern sollen.
Die letzte Tagungssektion
am Nachmittag wurde von Dr. Susanne Freund (Stadtarchiv Münster) moderiert.
Diese Sektion war dem Thema gewidmet, wie das Verhältnis von "Ausstellung
- Dokumentation - Präsentation im virtuellen Raum" aus archivarischer
Sicht zu beurteilen ist. Der Leiter des Stadtarchivs Karlsruhe, Dr. Ernst
Otto Bräunche, ging anhand der vom Stadtarchiv Karlsruhe produzierten
CD-ROM "Für Freiheit und Demokratie. Badische Parlamentsgeschichte
1818-1933 - zur demokratischen Bewegung seit 1818" der Frage nach, wie
Historiker und Historikerinnen mit CD-ROMs umgehen können bzw. was
dieses Medium grundsätzlich für Chancen bietet. Bräunche
erläuterte in seinem Vortrag zunächst die Vorgeschichte, Rahmenbedingungen
und Produktion des Informationssystems der Erinnerungsstätte Ständehaus
Karlsruhe und führte schließlich die verschiedenen Ebenen vor,
die ein historischer Rundgang im virtuellen Raum ermöglicht. Von dem
Abruf einzelner Biographien historischer Personen über Filmsequenzen,
Toneinspielungen bis hin zur Darstellung von Pressetexten oder Kartenmaterial
sollen die Besucher und Besucherinnen über sogenannte Links aufgefordert
werden, sich auf die Angebote historischer Informationen einzulassen, mitzuwirken,
auszuwählen, über Art und Umfang der Zusatzinformationen zu entscheiden
und sich so selbständig Wissen über historische Themen anzueignen.
Prof. Dr. Volker Schockenhoff,
derzeit Dekan des Fachbereichs "Archiv, Bibliothek, Dokumentation" der
Fachhochschule Potsdam, stellte zum Abschluß die Verbindung der Bereiche
Archiv, Dokumentation, Bibliothek und Museum her, die vor allem hinsichtlich
der in vielen Archiven momentan neu entstehenden Arbeitsfelder "Stadtgeschichtliche
Dokumentation" relevant ist. Es ging Schockenhoff darum darzustellen, wie
angesichts der stetig anwachsenden Informationsflut, die auf die Archive
einströmt, unter Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnologien
neue bürgerorientierte Dokumentationssysteme in und durch Archive
aufgebaut werden können. Schockenhoff machte noch einmal die unterschiedlichen
Positionen zu dieser Problematik deutlich und lieferte einen umfassenden
Überblick des aktuellen Diskussionsstandes. [...]
Allgemeiner Konsens war
die aktuelle Einbeziehung der neuen Medien, die zwar keinen Ausstellungsbesuch
ersetzen, aber die intensive Auseinandersetzung mit historischen Themen
auch bei denjenigen forcieren, die nicht zu den üblichen Ausstellungsbesuchern
und -besucherinnen zählen. Denn historische Ausstellungen sollten
Fragen aller gesellschaftlichen Gruppen an die Geschichte bedienen - Fachwissenschaftler,
allgemein historisch Interessierte oder auch Kinder und Jugendliche. Diese
unterschiedlichen Ebenen erforderten dringend die systematische und wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex sowie die Entwicklung neuer
Ideen für innovative Konzeptionen und Umsetzungsmöglichkeiten
der methodischen und didaktischen Gestaltung historischer Ausstellungen.
Dieser Weg setze an erster Stelle den Zusammenschluß in interdisziplinären
Arbeitskreisen voraus - wie sie inzwischen im Bereich der Historischen
Bildungsarbeit anzutreffen seien -, um sich auszutauschen, miteinander
ins Gespräch zu kommen und neue Konzepte zu entwerfen.
Die Tagungsbeiträge
werden in Kürze gemeinsam mit den auf dem Deutschen Archivtag vom
29. September bis 2. Oktober in Münster gehaltenen Referaten in einem
Tagungsband veröffentlicht.
Susanne Freund
Kontaktadressen:
Verein deutscher Archivare,
c/o Westfälisches Archivamt Münster, Jahnstraße 26, 48147
Münster, Tel.: (0251) 591 3886, Fax: (0251) 591 269; Stadtarchiv Münster,
Hörsterstraße 28, 48143 Münster, Tel.: (0251) 492 4701
oder 2 23 78, Fax: Telefax: (0251) 492 7727 oder 2 23 78; E-mail: archiv@stadt-muenster.de
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