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grün und orangener Balken 1   grün und orangener Balken 3

HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Miller-Kipp, Gisela
Rezensiertes Werk: Sammelrezension : 1. Pimpfe, Mädels & andere Kinder; 2. Brockhaus, Gudrun: Schauer und Idylle; 3. Das Dritte Reich im Fest; 4. Hauke, Reinhard: Das Landjahr
Erscheinungsjahr: 1999
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Prof. Dr. Gisela Miller-Kipp
Heinrich-Heine-Universitaet Duesseldorf, Lehrstuhl Allgemeine Paedagogik
e-mail: miller@phil-fak.uni-duesseldorf.de

Text der Rezension:

 
Die angezeigten Schriften sind etwas `versteckt`, da in kleineren, nicht unbedingt allerorts bekannten Verlagen
ediert. Auf sie ist aufmerksam zu machen für den Bereich historischer Sozialisations- und Wirkungsforschung
des Dritten Reiches. In diesem Bereich streuen Studien der Gattung und dem Gegenstande nach stark; sie
sind aus subjektiven und regionalen Interessen generiert. Auf solches Schrifttum angewiesen sind der
alltagsgeschichtliche und der mentalitätsgeschichtliche Ansatz, sofern sie sich den Prozessen der
Vergesellschaftung und der Mentalitätsprägung eben im Nationaloszialismus zuwenden.



Ad 1: Der Band enthält "55 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen" (Untertitel, Innenblatt), genauer: 55
autobiographische, mit privatem oder öffentlichem Fotomaterial illustrierte Erinnerungsstücke von Autoren der
Geburtsjahrgänge 1919-1933 (Schwerpunkt 1925-1930). Er verfügt über ein Ortsregister und rudimentären
Angaben zu den "Verfassern", sonst aber über keinerlei historisch-kritische Erschließung; er hält erinnerte
Geschichte auf der Ebene persönlicher Erzählung vor. "Kindheit in Deutschland 1933-1939", so der Untertitel
im Innenblatt, wird natürlich nicht dargestellt. Das ist auch gar nicht das Interesse des Herausgebers (und
Verlagsbesitzers JÜRGEN KLEINDIENST), der die ihm zugekommenen Texte als Reihe "Zeitgut" unter
griffigen Rubriken vermarktet. Dazu läßt er sich deren "sensible" Überarbeitung und deren Auswahl nach
"Atmosphäre" und "Zeitgeist" (Klappentext) angelegen sein. Die Texte sind also manipuliert; nicht
auszuschließen ist, daß sie ihrerseits den Herausgeber manipulieren. Zumindest ist nicht ersichtlich, wie er, im
Besitz des "Zeitgeistes", autobiographische Fiktionen aus dem Geist der Zeit erkennen können will. - Enthält
der Band mithin für den Historiker höchst verdächtiges Material, so läßt sich dennoch mit ihm arbeiten. Durch
jede Fiktion hindurch gibt er bekannt, welche Erlebnisse, Milieus und Befindlichkeiten, welche personalen
Situationen und Konstellationen d e n A u t o r e n wichtig sind. Von hier kann autobiographische Forschung
ausgehen.



Ad 2. Dies ist eine sozialpsychologisch interessierte Studie zum "emotionalen Angebot des NS-Faschismus".
Sie will "die fortwirkende Anziehungskraft" dieses "Erlebnisangebotes" (S. 11) erkunden - das Fortwirken wird
aus Selbstbeobachtung angenommen - und unterstellt dazu ein "universelles Bedürfnis", nämlich eine "Lust, in
grandiosen Gefühlen zu versinken" (S. 17), in "Schauder" eben und "Idylle". - Mit dieser anthropologische
Grundannahme lassen sich die emotionale Vereinnahmung der Deutschen durch den Nationalsozialismus und
damit Teile seines Herrschaftserfolges erklären. Und die so basierte Studie von BROCKHAUS ist in die vielen
Erforschungen und Ausleuchtungen des Nationalsozialismus als "Faszinosum" vornehmlich psycho-historischer
und mentalitätsgeschichtlicher Provenienz einzureihen . Mit ihnen setzt sich die Autorin auch partiell
auseinander.

Ihre Rekonstruktion nationalsozialistischer Erlebniswelt rekurriert auf kultur-historische Quellen, überwiegend
Texte: auf Lieder, Gedichte, Reden, Romane, Briefe, Drehbücher, Fotos, beschriebene Bilder oder
Bildsequenzen. Sie gehören zu sehr unterschiedlichen, von der Autorin freilich nicht unterschiedenen
gesellschaftlichen Diskursen: zur (Frage der) "Mobilisierung durch Weltanschauung"; zum Phänomen
"Reichsautobahn"; zum - psychischen - Problem von `Verstehen und Verzeihen`; zur autobiographischen
"Verstrickung"; zum Geschlechterdiskurs und zur weiblichen Wahrnehmung" ("weibliche Größenphantasien");
zur `Glaubensfrage`; zur Pychologisierung der Politik (Nationalsozialismus als Identitäts-Angebot); zur
Ästhetisierung der Wirklichkeit (Beispiel "Fackelzüge"); zur Opferrhetorik und Todes(sehn)sucht; zur "Lust an
Gewalt" qua Sicherheits- und Harmoniebedürfnis (vgl. S. 5 ff.).

Zu und in all diesen Abschnitten wird einschlägige Forschungsliteratur als Sekundärquelle zitiert. Die
Gedankenfolge der Autorin ist dabei gelegentlich sprunghaft, die Erkenntnislage wird gelegentlich
unübersichtlich. Im Ergebnis beleuchtet BROCKHAUS` Interpretation die Innenwelt des Nationalsozialismus in
vielen seelischen Facetten und subjektiven Bruchstücken. Das psychologische Fazit: "Die ungeplante
Dominanz des Destruktiven bestimmt die Dynamik wie die Faszination des faschistischen Erlebnisangebotes"
(S. 314). Dies bestätigt und ergänzt die gründliche Studie von PETER REICHELT (1991) über "Faszination
und Gewalt des Faschismus" (Der schöne Schein des Dritten Reiches. München).



Ad 3. Handfestes zu diesem "schönen Schein", zu Ritualen und Ritualisierung, Mythos und Mythisierung,
Ästhetik und ästhetischen Inszenierung der NS-Herrschaft präsentiert dieser Aussstellungskatalog. Er ist das
Ergebnis eines Projektseminars, das im Rahmen der ministeriell geförderten "Berufswerkstatt Geschichte" in
der Universität Bielefeld über mehrere Semester lief. Die Seminarteilnehmer trugen aus Archiven und Museen
Westfalens und aus privatem Besitz Exponate zur "nationalsozialistischen Festkultur" zusammen: Fotos,
Zeitungsartikel, Postkarten, Plakate, Flugblätter, Festschriften, Wimpel, Sticker - sie sind im Band
wiedergegeben, wobei Fotos aus Privatbesitz überwiegen. Diese Dokumente sowie die historisch-kritische
Beschreibung des regionalen Milieus sind die Stärken der vorgelegten Publikation. Sie bildet den `hohen`
NS-Herrschaftsmythos auf der Ebene des gelebten Lebens ab. Im Forschungsdiskurs zur
NS-Herrschaftsinszenierung stellt sie eine respektable regionalgeschichtliche Bereicherung dar, ist jeodoch
kein Novum. Wer 1997 noch behauptet, "das Leben im Alltag [stand] bisher nicht im Mittelpunkt des
wissenschaftlichen Interesses" (S. 9), hat etwas verschlafen.

Die Beiträge im einzelnen: Führermythos im Fest; Festfeuerwerk, NS-Liturgie, Dissens und
"100%KdF-Stimmung". "Bielefelds bester Sohn"; Die Einweihung des Horst-Wessel-Steins 1933. Zustimmung
zur "christlichen Volksgemeinschaft"; Erntedankfeste im Kreis Warendorf 1933. Das Festjahr 1933 in Minden.
"Schützen im neuen Staat"; Die Schützenfeste in Blomberg, Lemgo und Bielefeld 1933. Der 1. Mai in einer
gemischtkonfessionellen Stadt; Höxter 1933 und 1934. Gewalt im Fest; Die Maifeiern in Hagen und
Hohenlimburg 1933-1937. "Wenn wieder ein Fest steigen würde wie im ersten Jahre des Dritten Reiches";
Das Münsterland zwischen Distanz und Begeisterung 1933-1938. Erst "begeistertes Bekenntnis zum Führer",
dann "Erstarrung in würdiger Form"; Die Erntedankfeste in Hagen 1933-1935. Kriegervereine zwischen
Euphorie und Selbstgleichschaltung; Ostwestfalen und Lippe 1933-1937. "Freut Euch des Lebens"; Festkultur
in Blomberg in der Mitte der 30er Jahre. Das "Fest des deutschen Weines" in Lippe 1935 und 1936; Ein
unpolitisches Konsumvergnügen? Vereinheitlichter und fröhlicher Mummenschanz; Karneval in Stadtlohn
1934-1939. "Im Strudel goldigster Festesstimmung"; Die Ortsjubiläen von Iserlohn 1937, Schöppingen 1938
und Schildesche 1939. Die Westfalenfahrt der "Alten Garde" 1939; Führermythos, Heimat und Wirtschaft.
"Reichsregierung verordnet Kirchengebäude nur Hakenkreuzflagge"; Die Bistümer Münster und Paderborn
zwischen Anpassung und Zwang 1933-1939. Die große Prozession in Münster; Das Verhältnis von
Katholizismus und Nationalsozialismus 1933-1936. Libori 1936; Glaubensdemonstration der Erzdiözese
Paderborn in "entchristlichter" Umgebung. Der Fall Hossius (Lippe 1933); Ein evangelischer Pfarrvikar predigt
gegen die "Zeitenwende". "Man durfte nicht dabeisein"; Die Ausgrenzung der Juden in Lemgo 1933-1938. Von
der Wallfahrt nach Nürnberg zum lokalen Reliquienkult; Die Rückkehr der Hagener SA vom Reichsparteitag
1933. "Tag der inneren Ausrichtung auf die Zielsetzung der Bewegung"; Die Kreisparteitage im Kreis Olpe
1934-1939. Die Feiern zum 9.November in den Ortsgruppen der NSDAP in Ostwestfalen 1933-1943. Die
Partei im Krieg; Erntedankfeste in Soest 1942-1944. "Der Wille der Toten ist, daß Deutschland lebe";
"Heldengedenktage", NSDAP und Militär in Detmold 1933-1945.



Ad 4. Diese Publikation ist ein `starkes` "Stück Erziehungsgeschichte", wenn man ihren Untertitel so
paraphrasieren darf. Sie ist eine umfassende Beschreibung und Bestandsaufnahme des Landjahres in
Institution und Praxis; und sie zählt 532 Seiten, davon rund 200 Seiten Anhang. Dieser Anhang enthält u.a.
einen 70seitigen Anmerkungsapparat, ferner Dokumente und Schaubilder, darunter das Verzeichnis der
Landjahrlager von 1934-1945 sowie Karten ihrer regionalen Verteilung. Der Hauptteil seinerseits enthält an
Materialien u.a. noch 151 kleinformatige Fotos, 21 biographische Dokumente von Zeitzeugen und 16
zeitgenössische Zeitungsausschnitte. Es ist ausgesprochen bedauerlich, daß die Wiedergabequalität hier und
da schlecht und die Drucktype bis zur Unlesbarkeit klein ist - der Band ist in seinem Materialreichtum eine
historische Fundgrube. Ihm wäre eine gekürzte und drucktechnisch aufbereitete Veröffentlichung zu wünschen.
Bei der jetzigen Fassung handelt es sich um einen Dissertationsdruck mit den gattungstypischen formalen
Unzulänglichkeiten (z.B. auch unvollständige Paginierung).

HAUKE leitet sein Werk mit einer ausführlichen und sorgfältigen methodologischen Darstellung ein - auch dies
erkennbar das Kapitel einer Dissertation. Die Darstellung zur Sache geht über folgende sechs Kapitel: die
Grundlagen der Landjahrerziehung; die Erziehung zur Gemeinschaft im Landjahr; das Landjahr im
Jahresverlauf des Dorflebens - die didaktische Gliederung der Landjahrerziehung; Sonderaufgaben des
Landjahres; Landjahr, Elitebewußtsein und gesellschaftliche Integration (vgl. Inhaltsverzeichnis). HAUKE
beendet sein Werk mit resümierenden Überlegungen dazu, ob es wieder ein Landjahr geben solle (S. 355 ff.),
sowie mit einer konventionellen Forderung nach "kritisch-rationale(r) Auseinandersetzung mit Geschichte" (S.
357 f.). Diese Forderung richtet er insbesondere an die "Schulpädagogik" (S. 358), was die Erkenntnishinsicht
des Verfassers kennzeichnet: Er pflegt den `pädagogischen` Blick auf seinen Gegenstand, das Landjahr ist ihm
"Erziehungsinstitution". Damit läßt er sich von vornherein deskriptiv auf die offizielle Rhetorik der
Nationalsozialisten für diese ihre Institution ein. Freilich tut HAUKE das keineswegs unkritisch - er verfolgt die
Legitimationsrhetorik zum Landjahr in ihrem geschichtlichen Wandel genau (S. 321 ff.), und er spricht den
politischen Horizont an, wo er die gesellschaftlichen "Sonderaufgaben des Landjahres" vornehmlich im Bereich
Berufslenkung, Arbeitseinsatz und Volkstumspolitik darstellt. Für eine Funktionsbestimmung des Landjahres im
Herrschaftssystem des Nationalsozialismus aber hält er die Perspektive "erzieherische Arbeit" ein. Seiner
Einschätzung nach war das Landjahr in dieser Bestimmung systemfunktional resp. hat im intendierten Sinne auf
die Subjekte, die Landjahrangehörigen, gewirkt. Ob dies uneingeschränkt gesagt werden kann, darf man
allerdings in Frage ziehen - HAUKE selbst liefert Dokumente `unpassender`, im Herrschaftsinteresse
dysfunktionaler, Sozialisationswirkungen. Hier wäre eine differenzierte Wirkungsanalyse anzusetzen. Der Band
ist dafür eine ausgezeichnete Vorlage.



Derzeit sind es die ungekärten Folgen der NS-Sozialisation, die die erziehungs- und sozialhistorische
Forschung zum Nationalsozialismus anregen. Dies gilt inzwischen - meinem Überblick nach - auch
international. Ein Zeichen dafür ist die Übersetzung eines der ersten Bände hierzu einschlägiger Studien:
HANS-UWE OTTO/HEINZ SÜNKER (Hrsg. 1991): Politische Formierung und soziale Erziehung im
Nationalsozialismus (Frankfurt am Main) ist inzwischen ja als "Education and Fascism. Political Identity and
Social Education in Nazi Germany" (London/Washington 1997) zu haben; in der englischsprachigen Version
wird es vielerorts auch hierzulande bestellt.

Erfassungsdatum: 16. 09. 1999
Korrekturdatum: 02. 04. 2004