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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Rogler, Rudolf
Rezensiertes Werk: Hansen-Schaberg, Inge: Koedukation und Reformpädagogik : Untersuchung zur Unterrichts- und Erziehungsrealität in Berliner Versuchsschulen der Weimarer Republik. - Berlin: Weidler, 1999. - 274 S.: Ill. - (Bildungs- und kulturgeschichtliche Beiträge für Berlin und Brandenburg; 2). ISBN 3-89693-136-9
Erscheinungsjahr: 1999
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Rogler, Rudolf

Text der Rezension:

 
Koedukation und Reformpädagogik - Inge Hansen-Schaberg gibt Anlass zur Auseinandersetzung

Einem heutigen Hauptschullehrer wird richtig warm ums Herz -wie man so sagt- liest man die Erörterung zur gemeinsamen Erziehung von Mädchen und Jungen in den Jahren vor 1933. Damals galt es Mädchen zu schützen. In mehreren meiner Klassen machen heute Mädchen Jungen zu Spielzeugen ihrer Selbstverwirklichung, so wie es in meiner Beobachtung zuletzt auffallend oft türkische und arabische Jungen mit vielen Mädchen gemacht haben. Einige Jungen sind überfordert und haben angesichts des Gruppendrucks nicht den Mut nein zu sagen. Sind das die Folgen der Koedukation?

Dass das Thema auch als kopfgesteuerte Abwägung des Für und Wider der gemeinsamen Erziehung interessant sein kann, beweist Inge Hansen-Schaberg, die sich nicht auf die Konfliktfelder zwischen den Geschlechtern in der Schule einlässt. Bei ihr geht es um Hierarchie oder Symmetrie der Geschlechter, um Entfaltung oder Stimulierung der jeweils anderen persönlichen und geschlechtlichen Entwicklung. Es geht um Argumente für die -oft auch nur teilweise - Aufhebung der als unnatürlich empfundenen Trennung der Kinder und Heranwachsenden in den öffentlichen Schulen. Am Beispiel der Berliner Versuchsschulen werden die Argumente der schreibenden Kolleginnen und Kollegen dargestellt: Wird dem Mädchen durch die Jungen in der Klasse geholfen, ihre weibliche Eigenart herauszubilden (S.48 Fn 53), wird es in seiner albern sentimentalen Haltung einer reinen Mädchengesellschaft gemildert? (S.180) Wird der Junge durch den Eintritt von Mädchen in die Klasse aus den Lebensformen der studentischen Korporation oder des Offizierskorps herausgeholt (S.53) oder in seiner Rauheit durch die Gesittung der Mädchen gebändigt und zur Hilfsbereitschaft erzogen? (S. 181)
Die Autorin muss sich ja nicht entschieden. Sie referiert zuverlässig das Material, das die Archive und Zeitzeugen ihr boten. (Meine Empfehlung: Käthe Feuerstack und Susanne Engelmann, S.182 ff.) Es ist vor allem Material von schreibenden Kolleginnen und Hansen-Schaberg kennt die dadurch entstehende und kaum zu umgehende intellektuelle Vorherrschaft ihrer Zitate und Belege. Und doch meine ich, dass ihre Darstellung Ambivalenzen hätte deutlicher machen können. Die damaligen Schülerinnen Ilse und Käthe sind die glaubhaftesten und wichtigsten Zeuginnen, die ich kenne (S.166 ff) - doch sie schwärmten beide für ihren Lehrer. Und der hatte ein Lieblingslied, mit dem er seine Schwäche für blonde Mädchen zu erkennen gab. Für die Oberschülerin Nadja war die Schule zur zweiten Familie geworden und zur wichtigsten Gemeinschaft und geistigen Quelle. Für Inge Hansen-Schaberg ist dies ein Beispiel für die gelungene Identifikation einer Schülerin mit dem Gesamtprojekt (S.174) Weiß die Autorin nicht, dass es noch mehr war, dass sie einen ihrer Lehrer heiratete? Fast überall blickt es hervor das Gefühlsgebräue zwischen den Geschlechtern, das die Autorin beiseite lässt, was ich gut verstehen kann, doch gehören sie nicht irgendwie zum Thema, die Gefühls- und erotischen Bindungen der Erziehung, die ja ebenso zwischen den Schülern und Schülerinnen bestanden? 

Trotzdem dürfen wir als Leser immer wieder neugierig auf den Text sein, der den Thesen und Argumentationen zur Rolle der Mädchen und Frauen in all ihrer notwendigen Widersprüchlichkeit nachgeht und dem glücklicherweise jede einseitige Darstellung fremd ist. Ja beim Lesen kommt einem sogar der gar nicht so abwegige Gedanke, ob das argumentative Abwägen der "natürlichsten Sache" nicht auch gelesen werden könnte als Ausdruck der Hoffnung auf den Erhalt zumindest einiger Stunden in den Nur-Mädchen-Lerngruppen, die einfacher waren oder als Ausdruck des Wunsches, dass die Koedukation die schwierigeren Jungenklassen erträglicher machen möge. 

Ihre besonderen Qualitäten erweist die Studie bei der Darstellung der Entstehung der Versuchsschulen und durch die hervorragende Erschließung mannigfaltiger Quellen in privaten und öffentlichen Archiven. Selten oder schon lange nicht mehr wurde zum Thema Berliner Versuchsschulen so viel Material durchgesehen und bearbeitet. Für viele ist das Buch bereits zu einem zuverlässigen Nachschlagwerk zu Personen als auch Findmittel zu den Materialien geworden. Selbst im eigenen "Fachgebiet" erschließt es neue Namen und Quellen, die man im Text oder in den nach Schulen gegliederten Registern kennen gelernt hat. Quellenregister und schulbezogene Materialsammlungen ergeben mit dem Namensregister, den statistischen Zusammenstellungen sowie einem Stadtplan von Berlin ein hervorragendes, nützliches und auch preiswertes Werk, das als zweiter Band der Reihe Bildungs- und kulturgeschichtliche Beiträge für Berlin und Brandenburg im Weidler Buchverlag Berlin erschienen ist, die von Peter Drewek, Knut Kiesand, Wolfgang Neugebauer, Hanno Schmidt und Elmar Tenorth herausgegeben wird . 

Persönlich gefällt mir, dass nichts übertüncht wir. Die Autorin weicht der pathetischen Feierkultur (Welch ein Thema für eine umfassende Studie!) ebenso wenig aus wie sie die schwer darstellbaren Texte zur Koedukation scheut (z.B. von Anna Siemsen, Lydia Stöcker, Fritz Karsen oder Heinrich Deiters) Sie liegen alle meist nur in kurzen Stellungnahmen vor. Siemsens Aufsatz "Die gemeinsame Erziehung der Geschlechter" zur Reichsschulkonferenz hat keine sieben A5-Druckseiten und Anna Siemsen referiert darin fast nur -ohne deutlich eine eigene Meinung zu vertreten- die ihr in den Kopf kommenden Bedenken gegen eine gemeinsame Erziehung und ihre Widerlegung und nennt Schäden, die Mädchen in Knabenschulen erleiden würden. Sie hofft auf die innere Umstellung von Lehrern, Eltern und Schülern und ist im Grunde für weitgehendes Gewährenlassen und genaues Beobachten der Entwicklungen. Sie interessiert sich für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in denen die Fragen der Schulreform wurzeln und die Stellung der Frau in Beruf, Gesellschaft und Familie ohne diese im Text zu erörtern. Ihr Referat ist m.E. ein pragmatischer sozialdemokratischer Text, der keinen utopischen Charakter hat, wie ähnliche Texte bei Löwenstein oder Karsen. Stolz kann die Autorin m.E. auch auf die Durchsicht von Unterrichtprotokollen und ähnlichen Quellen sein, die den schulischen Alltag möglichst nahe abbilden. (S.102 ff. und 159 ff.)
Und noch eine persönliche Anmerkung zum Abschluss: Es ist richtig, daß im Heimatmuseum Neukölln neben mehreren tausend dokumentierten Materialien auch einige neu hinzugekommene Schülerarbeiten "ungeordnet" in einem registrierten Nachlass liegen (vermutlich die größte Sammlung). Doch sieht es anderswo besser aus? Etwa in der Freien Universität? Die vielen Privatarchive, die in der Arbeit zitiert werden -es wären leicht noch weitere zum gleichen Zeitraum zu nennen- liegen alle verstreut und sind häufig unbenutzbar. Könnte nicht ein Weg gefunden werden, zumindest die Berliner Quellen zu den Versuchsschulen der Weimarer Zeit zu bündeln? Es müsste ja gar nicht unbedingt die vom Bezirk vernachlässigte eigene Schulgeschichtliche Sammlung im Rathaus und in einer Außenstelle des Heimatmuseums Neukölln sein! Nach dem faktischen Aus für ein Berliner Schulmuseum, das sich jetzt Museum für Kindheit und Jugend nennt, wäre als Verwalterin einer gemeinsamen Findstelle eine der Fachbibliotheken dieser Stadt denkbar. Für mich wäre eine solche Lösung eine riesige Erleichterung, sollte ich als Klassenlehrer wieder einmal etwas Zeit für eine kleine Forschungsarbeit bekommen. Rudolf Rogler

Erfassungsdatum: 24. 11. 1999
Korrekturdatum: 02. 04. 2004