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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Kluchert, Gerhard
Rezensiertes Werk: Winfried Speitkamp: Jugend in der Neuzeit : Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, 322 S.
Erscheinungsjahr: 2000
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
PD Dr. Gerhard Kluchert
Humboldt-Universitaet zu Berlin, Phil. Fak. IV,
Institut fuer Schulpaedagogik, Unter den Linden 6, 10099 Berlin
mailto:gerhard.kluchert@rz.hu-berlin.de

Text der Rezension:

 
An Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Jugend herrscht wahrlich kein Überfluß. Die es gibt, kann man, streng genommen, immer noch an den Fingern einer Hand abzählen. Groß sind dabei die Abstände zwischen den Erscheinungsdaten und entsprechend groß auch die Unterschiede im erkenntnisleitenden Interesse und im Zugriff auf das Thema. Unübersehbar ist nur in jedem Falle der Einfluß der jeweils aktuellen Jugendphänomene und der herrschenden sozialwissenschaftlichen Paradigmen.

Das zeigt sich schon bei Walter Hornsteins Studie "Jugend in ihrer Zeit", die, 1966 erschienen, am Anfang der Ahnenreihe des hier anzuzeigenden Buches steht. Irririert von bestimmten Erscheinungen jugendlichen Protests und jugendlicher Verweigerung in den 50er und frühen 60er Jahren, geht der Autor den Veränderungen des Jugendlebens in zweieinhalb Jahrtausenden europäisch-"abendländischer" Geschichte nach und sucht - in Anlehnung an Konzepte der zu dieser Zeit gerade hochmodernen struktur-funktionalistischen Jugendsoziologie Amerikas - die Art und Weise zu erfassen, in der die Heranwachsenden jeweils in die Gesellschaft integriert worden sind. Acht Jahre nach Hornsteins Buch erscheint in New York John R. Gillis "Youth and History", das 1980 ins Deutsche übersetzt wird und rasch zum "Klassiker" avanciert. Die Darstellung ist zutiefst geprägt vom Erleben der internationalen Studentenbewegung und von deren geistigem Leitstern, dem Neomarxismus. "Jugend macht ihre eigene Geschichte" lautet denn auch die Hauptthese  und diese Geschichte erscheint ihrerseits wesentlich bestimmt durch die ökonomischen Verhältnisse. Ein gutes Jahrzehnt später dann ein neuer Akzent mit Michael Mitterauers "Sozialgeschichte der Jugend", einer Sozialgeschichte im Sinne historischer Anthropologie, der es vor allem um die Beschreibung grundlegender Strukturzusammenhänge geht und in der daher viel von Heiratsmustern und Haushaltstypen, von Dienstverhältnissen und von erbrechtlichen Regelungen die Rede ist. Fast zeitgleich erscheint Helmut Fends "Sozialgeschichte des Aufwachsens", ungeachtet des Titels im Kern ebenfalls eine "Sozialgeschichte der Jugend", zweifellos mit geringerem historischen Tiefgang als die Mitterauers, gleichwohl durch die Anlehnung an Max Webers Konzept des okzidentalen Rationalismus und die idealtypische Konstruktion von Jugend in der Vormoderne, Moderne und Postmoderne mit "universalgeschichtlichem" Anspruch. Zugleich ist hier der Einfluß zeitgenössischer Erscheinungen wieder mit Händen zu greifen, konkret: der Einfluß des Jugendprotests der 80er Jahre in seiner ökologisch-pazifistischen Variante, in dem sich für Fend das notwendige Korrektiv zum okzidentalen Rationalismus verkörpert.

Mehr als zehn Jahre sind seitdem vergangen, Zeit also für eine neuen Anlauf.(1) Gewagt hat ihn der Gießener Historiker Winfried Speitkamp, bislang eher durch Arbeiten auf dem Feld der Landes-, Verfassungs- und Kulturgeschichte als auf dem der Jugendgeschichte hervorgetreten. Zwar weist der Titel seiner Studie - "Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert" - auf zeitliche wie räumliche Grenzen der Darstellung hin, doch sind diese zweifellos weit genug gesteckt, um das Buch in die Reihe der Überblicksdarstellungen aufzunehmen. Worin aber hebt es sich nun von seinen Vorgängern ab, was ist das Neue: Wieder ein spezifisches, durch aktuelle Jugendphänomene geprägtes Erkenntnisinteresse? Wieder ein neuer theoretischer oder methodischer Ansatz? Beides, so viel sei vorab gesagt, muß man verneinen. Speitkamp wahrt größere Distanz zum Gegenstand seiner Beschäftigung als die meisten seiner Vorgänger (was dem Reiz der Lektüre abträglich sein mag, der Schärfe des analytischen Blicks jedoch eher zugute kommt). Jugend ist für ihn weder Anlaß zu kulturkritischen Befürchtungen noch zu revolutionärer Hoffung. Die Themen, die die aktuelle Jugenddebatte beherrschen - Gewalt, Rechtsextremismus, Drogen, apolitische Haltung - bilden weder Ausgangs- noch Zielpunkt der Darstellung, ja, sie werden nicht einmal erwähnt. Da erscheint es dann nur folgerichtig, daß diese Darstellung mit dem Ende der Nachkriegszeit, das etwa auf das Jahr 1960 datiert wird, abbricht.

Auch was den wissenschaftlichen Zugriff angeht, ist der Autor sichtlich bemüht, alle Einseitigkeit zu vermeiden. "Jugend", so erklärt er einleitend, "umschließt immer Aspekte der Sozial-, Politik- und Kulturgeschichte, sie ist nicht bloß Folge sozioökonomischer Prozesse, auch nicht nur Objekt und Subjekt politischen Handelns und ebensowenig allein eine Geisteshaltung und kulturelle Lebensform. Erst in der Wechselwirkung erschließt sich die Gesamtheit der Geschichte von Jugend" (S. 12). Nicht um einen neuen, "einseitigen" Entwurf ist es Speitkamp daher zu tun, sondern um eine Synthese der bereits vorliegenden. So wird denn auch neueren Arbeiten vor allem sozialgeschichtlicher Art einleitend Reverenz erwiesen - allerdings in knappstmöglicher Form. Auf eine ausführlichere Darlegung des Forschungsstands, die für den um Orientierung auf dem weiten Feld historischer Jugendforschung bemühten Leser zweifellos nützlich wäre, wird dagegen leider verzichtet. Auch im weiteren Gang der Darstellung wird die Auseinandersetzung mit einzelnen Thesen oder Deutungsmodellen bestenfalls implizit geführt. Besagter Leser muß sich so mit einem 12 Seiten umfassenden, nach Sachgesichtspunkten gegliederten, unkommentierten Literaturverzeichnis am Ende der Arbeit begnügen.

Entschädigt wird er dafür in gewissem Sinne durch die Übersichtlichkeit der Gliederung, in der sich historische mit systematischen Gesichtspunkten verbinden und in der sich zugleich das Bemühen um eine Verknüpfung verschiedener Perspektiven widerspiegelt. So folgt jeweils auf einen sozialgeschichtlichen Abschnitt, der sich mit der Bevölkerungsentwicklung, der Familienstruktur und der Arbeitswelt, aber auch mit dem jugendlichen Alltagsleben und den Jugendkulturen beschäftigt, ein Abschnitt, in dem es um die Jugendpolitik und die Organsiationen der Jugend geht - in den der Zeit nach 1871 gewidmeten Kapiteln werden beide Aspekte dann getrennt behandelt -, und schließlich ein Abschnitt über die Entwicklung des Bildungssystems. Diese systematische Gliederung wird in bemerkenswerter Konsequenz über die 7 Kapitel des Buches (plus Literaturverzeichnis) hinweg bei ebenso bemerkenswerter Verteilungsgerechtigkeit (je 10 Seiten pro Abschnitt) durchgehalten. Allein die Zusammenführung der verschiedenen Aspekte erscheint dabei als eine bemerkenswerte konzeptionelle Leistung - angesichts eines Forschungsfelds, in dem sie gewöhnlich getrennt voneinander behandelt und speziell die Geschichte der Jugend und die Geschichte des Bildungswesens kaum einmal gemeinsam in den Blick genommen werden.

Allerdings bereitet gerade diese Zusammenführung, kaum verwunderlich, auch spezifische Schwierigkeiten. Dies zeigt sich schon an der historischen Gliederung, die sich - mit Ausnahme des ersten (bis 1770) und des letzten Kapitels (bis 1960) - an politischen Zäsuren orientiert. Eine solche Periodisierung läßt sich aber nicht ohne weiteres auf die Sozialgeschichte übertragen, was dem Autor wohl bewußt ist: Demographische, soziale und kulturelle Veränderungen, so gesteht er ein, folgten durchaus je eigenen Entwicklungsgesetzen - und dies hat seine Auswirkungen auch auf die Geschichte des sozialen und kulturellen Phänomens "Jugend". Implizit folgt Speitkamp denn auch durchaus jener Periodisierung, die sich in der Jugendgeschichtsschreibung mittlerweile etabliert hat: So unterscheidet auch er zwischen einer "vormodernen" und einer "modernen" Jugend. Erstere ist für ihn vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie vielfach "nach sozialem Rang, Geschlecht, Religion, konfessioneller Zugehörigkeit und beruflicher Perspektive" (S. 292) differenziert und daß sie als Übergang angelegt war: "Sie wurde vom Erwachsenenstatus aus gesehen, bereitete ihn vor, wurde nicht gegen ihn gelebt, sondern als Schritt zu ihm hin" (ebd.). Entsprechend besaßen auch die Gruppierungen der Jugend in der Vormoderne im wesentlichen eine integrative Funktion. Sie organisierten und regulierten den Übergang in die Erwachsenenwelt und waren dabei ganz "auf Verteidigung und Bewahrung der traditionalen Welt" ausgerichtet. Anders die "moderne" Jugend: Sie erscheint hauptsächlich als Phase eines Moratoriums mit der Aufgabe der Selbstfindung und Reifung der Persönlichkeit, damit zugleich aber auch als "eine Phase der Emanzipation und des Aufbruchs", der Zukunftsorientierung und des Strebens nach einer neuen, besseren Welt. Sie hat somit nicht bewahrenden, sondern umwälzenden Charakter mit der Folge des immer neu sich bildenden Generationenkonflikts. Diese "moderne" Jugend tritt laut Speitkamp, der sich auch hier in Übereinstimmung mit der herrschenden Auffassung befindet, zum ersten Mal am Ende des 18. Jahrhunderts in einem noch schmalen sozialen Segment, dem Bildungsbürgertum, ein Jahrhundert später dann in breiterer Front in Erscheinung - für beide Zeitpunkte hat sich ja die Rede von der "Entdeckung" der Jugend eingebürgert. 

Neben dieser impliziten Periodisierung steht nun aber die explizite, an politischen Daten orientierte (1819, 1871, 1918, 1933, 1945), was notwendig zu Reibungen und Ungereimtheiten führt. Dabei soll gar nicht generell bezweifelt werden, daß der Wechsel des politischen Systems, der mit diesen Daten jeweils angezeigt wird, Einfluß auch auf die Gestaltung des Phänomens "Jugend" gehabt haben mag. Wie dieser Einfluß jedoch konkret aussah, wird in der Darstellung nicht gezeigt. So bleibt es, um ein Beispiel herauszugreifen, unklar, inwiefern das Kaiserreich im Hinblick auf die Jugendgeschichte eine Einheit bildet. Wenn Speitkamp in ihm "die Phase der Durchsetzung von Jugend im modernen Sinn" (S. 162) sieht, so trifft dies - selbst wenn man nur die politischen Aspekte betrachtet - doch lediglich für seine letzten beiden Jahrzehnte zu, und es ist nicht leicht zu erkennen, in welcher Hinsicht die Jahre 1918/19 hier einen Einschnitt markieren.

Sichtbare Schwierigkeiten bereitet auf der anderen Seite auch die Verbindung von Jugend- und Schulgeschichte. Zwar zeigt sich der Autor auch hier durchaus auf der Höhe der Forschung, wenn er neben der Schulpolitik ausführlich auf die Beziehungen von Schule und Gesellschaft eingeht und dabei besonders die Bedeutung der ersteren für die soziale Mobilität und für die Elitebildung herausstellt. Was die Schule in ihrer jeweiligen Gestalt jedoch für "Jugend" und Heranwachsen bedeutet, wird nur an wenigen Stellen thematisiert. Hier macht es sich bemerkbar, daß der Autor über keinen theoretischen Ansatz verfügt, der es erlaubte, Schule und Jugend "von innen heraus" zu verbinden - wie ihn etwa die historische Sozialisationsforschung bereithält. In Speitkamps Darstellung wird eine solche Verbindung dagegen nur "äußerlich" hergestellt, und zwar über ein Konzept von "Modernisierung", das hauptsächlich auf Prozesse der wachsenden sozialen wie lokalen Mobilität, der Einebnung von Schicht- und Milieugrenzen sowie der zunnehmenden Individualisierung Bezug nimmt. 

In anderer Hinsicht bietet der Rückgriff auf ein solches Modernisierungskonzept allerdings wiederum durchaus Vorteile, ermöglicht er doch eine differenzierte Darstellung der Entwicklung, die zwischen Intention und Wirkung, Form und Inhalt zu unterscheiden und etwa "die ungeplant emanzipatorische Wirkung einer restaurativen Bildungspolitik" (S. 116) herauszuarbeiten vermag. Die damit angesprochene "Dialektik" - für die Hans-Ulrich Wehler den Begriff der "defensiven Modernisierung" geprägt hat - erscheint im übrigen charakteristisch für die Entwicklung fast während des gesamten in Frage stehenden Zeitraums, und sie wird auch dort erkennbar, wo die Jugend als Objekt und Subjekt politischer Bestrebungen in den Blick genommen wird. So gelingt es Speitkamp zu zeigen, dass die Jugendpolitik auch und gerade dort, wo sie sich um Integration, Disziplinierung und Instrumentalisierung der Jugend bemüht, an deren Zusammenschluß, Selbstbewußtwerdung und Freisetzung beteiligt ist, während umgekehrt die Jugend auch und gerade dort, wo sie gegen die ältere Generation protestiert und sich von der "Erwachsenenwelt" distanziert - wie in der Jugendbewegung vor und nach dem 1. Weltkrieg -, zugleich die eigene Integration, Selbstdisziplinierung und "Domestizierung" betreibt.(2) Auf diese Weise die wechselseitige Bezogenheit von Jugendpolitik und "Politik der Jugend", von älterer und jüngerer Generation in der Entwicklung der beiden letzten Jahrhunderte aufzuzeigen, ist vielleicht das größte Verdienst von Speitkamps Darstellung. Um so mehr bedauert man natürlich, daß sie nicht über das Jahr 1960 hinausgeführt wird und die großen jugendlichen Protestbewegungen der Folgezeit somit unberücksichtigt bleiben. Der Hinweis des Autors am Ende der Einleitung, daß sich um 1960 in sozialer, politischer und kultureller Hinsicht eine Wende in der Geschichte der Jugend anbahne, ist nur geeignet, dieses Bedauern zu vergrößern, und daß er zum Schluß wenigstens kursorisch noch auf die in der Forschung mehrfach vertretene These eingeht, dass sich das "Zeitalter der Jugend" seinem Ende zuneige, bietet da wenig Trost. Überlegungen dieser Art werden von Speitkamp zudem rasch als "Spekulation" abgetan, der zeitliche Abstand zu den Entwicklungen erscheint ihm offensichtlich für eine tragfähige Analyse und Einordnung noch nicht groß genug. Die in vieler Hinsicht wohltuende wie der analytischen Durchdringung des Gegenstands dienliche Zurückhaltung des Historikers erscheint an diesem Punkt doch etwas weit getrieben.

Dennoch: Mit der Fülle der dargebotenen Informationen, mit der komplexe Sachverhalte in gut lesbarer, verständlicher Sprache wiedergebenden Darstellung, schließlich auch mit dem Bemühen um Integration verschiedener Perspektiven ist das Buch - ohne seine "Vorläufer" zu ersetzen und ohne weitere Bemühungen um eine zusammenfassende Deutung überflüssig zu machen - für jeden, der sich einen Überblick über die Geschichte der Jugend in Deutschland vom 17. bis zum 20. Jahrhundert verschaffen will, eine unentbehrliche Hilfe.

Anmerkungen
(1) Die 1995 von Giovanni Levi und Jean-Claude Schmitt herausgegebene zweibändige "Geschichte der Jugend" soll hier außer Betracht bleiben, obwohl sich in der für die Beiträge charakteristischen kulturgeschichtlichen Sicht auf die Jugend als einem mit Symbolen und Werten besetzten Konstrukt sehr wohl ein neues historiographisches Paradigma erkennen läßt; dennoch handelt es sich, wie die Herausgeber explizit betonen, eben nicht um eine Geschichte der Jugend, sondern um viele, wird gerade nicht jene Synthese gesucht, um die es in den anderen hier erwähnten Arbeiten geht.
(2) Gerade auf dem Feld der Jugendorganisationen setzt die Darstellung die Akzente allerdings überraschend konventionell. So sind der bürgerlichen Jugendbewegung vor dem 1. Weltkrieg wie der Bündischen Jugend der Weimarer Zeit ganze Abschnitte im Umfang von 10 Seiten gewidmet, während die kirchlichen, politischen und wirtschaftlichen Jugendverbände jeweils auf einer Seite abgehandelt werden. Als notwendigen Ausfluß der Forschungslage wird man eine solche Verteilung der Gewichte kaum mehr ausgeben können, nachdem in jüngerer Zeit eine Reihe von aufschlußreichen Untersuchungen gerade zu den kirchlichen und Parteijugendverbänden der Weimarer Zeit erschienen sind.

Erfassungsdatum: 08. 03. 2000
Korrekturdatum: 02. 04. 2004