Autor: | Scholtz, Harald |
Titel: | Literaturbericht zur Instrumentalisierung von Internatsschulen im 2. Weltkrieg, Teil 2: "Erweiterte Kinderlandverschickung" 1940-1945 |
Erscheinungsjahr: | 2000 |
Text des Beitrages: |
Entsprechend ironisch formuliert Gerhard Kock das Motto seiner 1997 erschienenen Dissertation: "Der Fuehrer sorgt fuer unsere Kinder", wie auch die Ausstellung zur "Kinderlandverschickung 1940-1945" in Berlin-Steglitz (1995/1996) den Ausspruch "Wen der Fuehrer verschickt, den bringt er auch wieder gut zurueck" als charakteristisch fuer die Akteure hervorhob. Ein aus diesem Anlass gut besuchtes Diskussionsforum zeigte sich wenig beeindruckt von dem in der Begleitbroschuere gefuehrten Nachweis ueber das Misstrauen der Eltern. Als "Zeitzeugen" fuehlten sich die damals Verschickten, die jetzt am Beginn des Rentenalters stehen, zur Treue gegenueber ihrer damaligen Erlebnisperspektive verpflichtet: eine parteiische, gar totalitaer vereinnahmende Aktion habe man in der "Verschickung" nicht sehen koennen. Auf meinen Hinweis eines Zusammenhangs der Aktion mit der inflationaeren Kombination von Schulunterricht mit "Heimen" oder Lagern nach dem Muster der "NS-Ausleseschulen" (1973) war 1981 die erste Darstellung der Aktion durch einen damals verantwortlichen HJ-Fuehrer gefolgt, der von einem "Hilfswerk" sprach, das "in der breiten Öffentlichkeit jenseits aller Aspekte des Staates und der Partei als gut und notwendig betrachtet wurde"(Dabel 1981, S.16).Entsprechend gibt es auch heute noch kontrovers argumentierende Veroeffentlichungen zu den Evakuierungsmassnahmen, doch sind jetzt unreflektierte "Dokumentationen" wie die von Martha Schlegel ueber die Aktion in Wilhelmshaven (1996) seltener geworden. Erst nach dem kritischen Bericht des Kulturhistorikers Jost Hermand über seine Erlebnisse unterschiedlicher Art in 5 KLV-Lagern unter dem Titel "Als Pimpf in Polen" (1993) ist eine intensivere Erforschung der mittlerweile 50 Jahre zurueckliegenden Aktion in Gang gekommen. Dissertationen wie auch Ausstellungen mit entsprechenden Begleittexten regen zur oeffentlichen Diskussion an. Als Beispiele sei die bereits erwaehnte aus Berlin-Steglitz sowie die im Rahmen der Hagener Stadtgeschichte mit dem Begleittext von Gerhard Sollbach entstandene genannt. Von den Dissertationen behandelt die von Gerhard Kock "Die Kinderlandverschickung im zweiten Weltkrieg" am umfassendsten unter Heranziehung vieler publizierter Erinnerungen und der relevanten Literatur. Dem im Anhang von Kock bereits angesprochenen Vergleich mit den Evakuierungsmassnahmen in England, bei dem er sich auf eine Veroeffentlichung von 1976 stuetzen konnte, wurde zur gleichen Zeit von Carsten Kressel aufgenommen und im Vergleich von Massnahmen in Hamburg und Liverpool untersucht. Von Kock wird eindrucksvoll die weit verbreitete Abwehr der Eltern belegt, die ihre Kinder nicht dem "Lager" ueberlassen wollten (S. 141f.). Regionale Unterschiede werden von ihm ebenso wahrgenommen wie "Politische Konfliktpotentiale um die KLV". Nach seiner Schaetzung betraf die Verschickung in Lager "nur" 850 000 Jugendliche. Gleichzeitig mit Kock
hat Eva Gehrken1997 ihre Dissertation ueber "Nationalsozialistische
Erziehung in den Lagern der Erweiterten KLV" vorgelegt und damit exemplarisch
gezeigt, wie sich eine wissenschaftliche Reflexion eigenen Erlebens im
KLV-Lager vollziehen kann. Wenn auch die "Gestaltungsvorschriften" fuer
jede Einzelheit des Lagerlebens nicht mit der Ambition referiert werden,
damit die Lagerwirklichkeit zu schildern, so wird doch eindrucksvoll das
Ensemble der Einflussnahmen von "oben" geschildert, die mehr oder weniger
explizit den gesellschaftlich vermittelten Traditionen entgegenwirken sollten.
So ist fuer lokale Untersuchungen der letzten erziehungspolitischen Massnahmen
der Nazis der Boden bereitet. Die "Erweiterte Kinderlandverschickung" bietet
sich als Thema an, um die kritische Verarbeitung persoenlicher Erfahrungen
der ins Rentenalter Eintretenden endlich voran zu bringen.
Erwaehnte Literatur:
Prof. Dr. Harald Scholtz,
Berlin
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Erfassungsdatum: | 10. 07. 2000 |
Korrekturdatum: | 02. 04. 2004 |