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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Scholtz, Harald
Titel: Literaturbericht zur Instrumentalisierung von Internatsschulen im 2. Weltkrieg, Teil 2: "Erweiterte Kinderlandverschickung" 1940-1945
Erscheinungsjahr: 2000
Text des Beitrages:

  
Noch heute wird von vielen damals "Verschickten" nicht wahrgenommen, dass die Massnahmen zur Verknuepfung des Schulunterrichts mit einer Sozialisation durch das "Lager" typisch fuer die Erziehungspolitik der Nazis waren. Man erinnert sich an den Exodus aus bombengefaehrdeten Gebieten, empfand die Reduzierung der Unterrichtsanforderungen als "kriegsbedingt" oder auch als Stimulans fuer ein froehliches, fast unbeschwertes Jugendleben. Aus dieser Erlebnisperspektive werden die Sorgen vieler Eltern verdraengt, die sich gegen die Verfuegung des Staates, vielmehr von Nazi-Organisationen, ueber den Aufenthaltsort und das Tun und Lassen ihres Kindes zur Wehr setzten. Freilich sind weit weniger als die im Buchtitel von Claus Larass genannten "5 Millionen Kinder" durch die Lager-Sozialisation gegangen, die nur fuer die ueber Zehnjaehrigen vorgesehen war. Selbst als der Schulunterricht an den besonders durch Luftangriffe gefaehrdeten Orten weisungsgemaess ganz eingestellt wurde, blieb den Eltern noch immer der Ausweg in eine Privatunterbringung ihrer Kinder, sofern das die persoenlichen Verhaeltnisse erlaubten. In einer solchen weit verbreiteten Reaktion der Erwachsenen drueckt sich ihr Misstrauen gegenueber der Verschickung in "Lager" aus, was vor allem im Hinblick auf den Ausgang des Krieges berechtigt war. 

Entsprechend ironisch formuliert Gerhard Kock das Motto seiner 1997 erschienenen Dissertation: "Der Fuehrer sorgt fuer unsere Kinder", wie auch die Ausstellung zur "Kinderlandverschickung 1940-1945" in Berlin-Steglitz (1995/1996) den Ausspruch "Wen der Fuehrer verschickt, den bringt er auch wieder gut zurueck" als charakteristisch fuer die Akteure hervorhob. Ein aus diesem Anlass gut besuchtes Diskussionsforum zeigte sich wenig beeindruckt von dem in der Begleitbroschuere gefuehrten Nachweis ueber das Misstrauen der Eltern. Als "Zeitzeugen" fuehlten sich die damals Verschickten, die jetzt am Beginn des Rentenalters stehen, zur Treue gegenueber ihrer damaligen Erlebnisperspektive verpflichtet: eine parteiische, gar totalitaer vereinnahmende Aktion habe man in der "Verschickung" nicht sehen koennen. 

Auf meinen Hinweis eines Zusammenhangs der Aktion mit der inflationaeren Kombination von Schulunterricht mit "Heimen" oder Lagern nach dem Muster der "NS-Ausleseschulen" (1973) war 1981 die erste Darstellung der Aktion durch einen damals verantwortlichen HJ-Fuehrer gefolgt, der von einem "Hilfswerk" sprach, das "in der breiten Öffentlichkeit jenseits aller Aspekte des Staates und der Partei als gut und notwendig betrachtet wurde"(Dabel 1981, S.16).Entsprechend gibt es auch heute noch kontrovers argumentierende Veroeffentlichungen zu den Evakuierungsmassnahmen, doch sind jetzt unreflektierte "Dokumentationen" wie die von Martha Schlegel ueber die Aktion in Wilhelmshaven (1996) seltener geworden. 

Erst nach dem kritischen Bericht des Kulturhistorikers Jost Hermand über seine Erlebnisse unterschiedlicher Art in 5 KLV-Lagern unter dem Titel "Als Pimpf in Polen" (1993) ist eine intensivere Erforschung der mittlerweile 50 Jahre zurueckliegenden Aktion in Gang gekommen. Dissertationen wie auch Ausstellungen mit entsprechenden Begleittexten regen zur oeffentlichen Diskussion an. Als Beispiele sei die bereits erwaehnte aus Berlin-Steglitz sowie die im Rahmen der Hagener Stadtgeschichte mit dem Begleittext von Gerhard Sollbach entstandene genannt. Von den Dissertationen behandelt die von Gerhard Kock "Die Kinderlandverschickung im zweiten Weltkrieg" am umfassendsten unter Heranziehung vieler publizierter Erinnerungen und der relevanten Literatur. Dem im Anhang von Kock bereits angesprochenen Vergleich mit den Evakuierungsmassnahmen in England, bei dem er sich auf eine Veroeffentlichung von 1976 stuetzen konnte, wurde zur gleichen Zeit von Carsten Kressel aufgenommen und im Vergleich von Massnahmen in Hamburg und Liverpool untersucht. Von Kock wird eindrucksvoll die weit verbreitete Abwehr der Eltern belegt, die ihre Kinder nicht dem "Lager" ueberlassen wollten (S. 141f.). Regionale Unterschiede werden von ihm ebenso wahrgenommen wie "Politische Konfliktpotentiale um die KLV". Nach seiner Schaetzung betraf die Verschickung in Lager "nur" 850 000 Jugendliche.  

Gleichzeitig mit Kock hat Eva Gehrken1997 ihre Dissertation ueber "Nationalsozialistische Erziehung in den Lagern der Erweiterten KLV" vorgelegt und damit exemplarisch gezeigt, wie sich eine wissenschaftliche Reflexion eigenen Erlebens im KLV-Lager vollziehen kann. Wenn auch die "Gestaltungsvorschriften" fuer jede Einzelheit des Lagerlebens nicht mit der Ambition referiert werden, damit die Lagerwirklichkeit zu schildern, so wird doch eindrucksvoll das Ensemble der Einflussnahmen von "oben" geschildert, die mehr oder weniger explizit den gesellschaftlich vermittelten Traditionen entgegenwirken sollten. So ist fuer lokale Untersuchungen der letzten erziehungspolitischen Massnahmen der Nazis der Boden bereitet. Die "Erweiterte Kinderlandverschickung" bietet sich als Thema an, um die kritische Verarbeitung persoenlicher Erfahrungen der ins Rentenalter Eintretenden endlich voran zu bringen. 
 

Erwaehnte Literatur: 
*Dabel, Gerhard (Hrsg.): KLV. Die erweiterte Kinder-Land-Verschickung. Freiburg 1981 
*Gehrken, Eva: Nationalsozialistische Erziehung in den Lagern der Erweiterten Kinderlandverschickung 1940-1945. (Steinhorster Schriften 8) Braunschweig/Gifhorn 1997 
*Hermand, Jost: Als Pimpf in Polen. Erweiterte KLV 1940-1945. (Fischer Geschichte Nr.11321) Frankfurt/M. 1993 
*Kinderlandverschickung1940-1945 "Wen der Fuehrer verschickt, bringt er auch gut wieder zurueck" Begleitheft zur Ausstellung des Kunstamtes Berlin Steglitz in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis "Nationalsozialismus in Steglitz" 1996 
*Kock, Gerhard: "Der Fuehrer sorgt fuer seine Kinder". Die Kinderlandverschickung im zweiten Weltkrieg. Paderborn (Schoeningh) 1997 
*Kressel, Carsten: Evakuierungen und Erweiterte Kinderlandverschickung im Vergleich (Liverpool/ Hamburg) Frankfurt/M. 1996 
*Larass, Claus: Der Zug der Kinder. Die Evakuierung von 5 Millionen deutscher Kinder im 2. Weltkrieg. Muenchen 1983 
*Schlegel, Martha: Von der Nordseekueste in die KLV. Eine Dokumentation. Oldenburg 1996 
*Sollbach, Gerhard E.: Heimat ade! Kinderlandverschickung in Hagen 1941-1945 (Hagener Stadtgeschichte Bd. 7) Hagen 1998 
 

Prof. Dr. Harald Scholtz, Berlin 
 

Erfassungsdatum: 10. 07. 2000
Korrekturdatum: 02. 04. 2004