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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Wiegmann, Ulrich
Rezensiertes Werk: Zimmer, Hasko in Zusammenarbeit mit Flessner, Katja u. Volmer, Julia: Der Buchenwaldkonflikt. Zum Streit um Geschichte und Erinnerung im Kontext der deutschen Vereinigung. Agenda Verlag: Münster, 1999, 247 S.
Erscheinungsjahr: 2000
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:  
Dr. Ulrich Wiegmann 
Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Forschungsstelle Berlin 
Text der Rezension:

  
Sich für das Buch zu interessieren, ist an eine Bedingung geknüpft. Es verlangt, sich wie auch immer zu der These verhalten zu wollen, dass es eine für die politische Kultur in der neuen Bundesrepublik wichtige Frage sei, wie mit der Geschichte des Antifaschismus und des kommunistischen Widerstandes gegen den deutschen Faschismus ebenso wie mit dessen staatspolitischer Instrumentalisierung in der DDR nach dem Zusammenbruch dieses über Jahrzehnte mit der alten Bundesrepublik konkurrierenden, zudem der Selbstbeschreibung nach antifaschistischen Staatswesens umzugehen ist. Der so bereits umrissene Konflikt um die ehemalige Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald wird von den Autor(inn)en noch dadurch aufgewertet, dass er geradezu als exemplarisch anzusehen sei für die bereits im Herbst 1989 einsetzenden Debatten um Erinnerung und Geschichte in Deutschland. Ausdrücklich wird die Auseinandersetzung um die ehemaligen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald-Dora als deutsch-deutscher Vereinigungskonflikt verstanden und behandelt. Ziel der Verfasser war es zu ergründen, welche Segmente der Vergangenheit für die Gestaltung von Zukunft im Ergebnis dieses anhaltenden Streits für erinnerungswürdig befunden wurden. 
Besondere thematische Komplikationen ergaben sich durch die Tatsache, dass es der Konflikt mit drei Vergangenheiten Buchenwalds zu tun bekam: mit der Geschichte des nationalsozialistischen Konzentrationslagers, mit der im Osten verschwiegenen Geschichte des sowjetischen Speziallagers und mit der Geschichte Buchenwalds als "Nationale Mahn- und Gedenkstätte" in der DDR. 
Materialgrundlage der Untersuchung bildeten in erster Linie hunderte von den Mitarbeitern der Gedenkstätte zwischen 1990 und 1997 gesammelte Artikel und Kommentare der ost- und westdeutschen Presse. Allein diese Größenordnung mache deutlich, dass es sich 1. um einen öffentlichen Konflikt handelt. Weil überdies alle relevanten Gruppen der Gesellschaft an der Kontroverse beteiligt wären, könne 2. von der Tatsache einer gesellschaftlichen Debatte ausgegangen werden, die sich 3. im Kontext deutsch-deutscher Vereinigungsprobleme entwickelt habe und 4. eine unübersehbare geschichts- und erinnerungspolitische Dimension gewonnen hätte. 5. schließlich erhalte der Konflikt seine internationale Dimension durch den Umstand, dass hier Menschen aus über 30 Ländern von den Nationalsozialisten inhaftiert worden waren. Vor allem durch die internationalen KZ-Häftlingsverbände wurde die Bedeutung Buchenwalds als Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses vieler Völker immer wieder hervorgehoben. 
In den Konflikt inmitten einer derart verwickelten geschichtlichen und zeithistorischen Situation wird der Leser behutsam eingeführt, auf konzentrischen Pfaden weitergeleitet und immer vertrauter mit dem komplexen Thema gemacht. Gleich einer offenen Wendeltreppe scheinen indes die unteren Stufenschichten auch auf komplizierterer, höherer Ebene hin und wieder durch. Der wiederkehrende Eindruck von Redundanz ist damit ebenso unvermeidlich wie selten gerechtfertigt. 
Im I. Kapitel erhält der Leser zunächst einen Überblick über die zeitliche, thematische und personale Dimension der Auseinandersetzung. Bereits die Chronologie baut Spannung auf. Sie vergegenwärtigt nicht nur die damalige Sprengkraft der antifaschistischen Doktrin, sondern erinnert zugleich an den wechselvollen, ereignisdichten vereinigungspolitischen Kontext zu Beginn der Debatte im letzten Jahr der DDR, d.h. in der Zeit vom Mauerfall bis zum Beitritt zur Bundesrepublik fast ein Jahr später. Der mit mehrfachem Wechsel in der Leitung der Gedenkstätte einhergehende und sich bis 1997 permanent zuspitzende Konflikt zwischen den Opfergruppen verknüpfte sich stark mit parteipolitischen Interessen. Die Zeitfolge dokumentiert den großen Einfluss, den die Presse auf Verlauf und Schärfe des Konflikts zu nehmen in der Lage war. Vor allem die Bild-Zeitung tat Übliches, um Spannungen zu schüren. Die Diskussion über den Umgang mit den Geschichten Buchenwalds wurde zum Medium der Auseinandersetzung mit der realsozialistischen Vergangenheit und ihres antifaschistischen Selbstverständnisses. 
Im II. Kapitel wird die These des Zusammenhangs von Gedenkstättenkontroverse und Vereinigungskonflikt entfaltet, der einem unübersehbaren Kräfteverhältnis zwischen siegreichem und unterlegenem gesellschaftlichem System, nunmehr zwischen alten und neuen Bundesländern unterliege. Illustriert wird solches Kräfteverhältnis am Beispiel der Entsorgung repräsentativer Symbole der untergegangenen DDR sowie anhand der Stasidebatte, die als wenig hilfreich beurteilt wird, sich vernüftig gegenüber Buchenwald zu positionieren. Stattdessen sehen die Verfasser durch eine auf die Stasivergangenheit fixierte DDR-Geschichte antikommunistische Strömungen nicht nur wieder belebt, sondern sogar verstärkt. 
Schließlich wird die Verquickung von historischer "Aufarbeitung" und parteipolitischen Interessen an der Tätigkeit der Enquête-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" illustriert. 
Das Zwischenresümee fällt erwartungsgemäß kritisch aus. Die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit werde durch einen deutlichen "Bezug auf den Nationalsozialismus bestimmt" (S. 32). Und: eine insbesondere totalitarismustheoretisch und durch Pauschalurteile bestimmte "reduktionistische Sicht" (ebd.) signalisiere "einen bedenklichen Wandel in der bunderepublikanischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus" (S. 33). 
Freilich überzeugen die Exempel. Zugleich aber werden die immerhin auch zahlreich angeführten kritischen Einwände gegenüber einer tendenziellen Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Realsozialismus offensichtlich unterbewertet. Denn jene Argumente sind ja nicht nur geeignet, die Kritik der Verfasser gegenüber dem bis dato vorherrschenden Umgang mit der DDR-Vergangenheit zu autorisieren, sondern sie dokumentieren immerhin eine nicht eben untergewichtige gegenläufige Tendenz. Sehr hilfreich für eine Verständigung über das Für und Wider des Diktaturenvergleichs in diesem Kapitel sind im Übrigen die Argumente für einen Vergleich anstatt der noch allzu oft üblichen Gleichsetzung. 
Im weiteren wird die Konfrontation anstatt mit dem Nationalsozialismus vor allem mit den Westzonen und der alten Bundesrepublik gesucht und dabei eine deutliche Differenz im Umgang mit der gemeinsamen nationalsozialistischen Vergangenheit herausgearbeitet. Das antifaschistische Erinnerungsprogramm im Osten sei nicht nur verordneter Antifaschismus, sondern auch ein Element der Alltagskultur gewesen. Die Gedenkstätten in der DDR dürften folglich nicht etwa nur als Institutionen verordneter Erinnerung gelten, sondern sie waren "`Orte des kollektiven Gedächtnisses` der DDR". Sie dokumentieren eine "widersprüchliche Einheit von Systemfunktionalität und lebensweltlicher Bedeutung" (39). 
So ertragreich der Ost-West-Vergleich ist, verweist er doch auch auf das hauptsächliche Motiv der Autor(inn)en für die Beschäftigung mit dem Buchenwald-Konflikt. Es ist der längst für defizitär gehaltene Umgang mit der NS-Vergangenheit in der alten Bundesrepublik. Die Debatte und deren Ertrag werden mithin vor dem Hintergrund bundesdeutscher Diskurse aus einer westlichen Perspektive evaluiert. Das Thema ist Anlass für die erneute Auseinandersetzung mit der eigenen teildeutschen Geschichte. 
Die Urteile über alle nur denkbaren komplexen Widersprüche aber scheinen geradezu zwangsläufig ost-westlich wie auch immer relativ voneinander verschieden. Vielleicht besonders die Tatsache, dass frühere antifaschistische Widerstandskämpfer sich als Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes bei der systematischen Unterdrückung der DDR-internen Opposition hervor taten, dürfte vor dem Hintergrund ost-west-differenter Erfahrungshorizonte tendenziell anders wahrgenommen und interpretiert werden. 
Ihre altbundesdeutsche Perspektive hindert die Verfasser freilich nicht daran, den Buchenwald-Konflikt akribisch zu dokumentieren, auch nicht daran, ihn zu begreifen. Ihre Stärken liegen gerade darin, sich distanziert und engagiert zugleich zu verhalten. Es wird einige Mühe kosten, Argumente ausfindig zu machen, die unberücksichtigt geblieben sind. 
Engagiert jedenfalls ist die immer wieder durchscheinende Annahme, dass es in der Buchenwald-Kontroverse von Anfang vor allem um die Abwicklung und Entsorgung des antifaschistischen Selbstverständnisses der DDR ging. Das verleitete wohl dazu, hier und da auf den speziellen Beweis zu verzichten. An der aufgeführten Literatur meist schon vergleichsweise frühen Erscheinungsdatums zu thematisch relevanten Problemen politischer Bildung zumindest ist außerdem ablesbar, dass die Beschäftigung mit dem Buchenwald-Konflikt selbst schon eine Geschichte hat. 
Im III. Kapitel werden die drei Vergangenheiten Buchenwalds noch einmal kurz geschildert. Dabei fällt freilich erst auf den zweiten Blick auf, dass ausgerechnet bei der Darstellung der Geschichte des nationalsozialistischen Konzentrationslagers - obzwar sie z.T. an anderer Stelle erwähnt wird - auf historische DDR-Literatur zum Thema verzichtet wurde. Das ist vor allem dem Anliegen der Autoren deshalb wenig dienlich, weil im Folgenden immer wieder vom Verdrängen und Entsorgen des DDR-Geschichtsbildes die Rede ist. Hier wäre der Platz gewesen, sich noch deutlicher von der kritisierten Tendenz abzusetzen und Buchenwald-Darstellungen von DDR-Historikern kritisch zu würdigen. 
Das umfangreichste IV. Kapitel dokumentiert, beschreibt und illustriert den schon begriffen geglaubten Konflikt nunmehr "im Spiegel der ost- und westdeutschen Presse". Dieser referierten Dokumentation wurde mit Abstand der größte Raum gewährt. Überaus kritisch fällt das Urteil über die Tätigkeit der Historikerkommission aus. Deren Leistungen aber scheinen geringer geschätzt als sie es im politisch erhitzten Klima der frühen neunziger Jahre in Thüringen überhaupt sein konnten. U.a. die Kritik an deren - gemessen am Brandenburger Modell - vergleichsweiser Tatenlosigkeit ist jedoch insofern nicht konsequent, als die Zurückhaltung der Kommission bei der Neukonzeption der KZ-Ausstellung beklagt wird, obgleich dies ebenso gut als Argument wider die historiographische Kolonialisierungsthese hätte ausgelegt werden können. Ebenfalls dass die Kommission die Empfehlung gab, beide Lagergeschichten zu dokumentieren, wird kritisch betrachtet - auch in Hinblick auf die Möglichkeiten Buchenwalds, Ort politischer Bildung zu werden. Jedoch bleibt andererseits immerhin auch fest zu halten, dass die Kommission mit dieser Empfehlung für anhaltenden Konfliktstoff verantwortlich zeichnet, also so gesehen vorzüglich politischer Bildung dienlich war. Zwar werden auch solche Argumente diskutiert, aber es bleibt bei dem überwiegend kritischen Urteil über die Leistungen der Kommission. Freilich wurde in der Tat durch die Empfehlungen der Historikerkommission der frühere zentrale Referenzpunkt Buchenwalds in Frage gestellt. Außerdem hätte von den Kommissionsmitglieder unbedingt erwartet werden dürfen, dass sie die eigene, ausschließlich westdeutsche Repräsentanz inmitten eines deklarierten Vereinigungsprozesses (selbst)kritisch zu reflektieren sich bemühen. 
Die noch viel weiter gehenden Erörterungen um Leistungen und Grenzen der Historikerkommission sind insbesondere deshalb hilfreich, weil sich hier alles Für und Wider der Debatte versammelt findet. Zugleich allerdings bestätigen die Argumente, was an anderer Stelle bereits zugegeben war, dass es nämlich unmöglich gelingen konnte, alle Interessen gleichermaßen zu bedienen. 
Vielleicht wird der Leser besonders in diesem IV. Kapitel des Öfteren auch zu der Frage provoziert, ob die Presse in der ihr zugemessenen Funktion als Quelle der Erforschung von Erinnerungskultur nicht sogar überfordert ist, selbst wenn gewiss zu Recht von einer permanenten Verschränkung gedenkstättenspezifischer Probleme, übergreifender Geschichtsdiskurse und politischer Interessen ausgegangen werden musste, die sich in den Printmedien widergespiegelt fand. Aber es geraten dadurch geschichtskulturelle und kulturpolitische Ebenen auch aneinander. Mühelos wird das historische Argument in der printmedialen Welt zum Leichtgewicht. Und vor allem die Boulevardpresse - wenn auch notgedrungen - zur Quelle von Erkenntnis aufzuwerten, hat sie jedenfalls schwerlich verdient - auch wenn die Untersuchung selbstredend nicht an diesem offenbar stärker, als es sich Erziehungswissenschaftler/Pädagogen im Allgemeinen wünschen, meinungsbildenden Blatt vorbekommen konnte. Um so hoffnungsvoller mag stimmen, dass mit der vorliegenden Publikation die denkbar günstigsten Bedingungen für die Thematisierung des Buchenwald-Konflikts im Rahmen politischer Bildung geschaffen sind. 

Erfassungsdatum: 12. 07. 2000
Korrekturdatum: 02. 04. 2004