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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Wintermeyer, Monika
Rezensiertes Werk: Barrieren und Karrieren. Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland. Dokumentationsband der Konferenz "100 Jahre Frauen in der Wissenschaft"/ hrsg. von Elisabeth Dickmann und Eva Schöck-Quinteros unter Mitarb. von Sigrid Dauks. (Schriftenreihe des Hedwig-Hintze-Instituts Bremen ; 5). - Berlin: Trafo-Verl. Weist, 2000. 391 S. - ISBN 3-89626-178-9
Erscheinungsjahr: 2000
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Dipl.-Päd. Monika Wintermeyer
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Fachbereich Erziehungswissenschaften


Text der Rezension:

 
Genau 100 Jahre nach Erscheinen der Umfrage Arthur Kirchhoffs zum Frauenstudium(1) fand im Februar 1997 die Konferenz "100 Jahre Frauen in der Wissenschaft" an der Universität Bremen statt. Die Veranstalterinnen nahmen dieses Jubiläum zum Ausgangspunkt einer Rückschau auf die Entwicklung in verschiedenen Fächern. Die Beiträge waren entsprechend der Kirchhoff-Umfrage geordnet und verstanden sich auch als Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte. Der jetzt erschienene Dokumentationsband der Konferenz faßt die inzwischen erweiterten oder aktualisierten Beiträge zusammen und will, so die Herausgeberinnen Elisabeth Dickmann und Eva Schöck-Quinteros in ihrer Einleitung als Grundlage für weiterführenden Austausch dienen. Der Dokumentationsband spiegelt den Forschungsstand in Deutschland zu den Anfängen des Frauenstudiums. Die Autorinnen sind Historikerinnen, Soziologinnen, Medizinerinnen, Naturwissenschaftlerinnen, Juristinnen und Erziehungswissenschaftlerinnen. Die Auseinandersetzung mit den Anfängen des Frauenstudiums hat sich von einer Bestandsaufnahme für universitätsinterne Ausstellungen über das Bemühen um das Sichtbarmachen von Frauen in der Universitätsgeschichte, meist durch Universitätsfrauenbeauftragte in Kooperation mit Historikerinnen, zu einem transdisziplinären Forschungsfeld gemausert, auf dem unterschiedliche Disziplinen sich treffen. Entsprechend vielfältig sind die methodischen Zugänge. Im vorliegenden Band, wie auch in der Literatur allgemein, stehen biographische Zugänge, die im Vorwort bereits als besonders ertragreich hervorgehoben werden (S. 10), deutlich im Vordergrund. Daneben finden sich in diesem Band u.a. Auswertungen von Universitätsarchiven, zeitgenössischer Literatur und Presse, statistische Untersuchungen und internationaler Vergleich. Der quantitativ-statistische Zugang ist jedoch noch immer schwach vertreten, wenn auch nicht mehr gänzlich verpönt. Das Buch bietet insgesamt eine gelungene Zusammenfassung der bisherigen deutschen Forschungslage - was nicht weiter verwunderlich ist, da fast alle exponierten Vertreterinnen dieses Themas an dem Band beteiligt sind. Gerade auch deshalb, halte ich es als Einstieg in die deutsche Diskussion um die Geschichte des Frauenstudiums und als Überblick geeignet. Das Buch enthält eine Fülle biographischen Materials zu einzelnen Wissenschaftlerinnen und ergänzende, aktuelle Literaturhinweise. Daher ist es auch als Ausgangspunkt für weitere Forschung zu nutzen.

Die 23 Beiträge gliedern sich in 6 Abschnitte:
-- Nach einer Einleitung der Herausgeberinnen betrachtet Ilse Costas die Professionalisierung akademischer Berufe im internationalen Vergleich. 
-- In Teil 1 über das Frauenstudium in den Sozial- und Kulturwissenschaften beschreiben Heike Brandstädter den Lebensweg und das Werk Margarete Susmanns (Kulturwissenschaftlerin, 1872-1966) und Elisabeth Dickmann den Hedwig Hintzes (Historikerin, 1884-1942). Hiltrud Häntzschel nimmt die Wissenschaftsemigration in einen geschlechterdifferenzierenden Blick. Über Dora Benjamin (Nationalökonomin, 1901-1946) berichtet Eva Schöck-Quinteros. Theresa Wobbe zeigt an Marianne Weber (1870-1954) und Mathilde Vaerting (1884-1977) die Unterschiede zwischen informaler und formaler Einbeziehung von Frauen in die Wissenschaft. Christa Kersting schließlich untersucht (oder vielleicht im konkreten Fall besser: sucht) die Akademikerinnen in der Erziehungswissenschaft der Nachkriegszeit bis 1955.
-- Das Medizinstudium und der Beruf der Ärztin bilden Teil 2. Marita Krauss stellt in ihrem Beitrag über Hope Bridges Adams Lehmann (Ärztin, 1855-1916) eine unermüdliche Streiterin für die Gleichstellung der Frau in Wort, Schrift, Tat und eigener Lebensführung vor, die dennoch sowohl in der Medizingeschichte wie in der Geschichte der Frauenbewegung bislang wenig Beachtung gefunden hat. Die Kliniken weiblicher Ärzte für Frauen in Berlin (1877-1914) beschreibt Kristin Hoesch und Sabine Schleiermacher stellt die ärztliche Schulaufsicht als neues Berufsfeld für Ärztinnen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik vor. Wissenschaftspolitik im Kaiserreich entlang der Trennungslinie Geschlecht untersucht Eva Brinkschulte anhand der ministeriellen Umfrage zur Habilitation von Frauen aus dem Jahre 1907. 
-- Teil 3 behandelt Frauen in den Naturwissenschaften. Hier betrachtet besonders detailliert Annette Vogt die Physikerinnen im Berliner Raum von 1900-1945 und Renate Tobies die ersten promovierten Mathematikerinnen u.a. Marie Vaerting (1880-1964), Emmy Noether (1882-1935) und Ruth Moufang (1905-1977). Susanne Flecken beschäftigt sich mit Maria Gräfin von Linden (Biologin, 1869-1936). Tekla Reimers geht dem Problem wissenschaftlicher Objektivität nach und beleuchtet Geschlechtsunterschiede aus männlicher und weiblicher Sicht.
-- Den Studentinnen ist Teil 4 gewidmet. Wiltrud Ulrike Drechsel schildert auf der Grundlage biographischer Zeugnisse von Anna Vietor (1860-1929), Käthe Stricker (1878-1979) und Elisabeth Forck (1900-1988) den Umgang der ersten Studentinnen mit "den Zumutungen der universitären Herrenkultur und ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation" (S. 288). Anja Burchhardt beleuchtet das Verhältnis zwischen russischen und deutschen Medizinstudentinnen (1865-1914) unter der Frage "Schwestern reicht die Hand zum Bunde?". Marianne Koerner beschreibt die AStA-Beteiligung der Studentinnenvereine vor dem Ersten Weltkrieg. Die Anfänge des Frauenstudiums in Würzburg zeichnet Heike Hessenauer in ihrer Fallstudie zur Entwicklung des Frauenstudiums bis 1939 nach.
-- 100 Jahre BGB, 100 Jahre Frauenstudium der Rechtswissenschaften ist der Titel des 5. und letzten Teils. Hier untersucht Beatrix Geisel die ersten Juristinnen in ihrer schwierigen Position zwischen Frauenbewegung und den Rechtsreformvorschlägen für das BGB. Ursula Rust fragt nach der Beteiligung von Juristinnen am wissenschaftlichen Diskurs. Und schließlich sind 100 Jahre BGB für Konstanze Plett und Sabine Berghahn Anlaß, das Familienrecht als die (un)heimliche Verfassung des Patriarchats unter die Lupe zu nehmen.

Der Dokumentationsband handelt laut Untertitel von den Anfängen des Frauenstudiums. Die meisten Beiträge handeln allerdings eher von Barrieren und Karrieren einzelner Akademikerinnen im Wissenschaftsbetrieb, denn von Hindernissen und Erfolgen im Studium. Von daher macht es Sinn, den Studentinnen ein einzelnes Kapitel zu widmen, wenn es auch auf den ersten Blick unnötig erscheint. Orientiert man sich an der Struktur des Kichhoff-Gutachtens, wirkt Teil 4 zu den Studentinnen eingeschoben. Er wäre meiner Meinung nach besser an den Anfang gestellt worden, so ist die Strukturierung nicht ganz einsichtig.

Die Herausgeberinnen hoffen, der Band möge auch als Grundlage für eine weitergehenden wissenschaftliche Diskussion dienen (S. 12). Meiner Meinung nach sind die folgenden Aspekte des Bandes in dieser Hinsicht besonders interessant:
1.) Geschlechtsspezifische Vorstellungen und Auswirkungen in einzelnen Disziplinen
2.) Von der Frauengeschichte zur allgemeinen Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte
3.) Veränderung von Wissenschaft durch die Beteiligung von Frauen

Zu 1.) Über die Frage der Beteiligung von Frauen hinaus, scheint es mir besonders fruchtbar zu sein, die geschlechtsspezifischen Vorstellungen und Grundannahmen näher zu beleuchten. Dazu zwei Beispiele aus dem Buch:
Im Anschluß an die amerikanische Forschung der 70er und 80er Jahre, zeigt die Biologin Tekla Reimers an ihrem Fachgebiet, der Naturgeschichte und natürlichen Evolution sexueller Unterschiede, sowohl die unvollständigen, verzerrten oder gar unzutreffenden Ergebnisse der bisherigen männlich dominierten Forschung wie auch die "blinden Flecken" in gegenwärtigen Gender Studies (S. 273). Sie verdeutlicht ihre Position an drei Beispielen: dem "Ursprung der Geschlechter", der "asexuellen Natur des Mutterns" und der "sexuellen Partnerwahl". Dabei kommt sie zu dem Schluß, daß zum einen die Biologen und die Sozialwissenschaftler in der Sex-Gender-Debatte schon begrifflich nicht übereinstimmen. "Die Biologen verstehen unter ‚gender` erbliche Eigenschaften und die Sozialwissenschaftler soziale Konstrukte." (S. 279) Zum anderen reicht ihrer Meinung nach die Reduktion auf Sex und Gender nicht aus, alle Bestandteile der menschlichen sexuellen Fortpflanzung zu beschreiben (ebd.).
Die Juristinnen Konstanze Plett und Sabine Berghahn erläutern in einem kurzen Abriß über die Geschichte des Familienrechts des BGB die Auswirkungen, die dessen patriarchale Grundhaltung hatte und hat. An den Beispielen: Eherecht, Kindschaftsrecht, Nichtehelichenrecht, Arbeitsrecht, Sozialrecht, Sexualstrafrecht und Schwangerschaftsabbruch skizzieren sie die bis heute wirksamen Vorstellungen von Männern und Frauen im Familienrecht und deren Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Lebensgestaltung von Frauen.
Für zukünftige Forschung wünsche ich mir mehr Beiträge dieser Art - vielleicht auch aus den Sozial- und Kulturwissenschaften?

Zu 2.) Das transdisziplinäre Forschungsfeld "Frauengeschichte in der Wissenschaft" ist noch nicht in der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte angekommen bzw. aufgenommen. "Die für die Wissenschaftsgeschichte primäre Frage nach den Bedingungen, Erkenntnissen und Folgen von Wissenschaft trifft sich nicht ohne weiteres mit dem politischen Anliegen der historischen Frauenforschung, die Sonderrolle und fortgesetzte Benachteiligung von Frauen herauszuarbeiten. Die Suche nach Fragestellungen, die von beiden Disziplinen mit dem gleichen Gewinn bearbeitet werden können, steckt noch in den Anfängen und verlangt eine Öffnung der bisher üblichen Denk- und Forschungstraditionen in Richtung einer Geschlechtergeschichte der Wissenschaft."(2)
Der Beitrag von Theresa Wobbe ist ein Beispiel für diese Öffnung und Erweiterung der Blickrichtung: Am Beispiel von Marianne Weber und Mathilde Vaerting zeigt Wobbe unterschiedliche Formen der Einbeziehung in die Wissenschaft auf. Sie unterscheidet die informale (Weber als Professorengattin ) und die formale (Vaerting als Professorin an der Universität Jena ) Mitgliedschaft. "Diese Unterscheidung ermöglicht (ebenfalls) die Frage, in welcher Weise die wissenschaftliche Arbeit und die Teilnahme an der Wissenschaft durch den größeren Rahmen des Wandels von Familie, Wissenschaft und Geschlechterrollen geprägt war, d.h. welche Wechselwirkung zwischen der Differenzierung moderner Wissenschaft und der Differenzierung von Familie und Geschlechterrollen anzunehmen ist und wie sie erforscht werden kann." (S. 115) Wobbe schlägt vor, soziologische Forschung nach dem Konzept "science as practice" mit der historischen Perspektive zu verbinden. Damit könnten Antworten möglich werden auf zwei gegenwärtig interessante Fragen: "erstens nach der Bedeutung von Organisation und Disziplin für die Zugangschancen von Frauen und zweitens nach den informalen Mechanismen, die in Organisationen die Asymmetrien zwischen den Geschlechtern reproduzieren." (S. 116)

Zu 3.) Der vorliegende Band geht leider nicht auf die Veränderungen der Wissenschaft und der Universität durch die Zulassung von Frauen ein, eine Frage, die im Kirchhoff-Gutachten eine große Rolle spielt. Mir scheint es wichtig, für weitergehende Auseinandersetzung mit diesem Thema, die spezifischen Forschungsinteressen von Frauen und ihre Auswirkungen auf die einzelnen Disziplinen in den Blick zu nehmen. Interessant dabei sind auch Fragen zum weiblichen Beitrag an geschlechtsspezifischen Vorstellungen der (Natur)Wissenschaft und der Gesellschaft. "Die Tatsache, daß die große Mehrheit der wissenschaftlich erfolgreichen Frauen, zumindest in den Bereichen von Naturwissenschaft und Medizin, das biologistische und mechanistische Paradigma der zeitgenössischen Wissenschaft mittrugen, bedeutet jedoch meiner Meinung nach mehr als nur ein Anpassungsphänomen. (...) Neben dem Zwang zur Anpassung bedeutete das Paradigma der Objektivität auch das Tor zur Integration, wenn auch um den Preis des Verlustes an weiblicher Identität. Außerdem spricht einiges dafür, daß Forscherinnen das Potential einer als wertneutral geltenden Wissenschaft im aufklärerischen Sinne nutzten, um ehedem unter moralischen Kategorien betrachtete Phänomene weiblicher Existenz (wie Lernfähigkeit, psychische und physische Belastbarkeit, Fortpflanzungsverhalten) nach wissenschaftlichen Maßstäben neu zu definieren. Dieser weibliche Beitrag zur Medikalisierung der Frau wäre ebenso einer näheren Betrachtung wert wie die Frage nach den Motiven und Intentionen derartiger Forschung."(3)
Neue Erkenntnisse hierüber könnten das bisher gezeichnete Bild der ersten Studentinnen und Wissenschaftlerinnen sinnvoll ergänzen.

Anmerkungen:
(1) Kirchhoff, Arthur: Die akademische Frau. Gutachten hervorragender Universitätsprofessoren, Frauenlehrer und Schriftsteller über die Befähigung der Frau zum wissenschaftlichen Studium und Berufe. Berlin 1897.
(2) Bleker, Johanna: Frauen in der Wissenschaft als Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, in: Bleker, Johanna (Hrsg): Der Eintritt der Frauen in die Gelehrtenrepublik. Geschlechterfrage im akademischen Selbstverständnis und in der wissenschaftlichen Praxis am Anfang des 20.Jahrhunderts, Husum: Mathiesen, 1998, hier , S. 8.
(3) Ebd., S. 14.

Erfassungsdatum: 13. 11. 2000
Korrekturdatum: 02. 04. 2004