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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Zimmer, Hasko
Titel: Paedagogik im Nationalsozialismus und Militarismus - Erziehung und Verantwortung fuer den Krieg
Erscheinungsjahr: 2001
Text des Beitrages:
 

Das von der DFG und der Japan Society for the Promotion of Science (JSPS) unterstuetzte Symposium fand am 31.8. und 1.9.2000 an der Universitaet Hiroshima statt.
Es wurde geplant von Prof. Michio OGASAWARA und Prof. Dr. Masaki SAKAKOSHI (Hiroshima) sowie von Prof. Dr. Heinz-Elmar TENORTH und Dr. Klaus-Peter HORN (Humboldt-Universitaet zu Berlin).

Die Tagung befasste sich mit der Paedagogik und Erziehungswissenschaft beider Laender in der etwa zeitgleichen Epoche ihrer autoritaer-militaristischen bzw. faschistischen Regime, deren Verbrechen in Japan noch immer offiziell verleugnet oder verharmlost werden. Dies wie der Umstand, dass es in der deutschen wie japanischen Erziehungswissenschaft bisher kaum Versuche gibt, diese nicht zuletzt paedagogischen Vergangenheiten in vergleichender Perspektive zu analysieren, konfrontierte das Symposium mit einigen Schwierigkeiten: Fuer die deutschen Teilnehmer stellten der japanische Militarismus (ca. 1930-1945) und die Paedagogik dieser Epoche ein weitgehend unbekanntes Feld dar, in dem Ansatzpunkte fuer vergleichende Fragestellungen erst herausgearbeitet werden mussten. Die japanischen Kollegen hingegen fuehrte die Auseinandersetzung mit dem Militarismus auf ein Gebiet, das auch in der japanischen scientific community, trotz einiger Veraenderungen in den letzten Jahren, noch immer als heikel gilt.
Es ist daher bemerkenswert und kennzeichnend fuer die Veranstalter in Hiroshima, dass M. OGASAWARA bereits in seiner Tagungseinleitung den spannungsreichen vereinigungspolitischen Kontext des Symposiums offen ansprach und kritisch die Defizite im japanischen Umgang mit der Vergangenheit benannte. Er verwies jedoch auch auf die seit den spaeten 80er Jahren zunehmenden Bemuehungen um eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und forderte eine aktive Rolle der japanischen Paedagogik und Erziehungswissenschaft in diesem Prozess. Vor diesem Hintergrund ist auch das Interesse an der Vergangenheitsaufarbeitung in Deutschland zu verstehen, die in Japan als Vorreiter und Impulsgeber fuer die anstehenden Aufgaben zu gelten scheint.

In den anschliessenden Vortraegen des Symposiums behandelten Prof. Dr. Heinz-Elmar TENORTH (Berlin): Erziehung und Paedagogik im Nationalsozialismus - Praxis, Reflexion und historisch-erinnernde Analyse.

Prof. Dr. Masaki SAKAKOSHI (Hiroshima): Die Paedagogik im militaristischen Japan. Eine Fallstudie ueber die Hochschule fuer Geistes- und Naturwissenschaft Hiroshima (1929-1953) und die Hoehere Lehrerschule Hiroshima (1902-1952).

Prof. Dr. Yoichi KIUCHI (Naruto): Das Schicksal der liberalen Paedagogik im modernen Japan: Arata Osada (1887-1961).

Dr. Hasko ZIMMER (Muenster): Geisteswissenschaftliche Paedagogik und Nationalsozialismus: Herman Nohl.

Prof. Dr. Klaus PRANGE (Tuebingen): Vergessen - verschweigen - verarbeiten. Zur paedagogischen Reaktion auf die Erfahrung der Hitlerzeit bei Fritz Blaettner, Otto Friedrich Bollnow und Theodor Wilhelm.

Dr. Nobuo FUJIKAWA (Osaka): Paedagogik zwischen Vernichtung fremder Kulturen und fremder Rassen. Zur Paedagogik von Seitaro Sawayanagi.

Prof. Dr. Gisela MILLER-KIPP (Duesseldorf): Erziehung im Nationalsozialismus: Grundsaetze und Formen, Absichten und Wirkungen und das Beispiel Hitler-Jugend.

Dr. Jun YAMANA (Tokyo): Behaelt die Stadt Hiroshima den Zweiten Weltkrieg im Gedaechtnis? Bemerkungen zur raeumlichen Analyse des Friedensparks Hiroshima.

Dr. Klaus-Peter HORN (Berlin): Authentizitaet und Symbolisierung, Identifikation und Identitaet, Gedenken und Lernen.
Erziehungswissenschaftliche Anmerkungen zu Gedenkstaetten in Deutschland und ihren Paedagogiken.

Im Themenblock, der sich mit Erziehungswissenschaftlern beider Laender aus der ersten Haelfte des 20. Jahrhunderts befasste, skizzierten M. SAKAKOSHI am Beispiel von Fachzeitschriften der 30er Jahre und Y. KIUCHI am Beispiel Arata OSADAS die Rolle und Positionen fuehrender akademischer Paedagogen Hiroshimas in der Zeit des Militarismus. SAKAKOSHI stellte Tendenzen politisch-ideologischer Anpassung dar und betonte die legitimatorische Funktion deutscher zeitgenoessischer Philosophen und Paedagogen in diesem Zusammenhang. Seit den 20er Jahren sei in Japan die Geisteswissenschaftliche Paedagogik in ihrer Gestalt als philosophisch fundierte Kulturpaedagogik breit rezipiert worden und im Zuge der paedagogischen Wende vom Subjekt zu Volk und Nation, die zu diesem Zeitpunkt von fuehrenden Repraesentanten beider Disziplinen vollzogen wurde, ein bedeutender Bezugspunkt geblieben. Dieser und weitere Befunde - z. B. die wachsende Kritik am Individualismus, Liberalismus und Intellektualismus der japanischen Paedagogik in den 20er Jahren, die nationalistische Umorientierung auf den japanischen "Volksgeist" und das Kaisertum, mit der Japans Oeffnung zum Westen seit der Meiji-Restauration rueckgaengig gemacht werden sollte - liessen ueberraschende Parallelen zur deutschen Entwicklung erkennen. Y. KIUCHI bestaetigte anhand der Wandlung der einst liberalen individualpaedagogischen Position des Pestalozzi-Spezialisten A. OSADA zu voelkischen und staatspaedagogischen Konzepten in den 30er Jahren solche Tendenzen, hob allerdings auch Differenzen zum mainstream hervor, die er an Osadas Kritik am Antiintellektualismus und moralpaedagogischen Irrationalismus festmachte.

N. FUJIKAWA erinnerte an einen kolonialpolitisch-staatstheoretischen Diskurs, der in der Paedagogik der Kriegszeit eine bedeutende Rolle gespielt und in Seitaro SAWAYANAGI, dem Lehrer ORADAS, einen einflussreichen kolonialpaedagogischen Vorlaeufer gehabt habe. An dieser Debatte um das Selbstverstaendnis Japans als Kolonial- und Zivilisationsmacht, in der sich das Konzept des Vielvoelkerstaates (Integration und Ausloeschung fremder Kultur) und das rassistische Konzept des ‚Alleinvolks` (Ueberlegenheit der japanischen Rasse als ideologische Rechtfertigung der Vernichtung fremder Voelker) gegenueberstanden, versuchte FUJIKAWA den Einfluss eugenischer und rassistischer Stroemungen auf das paedagogische Denken der 30er Jahre nachzuweisen. Dabei deuteten sich zwei weitere Parallelen zu Deutschland an: Zum einen sei das Theorem vom ‚Alleinvolk` von der rassenhygienischen Diskussion und Gesetzgebung im NS-Staat gepraegt worden; zum anderen zeige das Beispiel der japanischen Paedagogik, dass sich auch hier reformpaedagogische Ansaetze "vom Kinde aus" mit eugenisch-rassistischen Stroemungen verbinden liessen.

Der Vergleich der Entwicklung Herman NOHLS zwischen 1918 und 1933 mit den Wendungen der liberalen Paedagogik in Japan zu Beginn der 30er Jahre, wie sie exemplarisch bei Arata OSADA deutlich wurden, liess die Einschaetzung OSADAS als des "japanischen Nohl" (SAKAKOSHI) durchaus plausibel erscheinen. H. ZIMMER ging bei seiner Analyse von NOHLS Verhaeltnis zum Nationalsozialismus von dessen unveroeffentlichter Vorlesung ueber "Die Grundlagen der nationalen Erziehung" aus dem Wintersemester 1933/34 aus, in der der renommierte Interpret der ‚paedagogischen Bewegung` in Deutschland nicht nur seinen individualpaedagogischen Ansatz zugunsten einer zeitgemaessen Staatspaedagogik aufgegeben, sondern obendrein eine rassenhygienische Begruendung der Nationalerziehung vorgelegt hat. ZIMMER deutete diese Entwicklung als Konsequenz eines nationalpaedagogischen und modernekritischen Krisendenkens, das seit 1918 NOHLS Arbeiten zugrunde gelegen und ihn sukzessive, wenn auch nur kurzfristig, an die Seite des Nationalsozialismus gebracht habe.
Im Themenschwerpunkt NS-Paedagogik wurden unterschiedliche Deutungsansaetze vorgestellt sowie die Auseinandersetzung von Erziehungswissenschaftlern mit ihrer Rolle und ihren Erfahrungen im ‚Dritten Reich` behandelt. H.-E. TENORTH ging in seinem Beitrag von der These aus, dass Erziehung im NS als Teil der deutschen paedagogischen Tradition und der erziehungswissenschaftlichen Reflexion der Moderne zu begreifen, dabei allerdings auch die Gleichzeitigkeit von Kontinuitaet und Diskontinitaet zu beachten sei.
Den entscheidenden Differenzpunkt zur paedagogischen Tradition sah er in der Transformation der strukturellen Machtfoermigkeit von Erziehung in eine den NS kennzeichnende "Paedagogik der Gewalt", die er an vier Dimensionen der Schulentwicklung nach 1933 empirisch nachzuweisen versuchte.
G. MILLER-KIPP ging am Beispiel der Hitler-Jugend den originaeren paedagogischen Praxen und emotionalen ‚Angeboten` des Nationalsozialismus nach und fragte nach den Ursachen der Attraktivitaet und Integrationskraft des NS innerhalb grosser Teile der jungen Generation. An der Lagererziehung und den NS-Ausleseschulen arbeitete sie die Elemente eines totalitaer auf den ‚ganzen Menschen` gerichteten Erziehungskonzepts heraus, das allerdings nicht gemaess der propagandistischen These vom ‚Erziehungskreis ohne Luecke` zu fassen sei. Mentalitaetsgeschichtliche Befunde zur Hitlerjugend-Generation ermoeglichten ein differenzierteres Bild der Erfahrungen und Wirkungen von NS-Paedagogik.
Biographisch ansetzend analysierte K. PRANGE aus der Sicht der (seiner) Studentengeneration der 50er Jahre Formen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach 1945 am Beispiel von Paedagogikprofessoren, die in unterschiedlicher Weise involviert und belastet waren: den wertkonservativen Rekurs auf die humanistische Tradition als Antwort auf den als moralische Katastrophe gedeuteten Nationalsozialismus (BLAETTNER); die Infragestellung eben solcher traditionsgewissen Rueckwendung aus der Einsicht in den Zusammenbruch des idealistisch-optimistischen Menschenbildes als Resultat der NS-Epoche (BOLLNOW); schliesslich die umstandslos auf Gegenwartsprobleme gerichtete pragmatische Einfuegung in den Prozess der demokratischen Neuordnung ohne selbstkritische Reflexion der eigenen Karriere im Nationalsozialismus (WILHELM).
Der dritte Schwerpunkt des Symposiums galt dem heutigen Umgang mit der Vergangenheit des Militarismus und Nationalsozialismus, wobei repraesentative Konzepte oeffentlicher Erinnerungsarbeit in beiden Laendern im Zentrum standen. J. YAMANA analysierte die Genese und architektonische Dramaturgie des im Zentrum des Atombombenabwurfs angelegten Friedensparks in Hiroshima. Er deutete ihn als Medium einer Vermittlung von Geschichte und Erinnerung, deren zentrale Elemente (Gebet, Gedenken, Trauer) den sakralisierten historischen Ort mit einer universellen Sinngebung ueberformten und sowohl den Krieg wie auch Japans Rolle als Aggressor verschwinden liessen. K.-P. HORNS korrespondierender Beitrag ueber die Erinnerungskultur im vereinten Deutschland, der sich vor allem auf die im- und expliziten Paedagogiken an Orten oeffentlicher Erinnerung an den Nationalsozialismus konzentrierte, problematisierte die gedenkstaettenpaedagogische Praemisse des "authentischen Ortes" (bei i.d.R. inszenierten Erinnerungsraeumen), die Versuche einer ‚positiven` Identifikation mit den Opfern im Land der Taeter oder die Verschraenkung von Gedenken und Lernen im Konzept der Gedenkstaette als "Lernort".

Das Symposium ergab eine Reihe interessanter und ergiebiger Themenbereiche fuer eine vergleichende japanisch-deutsche Bearbeitung des behandelten Zeitraumes, machte aber neben den sprachlichen Problemen und historischen Wissensluecken auch die semantischen und methodischen Schwierigkeiten sichtbar, die es dabei noch zu ueberwinden gilt. Da diese Arbeit allgemein als sehr lohnend und nicht nur in historischer Sicht eingeschaetzt wurde, soll sie auf einer Folgetagung in Deutschland fortgesetzt werden. Ob es jedoch den deutschen Veranstaltern gelingen wird, die Voraussetzungen fuer eine aehnlich gastfreundliche Atmosphaere zu schaffen, wie sie diese in beeindruckender Weise in Japan erlebt haben, wird sich noch zeigen muessen.
 
 

Erfassungsdatum: 24. 01. 2001
Korrekturdatum: 02. 04. 2004