Autor: | Zimmer, Hasko |
Titel: | Paedagogik im Nationalsozialismus und Militarismus - Erziehung und Verantwortung fuer den Krieg |
Erscheinungsjahr: | 2001 |
Text des Beitrages: |
Das von der DFG und der Japan
Society for the Promotion of Science (JSPS) unterstuetzte Symposium fand
am 31.8. und 1.9.2000 an der Universitaet Hiroshima statt.
Die Tagung befasste sich
mit der Paedagogik und Erziehungswissenschaft beider Laender in der etwa
zeitgleichen Epoche ihrer autoritaer-militaristischen bzw. faschistischen
Regime, deren Verbrechen in Japan noch immer offiziell verleugnet oder
verharmlost werden. Dies wie der Umstand, dass es in der deutschen wie
japanischen Erziehungswissenschaft bisher kaum Versuche gibt, diese nicht
zuletzt paedagogischen Vergangenheiten in vergleichender Perspektive zu
analysieren, konfrontierte das Symposium mit einigen Schwierigkeiten: Fuer
die deutschen Teilnehmer stellten der japanische Militarismus (ca. 1930-1945)
und die Paedagogik dieser Epoche ein weitgehend unbekanntes Feld dar, in
dem Ansatzpunkte fuer vergleichende Fragestellungen erst herausgearbeitet
werden mussten. Die japanischen Kollegen hingegen fuehrte die Auseinandersetzung
mit dem Militarismus auf ein Gebiet, das auch in der japanischen scientific
community, trotz einiger Veraenderungen in den letzten Jahren, noch immer
als heikel gilt.
In den anschliessenden Vortraegen des Symposiums behandelten Prof. Dr. Heinz-Elmar TENORTH (Berlin): Erziehung und Paedagogik im Nationalsozialismus - Praxis, Reflexion und historisch-erinnernde Analyse. Prof. Dr. Masaki SAKAKOSHI (Hiroshima): Die Paedagogik im militaristischen Japan. Eine Fallstudie ueber die Hochschule fuer Geistes- und Naturwissenschaft Hiroshima (1929-1953) und die Hoehere Lehrerschule Hiroshima (1902-1952). Prof. Dr. Yoichi KIUCHI (Naruto): Das Schicksal der liberalen Paedagogik im modernen Japan: Arata Osada (1887-1961). Dr. Hasko ZIMMER (Muenster): Geisteswissenschaftliche Paedagogik und Nationalsozialismus: Herman Nohl. Prof. Dr. Klaus PRANGE (Tuebingen): Vergessen - verschweigen - verarbeiten. Zur paedagogischen Reaktion auf die Erfahrung der Hitlerzeit bei Fritz Blaettner, Otto Friedrich Bollnow und Theodor Wilhelm. Dr. Nobuo FUJIKAWA (Osaka): Paedagogik zwischen Vernichtung fremder Kulturen und fremder Rassen. Zur Paedagogik von Seitaro Sawayanagi. Prof. Dr. Gisela MILLER-KIPP (Duesseldorf): Erziehung im Nationalsozialismus: Grundsaetze und Formen, Absichten und Wirkungen und das Beispiel Hitler-Jugend. Dr. Jun YAMANA (Tokyo): Behaelt die Stadt Hiroshima den Zweiten Weltkrieg im Gedaechtnis? Bemerkungen zur raeumlichen Analyse des Friedensparks Hiroshima. Dr. Klaus-Peter HORN (Berlin):
Authentizitaet und Symbolisierung, Identifikation und Identitaet, Gedenken
und Lernen.
Im Themenblock, der sich mit Erziehungswissenschaftlern beider Laender aus der ersten Haelfte des 20. Jahrhunderts befasste, skizzierten M. SAKAKOSHI am Beispiel von Fachzeitschriften der 30er Jahre und Y. KIUCHI am Beispiel Arata OSADAS die Rolle und Positionen fuehrender akademischer Paedagogen Hiroshimas in der Zeit des Militarismus. SAKAKOSHI stellte Tendenzen politisch-ideologischer Anpassung dar und betonte die legitimatorische Funktion deutscher zeitgenoessischer Philosophen und Paedagogen in diesem Zusammenhang. Seit den 20er Jahren sei in Japan die Geisteswissenschaftliche Paedagogik in ihrer Gestalt als philosophisch fundierte Kulturpaedagogik breit rezipiert worden und im Zuge der paedagogischen Wende vom Subjekt zu Volk und Nation, die zu diesem Zeitpunkt von fuehrenden Repraesentanten beider Disziplinen vollzogen wurde, ein bedeutender Bezugspunkt geblieben. Dieser und weitere Befunde - z. B. die wachsende Kritik am Individualismus, Liberalismus und Intellektualismus der japanischen Paedagogik in den 20er Jahren, die nationalistische Umorientierung auf den japanischen "Volksgeist" und das Kaisertum, mit der Japans Oeffnung zum Westen seit der Meiji-Restauration rueckgaengig gemacht werden sollte - liessen ueberraschende Parallelen zur deutschen Entwicklung erkennen. Y. KIUCHI bestaetigte anhand der Wandlung der einst liberalen individualpaedagogischen Position des Pestalozzi-Spezialisten A. OSADA zu voelkischen und staatspaedagogischen Konzepten in den 30er Jahren solche Tendenzen, hob allerdings auch Differenzen zum mainstream hervor, die er an Osadas Kritik am Antiintellektualismus und moralpaedagogischen Irrationalismus festmachte. N. FUJIKAWA erinnerte an einen kolonialpolitisch-staatstheoretischen Diskurs, der in der Paedagogik der Kriegszeit eine bedeutende Rolle gespielt und in Seitaro SAWAYANAGI, dem Lehrer ORADAS, einen einflussreichen kolonialpaedagogischen Vorlaeufer gehabt habe. An dieser Debatte um das Selbstverstaendnis Japans als Kolonial- und Zivilisationsmacht, in der sich das Konzept des Vielvoelkerstaates (Integration und Ausloeschung fremder Kultur) und das rassistische Konzept des ‚Alleinvolks` (Ueberlegenheit der japanischen Rasse als ideologische Rechtfertigung der Vernichtung fremder Voelker) gegenueberstanden, versuchte FUJIKAWA den Einfluss eugenischer und rassistischer Stroemungen auf das paedagogische Denken der 30er Jahre nachzuweisen. Dabei deuteten sich zwei weitere Parallelen zu Deutschland an: Zum einen sei das Theorem vom ‚Alleinvolk` von der rassenhygienischen Diskussion und Gesetzgebung im NS-Staat gepraegt worden; zum anderen zeige das Beispiel der japanischen Paedagogik, dass sich auch hier reformpaedagogische Ansaetze "vom Kinde aus" mit eugenisch-rassistischen Stroemungen verbinden liessen. Der Vergleich der Entwicklung
Herman NOHLS zwischen 1918 und 1933 mit den Wendungen der liberalen Paedagogik
in Japan zu Beginn der 30er Jahre, wie sie exemplarisch bei Arata OSADA
deutlich wurden, liess die Einschaetzung OSADAS als des "japanischen Nohl"
(SAKAKOSHI) durchaus plausibel erscheinen. H. ZIMMER ging bei seiner Analyse
von NOHLS Verhaeltnis zum Nationalsozialismus von dessen unveroeffentlichter
Vorlesung ueber "Die Grundlagen der nationalen Erziehung" aus dem Wintersemester
1933/34 aus, in der der renommierte Interpret der ‚paedagogischen Bewegung`
in Deutschland nicht nur seinen individualpaedagogischen Ansatz zugunsten
einer zeitgemaessen Staatspaedagogik aufgegeben, sondern obendrein eine
rassenhygienische Begruendung der Nationalerziehung vorgelegt hat. ZIMMER
deutete diese Entwicklung als Konsequenz eines nationalpaedagogischen und
modernekritischen Krisendenkens, das seit 1918 NOHLS Arbeiten zugrunde
gelegen und ihn sukzessive, wenn auch nur kurzfristig, an die Seite des
Nationalsozialismus gebracht habe.
Das Symposium ergab eine
Reihe interessanter und ergiebiger Themenbereiche fuer eine vergleichende
japanisch-deutsche Bearbeitung des behandelten Zeitraumes, machte aber
neben den sprachlichen Problemen und historischen Wissensluecken auch die
semantischen und methodischen Schwierigkeiten sichtbar, die es dabei noch
zu ueberwinden gilt. Da diese Arbeit allgemein als sehr lohnend und nicht
nur in historischer Sicht eingeschaetzt wurde, soll sie auf einer Folgetagung
in Deutschland fortgesetzt werden. Ob es jedoch den deutschen Veranstaltern
gelingen wird, die Voraussetzungen fuer eine aehnlich gastfreundliche Atmosphaere
zu schaffen, wie sie diese in beeindruckender Weise in Japan erlebt haben,
wird sich noch zeigen muessen.
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Erfassungsdatum: | 24. 01. 2001 |
Korrekturdatum: | 02. 04. 2004 |