Text der Rezension: |
Ausgangspunkt der vorliegenden
Arbeit ist das Interesse der Verfasserin für die Entstehung des Lehrerberufs
im 19. Jahrhundert. Die grundlegende These ihrer Berliner Habilitationsschrift
besteht darin, daß Lehrervereine nicht nur traditionsreiche Organisationen
zur Vertretung von Standesinteressen waren, sondern daß sie auch
- wie die Geschichtsschreibung der Lehrervereine selbst immer schon behauptete
- eine gewichtige Rolle bei der Professionalisierung gespielt haben, indem
sie auch Ort der Lehrerbildung waren, die bisher aber weitgehend aus staatlicher
Perspektive beschrieben wurde.
Bis in die Gegenwart wird
bei der Behandlung der Entstehung des Lehrerberufs mit dem Begriff der
Professionalisierung operiert. In ihrer Einleitung setzt sich die Verfasserin
ausführlich mit der theoretischen Diskussion um dieses Konzept auseinander.
Sie referiert zutreffend die Differenz zwischen dem in der Geschichtswissenschaft
vorherrschenden sozialgeschichtlich-strukturellen Modell (das auf die harten
Kriterien für "Professionen" pocht) und dem Konzept in der Erziehungswissenschaft,
dem es vornehmlich um die Handlungskompetenz des Lehrers geht. Sie selbst
bevorzugt den Begriff der Verberuflichung als "Ausdifferenzierung einer
spezialisierten Tätigkeit aus `multifunktionalen` oder `nebenberuflichen`
Positionen" (S. 14 f.). Als Kriterien dieser Verberuflichung benennt Kemnitz
die spezifische Ausbildung der im Beruf Tätigen, deren innerberufliche
Selbstverständigung (kollektives Selbstbewußtsein), ihre soziale
und materielle Absicherung und Anerkennung sowie die Institutionalisierung
eines eigenständigen Berufsfeldes. Damit lasse sich der Wandel vom
"Schulehalten" zu moderner Lehrertätigkeit ausreichend beschreiben.
Eine Neubewertung
von Teilaspekten der Lehrervereinsbewegung läßt sich nur aufgrund
von regionalen oder lokalen Untersuchungen rechtfertigen. Indem sich die
vorliegende Arbeit einem Berliner Lehrerverein zuwendet, liegt sie in einem
allgemeinen Trend, der allgemeine Thesen zur Geschichte des Lehrerberufs
am Einzelfall prüft. So ist es der Verfasserin auch möglich,
Vergleiche mit Lehrervereinen in anderen Orten anzustellen. Ziel der Arbeit
ist es zu beschreiben, wie die Lehrer der Berlinischen Schullehrergesellschaft
sich zu Verberuflichung verhielten und welche Aktivitäten sie entfalteten.
Der Hauptkorpus der Arbeit
ist in zwei Teile gegliedert. In einem ersten Durchgang beschreibt Kemnitz
die Geschichte und die Tätigkeit der Berlinischen Schullehrergesellschaft
in der Zeit von 1813 bis 1892. Zunächst wird der Kontext des starken
quantitativen und qualitativen Wachstums des Berliner Elementarschulwesens
und seine Kommunalisierung dargelegt. Besonders interessant sind die Ausführungen
zur Berliner Lehrervereinslandschaft überhaupt, da die starken Standesorganisationen,
die man vom Ende des 19. Jahrhunderts kennt, die Vielfalt solcher Organisationen
oft vergessen lassen.
Die Berlinische Schullehrergesellschaft
entstand 1813 auf Drängen Natorps, der die Bildung der Lehrer heben
wollte und anfangs auch einen Zuschuß zahlte. Die erste Zeit war
von starker (fast täglicher) Tätigkeit geprägt, die sich
bald auf einem etwas niedrigeren Niveau stabilisierte. Man arbeitete als
Lehrerschule und Bildungszirkel. Mitglieder waren Lehrer und Geistliche,
letztere stellen gemeinsam mit den Schulvorstehern die maßgebenden
Vorstandsmitglieder. Hier und für die spätere Zeit stellt die
Verfasserin diese für den Verein bedeutenden Personen auch näher
vor. Einer der Vorsitzenden, ein Geistlicher, der gleichzeitig für
die Schulaufsicht zuständig und also Vorgesetzter war, prägte
den Verein 24 Jahre lang.
Auch unter
dem Einfluß von Diesterwegs Wirken in Berlin und im Verein änderte
der Verein ab 1835 seinen Charakter, indem man größeren Abstand
vom Staat gewann und andererseits zu nur noch monatlichen Treffen überging,
die mit einer Mahlzeit verbunden wurden. Damit hielt die Geselligkeit Einzug,
die jedoch in der Hauptsache einem konkurrierenden Verein überlassen
blieb. In den vierziger Jahren nahm der Verein an der allgemeinen Entwicklung
teil, erlebte die Pestalozzifeiern und die Revolution. Die emanzipatorischen
Bestrebungen kamen wirksam besonders in Petitionen sowie der Gründung
von Kassen und Stiftungen zum Ausdruck. Das war auch von einem Anwachsen
der Mitgliedschaft, einem steigenden Anteil einfacher Lehrer und von einem
Generationenwechsel begleitet. Diesterweg dominierte den Verein, jedoch
nicht ohne Differenzen wegen seiner relativen Radikalität (besonders
in Fragen des Gewichts und des Stoffs des Religionsunterrichts).
Die gescheiterte
Revolution von 1848/49 bedeutete keine Maßregelung des Vereins, wichtiger
war das stark steigende Alter seiner Mitglieder und das Ausbleiben junger
Lehrer. Kennzeichnend war jedoch das Ausscheiden Diesterwegs aus der Vereinsarbeit
und das Fehlen von politischen Kontroversen. Gleichzeitig begann sich die
materielle Lage der Lehrerschaft zu bessern. Vereinsneugründungen
und die Einführung amtlicher Lehrerkonferenzen waren der Berlinischen
Schullehrergesellschaft auch kaum zuträglich. So stand der Verein
nicht mehr im Zentrum der Diskussionen der Berufsgruppe. Dennoch fanden
weiter die monatlichen Versammlungen statt, auf denen - wenn auch intern
- zuweilen heftige Auseinandersetzungen stattfanden. In dieser Zeit verschwinden
die Geistlichen aus der Mitgliedschaft des Vereins.
Nach der Fünfzigjahrfeier
1863 änderte sich im Verein nichts mehr. Er schloß sich ganz
von den aktuellen Diskussionen und den jüngeren Lehrern ab, behielt
aber seine Sitzungen bei. Dementsprechend dominierte im Verein die ältere,
gehobene Volksschullehrerschaft. Als Altherrenkreis hat der Verein auch
noch Jahre nach dem Ende seiner Protokolle im Jahre 1892 existiert.
Die genannten
Protokollbücher sind die Quellengrundlage für den zweiten Teil
von Kemnitz` Arbeit. Deren Erhaltung muß als ein relativ seltener
Glücksfall angesehen werden. Bevor die Verfasserin die Themen der
dort protokollierten Vorträge auswertet, untersucht sie jedoch die
in der ersten Phase der Vereinsgeschichte entstandene und später wieder
abgestoßene Bibliothek. Sie enthielt die für die Zeit repräsentativen
und nützlichen Werke und blieb diesbezüglich und in ihrem Umfang
im Rahmen des in Deutschland Üblichen. Versuche systematischer Theoriebildung
waren dabei für die Lehrer nicht interessant, sie bildeten eigene
Relevanzkriterien aus den Bedürfnissen ihres alltäglichen Lehrerhandelns.
Es bleibt aber unklar, wie intensiv die Bibliothek von den Mitgliedern
benutzt wurde.
Die Analyse
der Vortragsthemen stützt die These, der Verein sei in seiner ersten
Phase Lehrerschule gewesen. Im Vordergrund standen nämlich Themen
der Didaktik und der einzelnen Schulfächer. Am stärksten theoretisch
sind noch die Überlegungen über Begriff und Aufgabe der Volksschule.
Auch hier vergleicht die Verfasserin mit anderen Berliner und auswärtigen
Vereinen.
Insgesamt gelingt es Kemnitz
überzeugend darzulegen, daß die Berlinische Schullehrergesellschaft
besonders in ihrer ersten Phase eine bedeutende Rolle für die Lehrerbildung
spielte und damit die Verberuflichung der Lehrertätigkeit im Verein
voranbrachte. Richtig betont sie das Gewicht der Lehrervereine für
den innerberuflichen Selbstverständigungsprozeß. Gleichzeitig
wird klar, daß Vereine von Lehrern historisch verschiedene Funktionen
ausfüllen und das es so etwas wie einen Lebenszyklus von Vereinen
gibt. Die Verfasserin leistet somit einen bedeutenden Beitrag zur Differenzierung
des Bildes von den Lehrervereinen des 19. Jahrhunderts.
Dennoch stellen
sich nach der Lektüre einige Fragen: Die Auswertung der Vereinsprotokolle
und von zahlreichen Verwaltungsquellen ist vorbildlich - aber welches Gewicht
hat die Pädagogische Presse der Zeit? Sie ist angeführt - doch
vermißt man einen Hinweis darauf, daß und warum der behandelte
Verein dort eine so geringe Rolle spielte. Weiter: Kemnitz vergleicht die
Berlinische Schullehrergesellschaft mit Lehrervereinen in Nürnberg,
Hamburg und Lübeck - das ist neu, doch handelt es sich durchweg um
protestantische und tendenziell norddeutsche Vereine. Inwieweit sind die
Ergebnisse des Vergleichs dann repräsentativ? Und was ergäbe
ein internationaler Vergleich? Allerdings liegen für diesen Vergleich
kaum Vorarbeiten vor. Schließlich kann der Rezensent nicht verhehlen,
daß ihm die Bildungsrolle der amtlichen Konferenzen doch zu pauschal
behandelt erscheint. Hier wäre eine detailliertere inhaltliche Auseinandersetzung
erhellend gewesen.
Das alles verkleinert
den Verdienst der vorliegenden Arbeit nicht. Es handelt sich um einen wichtigen
Schritt zu besserer Kenntnis des Lehrervereinswesens und zur Erforschung
der Entstehung des modernen Lehrerberufs.
|