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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Winkler, Michael
Rezensiertes Werk: Alfred K. Treml: Klassiker. Die Evolution einflussreicher Semantik. - Sankt Augustin: Akademia Verl. - Bd. 1. Theorie. - 1997. - 195 S. ISBN 3-89665-39-4 ; Bd. 2. Einzelstudien. - 1999. - 205 S. ISBN 3-89665-047-5 ; Klaus-Peter Horn / Christian Ritzi (Hrsg.): Klassiker und Außenseiter : pädagogische Veröffentlichungen des 20. Jahrhunderts. Baltmannsweiler: Schneider Verl. Hohengehren, 2001. - 224 S. ISBN 3-89676-482-9
Erscheinungsjahr: 2003
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Prof. Dr. Michael Winkler
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Erziehungswissenschaften
07740 Jena 

Text der Rezension:
 

Es gibt Themen, die offensichtlich (und eigentlich wider Erwarten) den Nerv von Disziplinen treffen, zumindest aber einiges über ihre mentale Verfasstheit aussagen. Sie verraten mithin etwas über kollektiv geteilte Syndrome. Die Frage nach den "Klassikern der Pädagogik" gehört hierzu: Mehr als hundert Jahre schien sie in der (mehr oder weniger) akademischen Pädagogik des deutschsprachigen Raums unproblematisch, sozusagen der Frage gar nicht wert. Gleich ob man dem herbartianischen Paradigma zuneigte oder später dem der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, ob man Neukantianer oder Empiriker war, es war doch völlig selbstverständlich, dass man sich der Klassiker seiner eigenen Disziplin zu vergewissern habe oder diese wenigstens in den Bücherschrank als Symbol der Zugehörigkeit zu stellen habe. Noch mehr traf dies wohl für die Professionsmitglieder zu, mithin für die Lehrer, die durch ganze Reihen pädagogischer Klassiker einen Status wenigstens behaupten konnten, der ihnen faktisch und lebensweltlich wahrscheinlich sogar fehlte. Sie konnten mit ihrer Bibliothek pädagogischer Klassiker demonstrieren, dass und wie sie wenigstens über die einschlägigen Kategorien und vielleicht Systeme verfügten; vermutlich haben sie auch auf diesem Wege ihr Berufsethos gleichsam materialisiert. Eine Vielzahl von offensichtlich erfolgreich auf dem Markt platzierten, viele Titel umfassenden einschlägigen Reihen belegt jedenfalls diese Selbstverständlichkeit, ohne auch nur ein Urteil darüber zuzulassen, ob die zwischen Buchdeckeln eingefangenen Klassiker irgendeine maßgebliche Bedeutung für die berufliche Praxis hatten. Für die (protodisziplinären) Diskussionszusammenhänge war diese wohl unstrittig, weil die Texte in der Tat Referenzgrößen bildeten. Die Vielzahl von pädagogischen Theoriegeschichten belegt dies nachdrücklich, wie sie seit Beginn des 20. Jahrhunderts erschienen sind, häufig genug in der seltsamen Spannung zwischen Hagiographie oder gar Monumentalismus und dem Versuch, Erkenntnis zu vermitteln. 

Man täuscht sich sogar, wenn man hierin einen Ausdruck der - etwa von Georg Bollenbeck (1994) dargestellten - spezifisch deutschen Geisteslage sehen will, nach welcher Kultur und Bildung durch die Zurschaustellung von Literatur demonstriert wurden. Denn auch die amerikanischen Lehrervereine wie entsprechende Diskussionen in vergleichbaren Organisationen Englands stützten sich auf Autoren, die in den "education series" der einschlägigen Verlage vorgestellt wurden, in Deutschland aber eben als "Klassiker" bezeichnet und zitiert worden wären bzw. auch tatsächlich so gelesen worden sind. Obwohl im englischsprachigen Raum auf diesen Ausdruck und die mit ihm vordergründig verbundenen Verehrungspraktiken verzichtet wurde, ähnelt sich das Rezeptionsverhalten weitgehend; heute spricht man dann von "key authors" oder von "classical texts". Dabei richtete sich jenseits des großen Teichs die Aufmerksamkeit auch auf Autoren, die im deutschen Sprachraum (zu Unrecht) vergessen wurden. So erlebte etwa das von Karl Rosenkranz geschriebene Werk "Die Pädagogik als System" mehrere Auflagen in englischer Sprache. 

Jedenfalls lässt sich wenig Aufregung konstatieren, wenn man unter "Klassikern" schlicht jene Autoren und Texte mit Lehrbuchcharakter begreift, die als konventionell verbindlich oder als relevant gelten, um Bedeutsames und sogar Wichtiges zum eigenen Geschäft zu erfahren, seien es grundlegende Reflexionsformen, Kategorien oder auch systematische Entwürfe des Denkens einerseits, Einsichten und Erkenntnisse, mithin Wissen andererseits. Andere Disziplinen (und sogar Professionen) hadern hier mit deutlich weniger Schwierigkeiten, als Erziehungswissenschaftler und Pädagogen dies tun. In der Philosophie gehört die Auseinandersetzung mit den entscheidenden Autoren und Texten schlicht zur Normalität. Man mag im Einzelfall den einen oder anderen für einen Wirrkopf halten, kennen muss man ihn dennoch, um sich wenigstens begründet distanzieren zu können. Nicht minder nimmt die der Erziehungswissenschaft benachbarte Soziologie selbstverständlich Bezug auf Kategorien und theoretische Systeme, die von ihren Klassikern formuliert worden sind; Luhmann hätte ohne den Bezug auf Parsons und Durkheim nicht schreiben, vielleicht sogar nicht einmal so denken können, wie er denn gedacht hat. Unterstellt wird dabei, dass sich in den grundlegenden Texten mithin die Beschreibungen von Wirklichkeiten, Analysen, Deutungen und Erklärungen finden, welchen man sich nicht entziehen kann, will man nicht den Ruf als ordentliches Mitglied seiner Disziplin gefährden. 

Für die wissenschaftliche Pädagogik geht es insofern bei ihren Klassikern um Überlegungen und Befunde dazu, was Erziehung und Bildung in der Sache auszeichne (einschließlich jener Weisheit, dass dies so einfach und überhistorisch nicht festzuhalten ist), welche Bedingungen für sie gegeben sein müssen sowie welche Strukturen und Momente in ihr zu erkennen oder zu erfahren sind. Dabei mag manches verschlüsselt auftreten, kodiert durch Darstellungsformen, welche als Art und Weise der Präsentation selbst Anlass zum Nachdenken geben müssen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass pädagogische Einsichten oft genug weniger szientifisch und mehr literarisch verpackt sind. Denn das Wissen um eine Praxis, die kaum experimentell zu wiederholen ist, sondern - um es paradox zu formulieren - mit regelmäßiger Kontingenz einhergeht, lässt sich vermutlich weder in abstrakt systematisierte Entwürfe noch in Standardforschungsberichte packen. Nicht minder plausibel scheint auch, dass man in manchen Texten mehr lernen kann als in anderen. Sie bieten dann die - mit Herbart gesprochen - besseren, schärferen Brillen. Endlich entdeckt man zuweilen auch Texte, die das Prädikat "klassisch" verdienen, obwohl man sich nicht sicher sein kann, dass dem auch die Zunft folgen wird.

Langer Vorrede kurzer Sinn: All dies war wohl den Älteren der wissenschaftlichen Pädagogik einigermaßen vertraut. An Hans Scheuerls "Klassiker der Pädagogik" schieden sich keine Geister, höchstens murmelten der Eine oder die Andere Kritisches zur Auswahl und monierten Unterlassungssünden. Erst in jüngerer Zeit scheint Unbehagen über die Klassiker entstanden zu sein, vielleicht als eine Art nach-revolutionärer Affekt gegenüber dem bildungsbürgerlichen Gestus, mit welchem die Klassikerfrage einigermaßen souverän und insofern unachtsam, vor allem aber wohl hinreichend gelassen und unaufgeregt behandelt worden ist. Dieses Unbehagen lässt sich als Auslöser für die beiden von Alfred Treml vorgelegten Bände "Klassiker. Die Evolution einflussreicher Semantik" vermuten. Denn prima facie vermittelt eine erste Lektüre den Eindruck, dass Treml sich geradezu an einer Verärgerung abarbeitet, die ihn zu energischer Konsequenz treibt. In Stil und Ton wirken beide Bücher, der Band zur "Theorie" ganz besonders, schroff und zugleich so entschieden, dass man selbst das Gefühl hat, kleinlaut zugeben zu müssen, schon allein der Gedanke an "pädagogische Klassiker" sollte einem als Ausdruck mangelnden Problembewusstseins und Reflexionsniveaus besser peinlich sein.

Dieser Eindruck entsteht, weil Treml den Anspruch erhebt, eine schlüssige Theorie vorzulegen, die uns erklärt, wie "Klassiker" entstehen. Er greift dabei auf die Instrumentarien einer systemtheoretisch geläuterten Evolutionstheorie zurück, mit welcher er aufzeigt, wie in Kommunikationszusammenhängen Autoren durch Erfolg ausgewählt (Selektion) und insofern auf Dauer (Erfolg) gestellt werden. Der Ansatz soll und will mit den Gefährnissen von Hermeneutik nichts zu tun haben, wobei er im Unklaren lässt, worauf er sich eigentlich bezieht. Geht es um Kommunikation, dann müsste das Interesse eigentlich Texten oder auch Symbolzusammenhängen gelten; es müsste um Äußerungen gehen, weil die Personen oft genug in den Hintergrund treten, um dann allerdings in der Explikation des Sinngehalts zuweilen wieder Gewicht zu gewinnen. Treml lässt dies eher im Ungefähren, so dass man "Klassiker" als bloßen Mechanismus eines Kommunikationssystems lesen muss, unter dem man substantiell sich allerlei vorstellen kann. Die Untersuchung gilt also den Prozessen, nach welchen Favoriten und Außenseiter, für wichtig und bedeutsam gehaltene "Sinnkonstrukte" - das meint wohl "Semantik", obwohl das in den Bänden ebenfalls so recht nicht klar gemacht wird - von jenen unterschieden werden, die solches Glück nicht hatten. Nüchtern betrachtet lautet dann die Antwort auf die Frage nach der Entstehung von Klassikern, dass dies kontingent geschehe, letztlich nur durch Beharrlichkeit in der Zeit zu erklären sei (vgl. a, S. 42). Zum Klassiker werde demnach, wer als Klassiker gilt und nicht in Vergessenheit gerate; ihre - so Treml mit Verweis auf Odo Marquardt - "Kompetenz gründet darin, daß sie übrig geblieben sind" (a, S. 44) und risikolos zitiert werden können. (Nebenbei und ein wenig lebensweltlich gesprochen muss man allerdings daran erinnern, dass ein falsches oder falsch zugeordnetes Klassiker-Zitat allerdings für ordentliche Blamage wenigstens in manchen Kreisen noch sorgen kann.)

All dies klingt eigentlich trivial, kontrastiert auch einigermaßen dem Anspruch auf eine umfassende Theorie. Vielleicht sollte man sogar beide Bände gegen ihren Autor in Schutz nehmen. Zwar irritiert die Chuzpe, mit der dieser schlicht beiseite schiebt, was an Interpretationstheorie und Rezeptionshermeneutik inzwischen zur Verfügung steht, was nicht zuletzt auch im Blick auf die Kontexte untersucht worden ist, aus welchen Texte ihre Inhalte wie auch ihre Formbestimmungen gewonnen haben und gewinnen; es verblüfft schon, wie doch eine Fülle literaturwissenschaftlicher, aber auch sozialwissenschaftlicher Befunde einfach zur Seite geschoben werden, als ob es sie nicht gäbe. Vielleicht muss man sogar schlicht ignorieren, dass Treml einige Bestimmungen eher unsauber und prätentiös verwendet: Wenn er sich über die Verehrung für Klassiker mokiert, können doch unterschiedliche Sachverhalte gemeint sein, blinde Status-Zuschreibung wie andererseits Achtung vor einer theoretischen Leistung. Dass Klassiker mit der "Aura des Nie-ganz-Verstehbaren" umgeben seien, "die von ihrer oft eigenwilligen und sehr abstrakten Semantik ausgeht" (a, S. 94) provoziert mindestens die Überlegung, ob nicht "Eigenwilligkeit" einigermaßen unvermeidlich wichtige neue Einsichten auszeichnet und "Abstraktion" zu jeder Erkenntnis gehört. In solchen Passagen bestätigt sich jedenfalls der Eindruck, dass Treml ein Ärgernis bewältigen wollte, das ihn dann zu mancher Denunziation verführt hat.

Gleichwohl: Liest man seine Theorie als eine Untersuchung des angesprochenen Problems, warum manche Texte eben nicht zu Klassikern werden, dann gewinnt man ein durchaus aufregendes Erklärungsmodell, zumindest ein kritisches Instrumentarium, das man in Anwendung bringen sollte, bevor man sich auf inhaltliche Diskussionen von sogenannten Klassikern einlässt. Durch Treml aufgeklärt, muss man sich in der Tat fragen, ob der eine oder andere Text in der Sache das Gewicht verdient, das ihm zugeschrieben wird; vielleicht war es kaum mehr als Zufall, dass einer bedeutungsvoll geworden ist. Insofern hat die von Treml vorgelegte Theorie in jedem Falle eine durchaus diätetische Wirkung gegenüber allzu viel Sinn- und Heilserwartung, die mit Klassikern verbunden werden. Er mahnt zur Respektlosigkeit, erhofft sich sogar eine "Erziehung zum respektlosen Umgang mit den Abenteurern des menschlichen Geistes, die wir ‚Klassiker` nennen (a, S. 140). Erstaunlicherweise schreibt er sogar genau dies den Klassikern als ihr "vornehmstes Ziel" zu, nicht Imitation zu verlangen, sondern für Irritation zu sorgen (ebd.). Bleibt die Frage: Könnte es sein, dass zum Klassiker wird, wer das Denken am stärksten irritiert? Nur: Genau diese, durch Treml selbst angeregte Frage, provoziert den Zweifel daran, dass seine Theorie stimmt, und legt nahe, doch nach inhaltlichen Kriterien zu fragen.

Einiges spricht jedenfalls dafür, dass sich Treml selbst, ganz entgegen des einigermaßen arroganten Auftritts seiner Theorie, gar nicht so sicher ist. Schon äußerlich zeigt sich dies darin, dass wenigstens dem Theorie-Band die Geschlossenheit fehlt, welche billigerweise bei einem solchen Unternehmen zu erwarten wäre. Insgesamt 54 kurze Kapitel beschreiben in der Art phänomenologischer Miniaturen die Erfahrungen, welche man so gemeinhin mit Klassikern macht. Ohne große Hintergrundtheorie gelesen finden sich hochgradig inspirierende, aufschlussreiche, in guter aphoristischer Tradition präsentierte Beobachtungen. Die Arbeit an den, wie Treml sie einmal andernorts genannt hat, "Königen der Fußnote" lässt ihn zu einem Meister von scharfsinnigen und prägnanten Formeln werden, die man sich allesamt notieren möchte, um sie künftig in Streitgesprächen parat zu haben. 

Dennoch bleibt der Anspruch auf Theorie bestehen. Das systematische Dilemma liegt wohl darin, dass Treml für seine Überlegungen fundamental von inhaltlichen Dimensionen klassischer Texte absehen will. Der Rekurs auf "Semantik" und die Einschränkung der Erklärungsperspektive auf diese geschehen um den Preis, dass die Möglichkeit einer Denotation ebenso ausgeschlossen wird wie die, dass die Texte um ihrer inhaltlichen Funktion Dauerhaftigkeit und insofern Klassizität gewinnen. So kann gar nicht geprüft werden, ob Texte in Geltung bleiben, weil sie entscheidende Einsichten und Erkenntnisse über pädagogische Wirklichkeit transportieren und vermitteln. Ihr propositionaler Gehalt tut, folgt man Treml, nichts zur Sache. Paradoxerweise operiert er allerdings selbst immer wieder mit Rückgriffen auf solche inhaltlichen Dimensionen. Klassiker wären demnach "Meister des Fragens", aber nicht unbedingt des Antwortens; es seien die von ihnen aufgeworfenen "Problemstellungen" (a, S. 54), welche ihnen die Anerkennung verschaffen. Damit nimmt Treml implizit, übrigens ohne Verweis, eine Kritik an bio-doxographischen Zugängen auf, die Wolfgang Sünkel einmal harsch, aber zurecht geäußert hat. Zugleich macht er deutlich, dass es nicht die Kontingenz des Erfolges ist, die den Klassikern zu ihrer Stellung verhilft, sondern die von ihnen ausgehende Anregungskapazität. Er steigert dies sogar noch mit der Vermutung, dass sie uns zur Einsicht in uns selbst verhelfen. Treml will nicht ausschließen, "dass wir über die Rekonstruktion dominanter Motive der einflussreichen Semantik uns selbst besser verstehen lernen" (a, S. 172) - wobei auch hier wieder unklar bleibt, wen er denn eigentlich mit dem "uns" so meint.

Letztlich löst Treml seinen Theorieanspruch kaum ein. Sieht man jedoch ab von dem rhetorischen Duktus der Argumentation, kann man beide Bände als anregend genießen und sich durch sie belehren lassen. Das gilt ganz besonders für die sechs Einzelstudien des zweiten Bandes zu Comenius, Leibniz, Rousseau und Kant, Goethe und Steiner, die in bester Tradition von Klassiker-Studien stehen, die Systeme und Denkansätze kritisch erläutern und analysieren. Für sie gilt übrigens ganz empirisch, dass sie der Hintergrundtheorie kaum bedürfen - in der Mehrzahl hatte Treml sie schon früher veröffentlicht: Die Studie zu Leibniz leistet geradezu Pionier-Arbeit, da Leibniz in der erziehungswissenschaftlichen Debatte bisher nur unzureichend berücksichtigt wurde. Überraschen muss allerdings, dass sein Beitrag zum enzyklopädischen Denken unterbelichtet bleibt, obwohl er unter Gesichtspunkten einer Bildungstheorie vermutlich eminente Bedeutung hat. Kritisch wird man freilich für den gesamten zweiten Band vermerken, dass Kontextualisierungen nicht vorgenommen werden, weder für den Entstehungszusammenhang der Texte wie vor allem für ihre jeweilige Rezeption. Unter dem Gesichtspunkt der erfolgreichen Semantik wäre aber genau diese zu prüfen, freilich als ein empirisches Projekt, das mit einer Fülle von Tücken aufwartet.

Deutlich wird dies an dem von Klaus-Peter Horn und Christian Ritzi herausgegebenen Band (c) "Klassiker und Außenseiter. Pädagogische Veröffentlichungen des 20. Jahrhunderts". Wer sich durch Tremls Untersuchungen durchgearbeitet hat, wird zunächst mit einiger Dankbarkeit wahrnehmen, dass sie keine große Theorie vorlegen, vor allem den Objektbereich auf die Beobachtung von Büchern einschränken: Welche Texte als "Klassiker" gelten müssen, geht dabei auf ein empirisches Projekt zurück, in welchem Ingrid Gogolin, Klaus-Peter Horn, Christian Ritzi und Uwe Sandfuchs Angehörige der Erziehungswissenschaft darum gebeten hatten, die pädagogisch wichtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts zu nennen. Die Rücklaufquote führte dazu, dass das Ergebnis nicht unbedingt als repräsentativ gelten darf; zudem erinnert Horn daran, dass zu einem anderen Zeitpunkt die Auswahl anders ausgefallen wäre. (Der Rezensent kann allerdings von einer eigenen, im Rücklauf sogar besser gesicherten Untersuchung die Ergebnisse durchaus bestätigen.) Klaus-Peter Horns eigener Beitrag (c, S. 23-49) darf jedenfalls nicht nur als eine zwar auf das beschriebene Projekt akzentuierte, aber zugleich doch kluge Einführung in die Verfahrensweise einer empirischen Wissenschaftsforschung gelesen werden. Vielmehr macht er deutlich, wie das Problem der pädagogischen Klassiker mit ihren Mitteln zwar entdramatisiert werden kann, ohne dass jedoch der mögliche Erkenntnisgehalt solcher Bücher sofort dementiert wird. Im Gegenteil: Die Studien zeigen sehr wohl, dass und wie die Zunft an ihren Klassikern gelernt hat.

Die Einzelbeiträge des Bandes stellen dazu die zehn Favoriten vor, wie sie durch das Abstimmungsverhalten der Befragten in eine Reihung gebracht wurden: Ingrid Lohmann (c, S. 51-63) präsentiert Bernfelds "Sisyphos", der überraschend, aber doch nicht unerwartet auf den ersten Rang der Abstimmung kam. Andreas von Prondczynsky (c, S. 65-85) stellt Deweys "Demokratie und Erziehung" in einem subtilen, im Blick auf die faktisch unterbliebene Rezeption des gleichwohl für die Zunft als so wichtig geltenden Buches sorgfältig recherchierten wie theoretischen reflektierten Beitrag vor. Aufs Ganze gesehen darf dieser als die sorgfältigste Studie gegenüber allen anderen Beiträgen hervorgehoben werden, weil sie zugleich auch philologische und textkritische Dimensionen aufnimmt, um so gegenüber der zuweilen naiven Rezeption von Deweys Werk die durchaus eigentümlichen Implikationen seines Denkens aufzuzeigen. Eva Matthes (c, S. 87-101) behandelt Litts "Führen oder Wachsenlassen", bleibt dabei sehr nahe am Text; vielleicht ist sie zu vertraut mit Litt, um davon überrascht zu sein, dass das Buch noch heute immer wieder so faszinieren kann, wie es dies offensichtlich tut. Margret Kraul (c, S. 105-126) schreibt über Herman Nohls "Die pädagogische Bewegung", ohne die Schwierigkeiten zu verhehlen, welche dieses Buch einer kritischer Beobachterin unvermeidlich verschafft. Hans-Georg Herrlitz (c, S. 127-138) stellt die von Heinrich Roth für den Deutschen Bildungsrat herausgegebene Studien "Begabung und Lernen" vor, bleibt angesichts der ungebrochenen Wichtigkeit dieses Werks vielleicht sogar ein wenig zu vorsichtig. Meike Sophia Baader (c, S. 139-155) bietet eine sehr differenzierte Sicht auf Ellen Keys Jahrhundert des Kindes", während Jürgen Zimmer (c, S. 157-170) von der den Autoren vorgegebenen Gliederung abweicht, um Paulo Freires "Pädagogik der Unterdrückten" zum Anlass für einen Essay über diesen zu nehmen, in welchem er sich allerdings dem Beschreibungsobjekt stilistisch geradezu assimiliert. Ein wenig mehr Distanz wäre wünschenswert gewesen. 

Katharina Rutschky (c, S. 171-184) schreibt über Alexander Neills "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung" mit der zu erwartenden Ambivalenz gegenüber der Erziehungswissenschaft und der akademischen Pädagogik; immerhin gesteht sie ihre Überraschung ein, dass das Buch in die Top Ten gekommen ist. Solches widerlegt nämlich ihre dennoch vorgetragene Behauptung, es sei von den Pädagogen "entweder kritisiert oder gänzlich ignoriert" worden (c, S. 181) - eine Aussage, die auf sie selbst zurückfällt, weil sie sich nicht ganz ordentlich vergewissert hat. Allein der Blick in Martin Kamps (1995) kluge Untersuchung über "Kinderrepubliken" hätte sie nämlich schnell eines Besseren belehrt. (Nebenbei: als hübscher Druckfehler in ihrem Beitrag amüsiert, wie aus Reichs "Orgonapparat" ein "Organapparat" wird.) Gernot Barth (c, S. 185-200) stellt die "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer und Adorno vor, die auf den neunten Rang der "pädagogischen Veröffentlichungen" gewählt worden war. Er weist darauf hin, dass die Wirksamkeit dieses Buches vermutlich noch größer war; sie lässt sich nicht einmal durch Zitationsanalysen hinreichend belegen: "Ein Werk muss nicht zitiert werden, gleichwohl kann es aber rezipiert worden sein" (c, S. 197), hält er als eine wichtige Einsicht für die Analyse der Prozesse fest, in der Klassiker kanonisiert werden. Heidemarie Kemnitz (c, S. 201-218) stellt endlich Makarenkos "Pädagogisches Poem. Der Weg ins Lebens vor", wobei ihr die Rezeptionsgeschichte besonders wichtig erscheint und doch - zugegeben: vermutlich aufgrund fehlenden Raumes - nur angedeutet bleibt. Allein die wechselvolle Geschichte der unterschiedlichen Werk-Ausgaben Makarenkos erlaubt fast, einen politisch gefärbten Wissenschaftskrimi zu formulieren. 

Lesenswert sind alle Beiträge, für Studierende als Einführung in Texte, die ihnen nicht erspart werden dürfen, für Wissenschaftler als Anregung, um über die eigentümlichen Wege der Rezeption von Texten nachzudenken, in deren - um noch einmal an Treml zu erinnern - Aura sie selbst sozialisiert worden sind. Was haben diese mit ihren Lesern angestellt, wie haben sie die Gestalt einer Disziplin geprägt? Unbeantwortet bleibt freilich auch hier die Frage, ob und was man aus diesen Texten über den Gegenstand dieser Wissenschaft lernen kann. Warum sie nicht aufgeworfen wird, warum die Texte nicht als Beschreibungen und Analysen und insofern Gegenstandskonstruktionen pädagogischer Wirklichkeit gelesen werden, ist der eigentlich irritierende Befund, den die Klassiker-Debatten allzumal erzeugen. Aber vielleicht ist das mehr ein Problem des Rezensenten als der Rezensierten.

Erfassungsdatum: 15. 01. 2003
Korrekturdatum: 15. 01. 2003