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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Schmid, Pia
Rezensiertes Werk: Johanna Forster/Uwe Krebs (Hg.): Kindheit zwischen Pharao und Internet : 4000 Jahre in interdisziplinärer Perspektive. - Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2001. - 207 S. (Schriftenreihe zum Bayerischen Schulmuseum Ichenhausen, Zweigmuseum des Bayerischen Nationalmuseums ; 21); ISBN 3-7815-1156-1
Erscheinungsjahr: 2003
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Prof. Dr. Pia Schmid
Martin-Luther-Universität Halle
Arbeitsbereich Historische Erziehungswissenschaft
Institut für Pädagogik
Franckeplatz 1, Haus 5
06099 Halle

Text der Rezension:
 

In dem Band sind die Vorträge eines Symposions publiziert, das die Erziehungswissenschaftliche Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg, das Bayerische Nationalmuseum München und die Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung, Dillingen, unter der Leitung von Johanna Forster im Jahr 2000 in Ichenhausen durchführten. In den drei Abschnitten "Historische Perspektiven der Kindheit", "Phylogenetische und ethnologische Aspekte der Kindheit" und "Problemfelder und Lösungsansätze der Gegenwart" werden in insgesamt neun Aufsätzen Forschungen zur Kindheit aus Geschichte, (Entwicklungs)Psychologie, Anthropologie, (Straßen-)Ethnologie, Verhaltensbiologie und Medienwissenschaften vorgestellt. Für die Leserinnen und Leser von HBO sollen vor allem die drei historischen Beiträge vorgestellt werden.

Auf den ersten dieser historischen Vorträge wird im Buchtitel mit "Pharao" (wobei übrigens vom Bild her "Papyrus" oder zur Not auch "Hieroglyphen" passendere und ebenfalls als ägyptisch identifizierbare Korrelate zum "Internet" abgegeben hätten) angespielt: "Kindheit im alten Ägypten" (Hans-Werner Fischer-Elfert, S. 21-39). Man erfährt, dass Kindheit als eine Narrenphase verstanden wurde, die die ersten zehn Lebensjahre dauerte. Weiter wird berichtet, dass Kinder insbesondere mit ansteigendem sozialen Status immer stärker erwünscht waren, da ihnen, vor allem dem ältesten Sohn, die Sorge für das elterliche Grab, also für den Totenkult zukam. In dem Beitrag finden sich zahlreiche Abbildungen, so ein Spielzeug oder eine Statue von Isis mit dem Horusknaben, die der Autor als Vorbild einer innigen Mutter-Kind-Beziehung deutet (S. 34). Auch zeitgenössische Texte geben Einblicke ins Thema wie etwa die Klage des noch als Kind verstorbenen Mädchens Isisemachbit (2. H. 7. Jh. v. Chr.) - hier wäre es für die nicht-ägyptologische Leserschaft sicher hilfreich gewesen, noch mehr zur Funktion derartiger in der ersten Person abgefasster Texte zu erfahren: Wer schrieb sie? Dass es das Mädchen selbst war, scheint eher unwahrscheinlich zu sein - und wer las sie?

Thomas Frenz (S. 41-55) behandelt das Thema "Kindheit im Mittelalter und in der frühen Neuzeit". Er diskutiert knapp und ohne Rekurs auf die breite Sekundärliteratur mit Ariès und DeMause die beiden bekanntesten kindheitshistorischen Ansätze, um dann fünf Aspekte der Kindheit (Geburt, Versorgung, Kindersterblichkeit, Erziehung und Rechtsstellung) zu skizzieren. Im Vorwort lassen uns die Herausgeber wissen, dass der Beitrag "zweifellos die Debatte über Kindheit im Mittelalter (versachlicht)" - und zwar "indem er vor allem Tatsachen vorträgt" (S. 8). Auch wenn dies nicht die Position des Autors sein muss, erstaunt diese Aussage doch im 21. Jahrhundert, weil sie die historistische Überzeugung zum Ausdruck bringt, dass sich im Rekurs auf "Tatsachen" umstandslos die "richtige" Geschichte schreiben ließe, die Geschichte, wie sie "wirklich" war - nur: Was lässt sich unter Tatsachen verstehen? Sind sie sozusagen pur, d.h. ohne Interpretation eines Historikers verfügbar und damit darstellbar?

Max Liedtke (S. 57-84) gibt im dritten historischen Beitrag Einblick in seine breiten Forschungen zu der Zeitschrift "Jugendlust", die seit 1982 "Floh" bzw. "Flohkiste" heißt. 1876 vom Bayerischen Lehrerverein gegründet, existiert sie bis heute fort und erlaubt Rückschlüsse auf 125 Jahre Kindheit und deren Wandel, genauer, darauf, "wie Redaktion und Autoren sie gesehen haben oder sie sehen wollten" (S.58).

Auf zwei der nicht-historischen Beiträge sei noch verwiesen. In Helga Unger-Heitschs Text (S. 127-148) erhält man einen guten Überblick über stadtethnologische Ansätze in der Forschung zu Straßenkindern in Deutschland und Lateinamerika. Deutlich wird, dass Straßenkinder z.T. auch gerne ihr Straßenleben führen und dabei bestimmte Kompetenzen wie beispielsweise Verhandlungsgeschick und Beobachtungsgabe entwickeln (S. 41), die in der herkömmlichen Schule gar nicht zum Tragen kommen können. Umgekehrt könne, so die Autorin, eine subjektorientierte "Straßenpädagogik", die derartige Kompetenzen ernst nehme, Reformhinweise für die zunehmende Anzahl von drop-out-Schülern an deutschen Schulen geben.

Der zweite Beitrag "Medienkindheit als pädagogische und gesellschaftliche Herausforderung" (Christine Feil, S. 179-206) informiert vor allem darüber, wie Kinder das Internet nutzen und was das Internet Kindern zu bieten hat wie z.B. spezielle Web-Sites. Dies ist auch der einzige Beitrag, in dem Jens Qvortrup, einer der profiliertesten Vertreter der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung, erwähnt wird. Überhaupt kommt diese Richtung der Kindheitsforschung mit ihren Ergebnissen zum Wandel von Kindheit im Vergleich etwa zu Becks Individualisierungs- und Modernisierungstheorem in dem Band sehr wenig zu Wort - so sucht man in den Literaturlisten vergeblich nach dem Namen von Helga Zeiher, aber auch bei den historischen Beiträgen hätte man sich mehr Hinweise auf internationale Forschungen gewünscht, z. B. auf die zweibändige, von Egle Becchi und Dominique Julia herausgegebene "L`histoire d`enfance en occident" (Paris: Seuil 1998).
 

Erfassungsdatum: 27. 01. 2003