Die Seiten werden nicht mehr aktualisiert – hier finden Sie nur archivierte Beiträge.
Logo BBF ---
grün und orangener Balken 1   grün und orangener Balken 3

HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Kersting, Christa
Rezensiertes Werk: Heinze, Carsten: Die Pädagogik an der Universität Leipzig in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt, 2001. - 207 S. (Klinkhardt Forschung). - ISBN 3-7815-1155-3
Erscheinungsjahr: 2003
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
PD Dr. Christa Kersting
Freie Universität Berlin
Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie
Arbeitsbereich Theorie von Erziehung, Bildung und Unterricht
Habelschwerdter Allee 45
D-4195 Berlin

Derzeit Gastprofessorin für Frauen- und Genderforschung am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik der Universität Passau

Text der Rezension:
 

Heinzes Studie umfasst zwei Teile: Der Analyse der "Institutionalisierung der Pädagogik an der Universität Leipzig" im Nationalsozialismus folgt mit "Pädagogik als Wissenschaft" die Darstellung `pädagogischer` Konzepte, mit denen eine NS-Erziehungspolitik durchgesetzt oder auch verhindert werden sollte. Methodisches Ziel sind "von Wertung freie" Rekonstruktionen.

Die Hauptarbeit der Pädagogik an der Universität Leipzig lag in der Lehrerbildung, nachdem Sachsen 1923/25 in Umsetzung des Artikels 143 der Reichsverfassung die Volksschullehrerausbildung reformiert hatte: Die wissenschaftliche pädagogische Ausbildung oblag der Universität, die praktische wurde dem staatlichen "Pädagogischen Institut" übertragen; es war durch den Direktor Johannes Richter, Honorarprofessor für Didaktik der Volksschule, mit der Universität verbunden. Auch die Ausbildung der Anwärter des Dienstes an höheren Schulen wurde verändert; sie waren von 1925 an verpflichtet, in zwei aufeinanderfolgenden Studienhalbjahren im "Praktisch-pädagogischen Seminar" - ab 1932 im eigenständigen "Institut für praktische Pädagogik der Höheren Schule" - Übungen zu besuchen; Direktor war der Honorarprofessor Ernst Boehm. 

Am Ende der Weimarer Republik wurde die Leipziger Pädagogik faktisch von sieben Professoren mit völlig verschiedenem Status vertreten: Neben Theodor Litt als o. Professor für Philosophie und Pädagogik, dem pl. a.o. Professor Hermann Schneider, ebenfalls für Philosophie und Pädagogik, und dem 1930 auf die neugeschaffene pl. a.o. Professur für Kindes- und Pädagogische Psychologie berufenen Hans Volkelt lehrte als npl. a.o. Professor für Philosophie Friedrich Lipsius. Außer den genannten Richter und Böhm vertrat als dritter Honorarprofessor Amtsgerichtsrat Walter Hoffmann die Sozialpädagogik.

Der Analyse der strukturellen Veränderungen der Pädagogik im Nationalsozialismus stellt Heinze die Rekonstruktion des Versuchs voran, die gesamte Studentenschaft politisch zu erziehen. Er kann zeigen, wie die vom NSDStB ausgehende Idee eines "Seminars für politische Erziehung" von Hans Freyer weiterentwickelt wurde. Freyer war erster Direktor des 1925 errichteten Soziologischen Instituts und 1933 Befürworter eines "politischen Semesters". Ihm übertrug das sächsische Volksbildungsministerium zudem die Leitung des ehemaligen Lamprechtschen "Instituts für Kultur- und Universalgeschichte", das er unter dem alten Namen in ein Institut für politische Bildung umwandelte. Integriert bzw. kooperativ verbunden waren ihm u. a. das aus der Pädagogik, dem "Institut für Erziehung, Unterricht und Jugendkunde" herausgelöste "Seminar für freies Volksbildungswesen" (nach Entlassung Fritz Borinskis an Pfeffer übertragen) und das "Seminar für politische Erziehung". Letzteres wurde 1936 dem Rektor unmittelbar unterstellt und 1940 vom sächsischen Ministerium für Volksbildung aufgelöst; Freyer, was Heintze nicht erwähnt, war längst Gastprofessor in Budapest.

Der erste Teil der Studie zeigt - auf breite Archivrecherche gestützt - den "Verfall der Pädagogik" an der Universität Leipzig im Nationalsozialismus. 1933 erfolgte bereits die Reduktion des "Instituts für Erziehung, Unterricht und Jugendkunde" auf das "Philosophisch-pädagogische Seminar" - bis zu Litts freiwilliger Emeritierung 1937 als "Philosophisch-pädagogisches Institut" geführt. Deutlich erkennbar wird der Ausbau der Psychologie auf Kosten der Pädagogik (und Philosophie): der "alte Kämpfer" Hans Volkelt, Nachfolger des 1933 aus politischen Gründen entlassenen Richter und Direktor der 1936 gegründeten Hochschule für Lehrerbildung, errichtete 1939, als er ganz an die Universität zurückkehrte, ein eigenes "Psychologisch-pädagogisches Institut"; die Einrichtung ging einher mit der Aufösung des Littschen Instituts. Volkelts Lehrauftrag umfasste im übrigen seit 1934 Entwicklungspsychologie und politische Pädagogik. Philipp Lersch hatte 1938 den Lehrstuhl des freiwillig emeritierten Direktors des Psychologischen Instituts und Professors für Philosophie Felix Krüger übernommen. Mit der Emeritierung Hermann Schneiders im Jahre 1939 war die Pädagogik an der Universität Leipzig fast nicht mehr vertreten, es gab nur noch Volkelt und den o. Honorarprofessor Walter Hoffmann. Den Verfall der Pädagogik sieht Heinze nicht zuletzt begründet in der schwierigen Legitimation des Faches vor dem Hintergrund der Verlagerung der (Volksschul-)Lehrerbildung aus der Universität und deren mehrfacher Umstrukturierung sowie der Unentschiedenheit des REM hinsichtlich des Stellenwerts der wissenschaftlichen Pädagogik. Ein 1939 beim sächsischen Volksbildungsministerium neu erwachtes Interesse an einer ordentlichen Professur für Pädagogik ließ sich nicht realisieren. 

Besondere Aufmerksamkeit gilt in der Studie dem "sächsischen Weg" der Lehrerausbildung. Erhard Lenk hatte 1938 nach dem freiwilligen Ausscheiden Ernst Boehms die Leitung des "Instituts für praktische Pädagogik der Höheren Schule" übernommen. In dessen Ausrichtung sah Lenk eine Übereinstimmung mit Rusts Vorstellungen zur Lehrerbildung. REM, Deutsche Studentenschaft, Universitätsvertreter und das sächsische Volksbildungsministerium einigten sich 1942 - auch unter Hinweis auf die Einrichtung didaktischer Seminare für die Lehrerbildung im faschistischen Italien - darauf, dieses Institut dem künftigen Ordinariat für Pädagogik zu erhalten. In Lenks Arbeit sieht Heinze die einzige Leipziger Initiative im Bereich der Pädagogik im Nationalsozialismus. 

Im zweiten Teil werden, auf pädagogische Theoriebildung begrenzt, mit Hans Freyer, Hermann Schneider, Hans Volkelt, Ernst Bergmann und Theodor Litt fünf äußerst unterschiedliche Vertreter der "Pädagogik als Wissenschaft an der Universität Leipzig" dargestellt. Intendiert ist damit nicht eine Analyse nationalsozialistischer Pädagogik, der Kommunikationsstrukturen und Wissenschaftspolitik, sondern es soll "Pädagogik im Nationalsozialismus" (S. 14) gezeigt werden. Das Ortsprinzip wird zum Kriterium, um eine Vielfalt von Positionen darzustellen; der Wirkung der fünf Theoretiker auf die wissenschaftliche und institutionelle Entwicklung der Pädagogik an der Universität Leipzig wird dagegen nicht explizit nachgegangen. 

Nun liefert der zweite Teil mit den - immerhin die Hälfte des Buches umfassenden - fundierten Einzelstudien zu den genannten Theoretikern punktuelle Erklärungen für die im ersten Teil dargestellte institutionelle Macht bzw. Ohnmacht der Wissenschaftler. Deutlich wird, dass z. B. Hans Freyer mit seinem Konzept einer "Revolution von rechts", bald auch mit seinem "politischen Semester" (Erziehung durch "Arbeit und Wehr") sich institutionell für die politische Schulung der gesamten Studentenschaft durchsetzen konnte. Nachvollziehbar, dass Hermann Schneider wissenschaftspolitisch unterlag. Der "deutsche Sozialismus" in Abgrenzung zu Sozialismus und Kapitalismus westlicher Kulturen und der künftige "Volksstaat" seien durch "Blutmischung" des Volkes ("Sprach- und Blutsgemeinschaft") als dem "eigentlichen Schöpfer der Kultur" entwickelt. Dieser Theorie der kulturellen bzw. mentalen "Volkwerdung", die "`Rasseeinzüchtung`", Alleinwert der "reinen und nordischen Rasse" und NS-Selektionsgesetze ablehnte, wurde (wie Kriecks Konzept) ideologisch bald keine Bedeutung mehr beigemessen. Nicht einsichtig ist allerdings, dass zur Kennzeichnung der "Wissenschaft der Pädagogik" mit Hans Bergmann ein Vertreter des Konzepts der "nordischen Rasse", der biologischen (SS-) Position der "`Aufartung`" des deutschen Volkes, vorgestellt wird - mit der institutionellen Vertretung des Faches Pädagogik war er logischerweise (was hätte er angesichts einer `rassegemischten` Schulklasse gemacht?) und nach Heinzes Auskunft nicht betraut. Die sorgfältigen Werkstudien der unterschiedlichen, auch teilweise erstmals vorgestellten NS-Theoretiker lassen sich durchaus als Bausteine einer nationalsozialistischen Pädagogik lesen. Es fehlt jedoch der wissenschaftliche Kontext, sie bleiben auf der Theorieebene unverbunden, monolithisch. So wird Bergmanns Konzept einer "Deutschreligion" als Voraussetzung der "Volkseinheit" nicht in den größeren Rahmen der von Jakob Wilhelm Hauer ausgehenden Bewegung gestellt. Vor allem der unterschiedliche Umgang mit "Rasse" wäre in der zeitgenössischen Diskussion zu verankern und aktuelle pädagogische Analysen (z. B. Harten 1993 ff.) zu berücksichtigen. Auf diese Weise würde die spezifische "Logik" der sich teilweise bekämpfenden NS-Ansätze deutlich und eine über die Immanenz hinausgehende historisch-kritische Bewertung überhaupt erst möglich. Stattdessen bildet in den "Kommentaren" zu den NS-Theoretikern die geisteswissenschaftliche Pädagogik die wichtigste Referenzliteratur, ohne dass die derzeitigen Kontroversen bzw. Neuinterpretationen annähernd berücksichtigt würden (zu Herman Nohl etwa Zimmer 1996 ff. usw.).

Zu überlegen ist im weiteren, ob nicht die beiden Teile der Arbeit miteinander konstruktiv hätten verbunden werden können. Bereits die institutionellen Veränderungen ließen sich nicht losgelöst von Personen darstellen. Bis auf Bergmann spielen die im zweiten Teil Exponierten entscheidende Rollen bei der strukturellen Veränderung der Pädagogik. Eine Verzahnung von institutionellem Um- und Abbau der Pädagogik und pädagogisch-theoretischen Konzepten wäre - wie für Freyer oder Schneider angedeutet - äußerst produktiv gewesen, möglicherweise als zusammenfassender dritter Teil. Die differenten pädagogischen Konzepte könnten dann auf ganz andere Weise argumentativ genutzt werden. 
 


Erfassungsdatum: 11. 03. 2003