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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Schmoll, Friedemann
Rezensiertes Werk: Werner, Meike G., Moderne in der Provinz : kulturelle Experimente im Fin-de-Siècle-Jena. - Göttingen: Wallstein-Verl., 2003. - 367 S., ISBN 3-89244-594-X
Erscheinungsjahr: 2003
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
PD Dr. Friedemann Schmoll
Ludwig-Uhland-Institut für
Empirische Kulturwissenschaft
Schloß
72070 Tübingen
friedemann.schmoll@uni-tuebingen.de 

Text der Rezension:
 

Was heißt modern? Lange Zeit wurde von der historischen Forschung beim Blick auf Modernisierungsprozesse in Deutschland eine simple Gleichung aufgemacht. Hie standen die Apologeten des Fortschritts, die mit Hilfe von Wissenschaft und Technik den Übergang von einer alten in eine neue Welt besorgten. Auf der anderen Seite sammelten sich jene, die sich hartnäckig der "Entzauberung der Welt" zu verweigern schienen: schwärmende Weltflüchter, raunende Germanentümler, apolitische Vegetarier und Ausdruckstänzerinnen, in weltfernen Ästhetizismus flüchtende Kulturerneuerer, Reformpädagogen, die in altdeutschem Gewande angelegentlich von Sonnwendfeiern über frühsommerliche Blumenwiesen hüpften. All jene Suchbewegungen, die dem Unbehagen in der modernen Welt das Credo der erneuernden Kraft der "Kultur" entgegensetzten, wurden kurzerhand mit dem Etikett "antimodern" versehen; ihre Kritik an der Moderne, so konnte vielfach auch überzeugend aufgezeigt werden, kippte oft schon vor, in jedem Fall nach dem Ersten Weltkrieg in einen unmißverständlichen völkischen Tonfall, so daß die Kontinuitätslinien von der wilhelminischen Kulturkritik über die völkischen Radikalisierungen hin zu den Blut- und Bodenmythen des Nationalsozialismus mühelos gezogen werden konnten. Mittlerweile allerdings häufen sich kulturwissenschaftliche Arbeiten, die sich bei der Diskussion dieser eigenartigen Modernisierungsskepsis als deutsches "Sonderbewußtsein" voreiligen Klassifizierungen in Feinde und Freunde der Moderne verweigern und stattdessen nach den Ambivalenzen, Potentialen und Vieldeutigkeiten der zwischen Reform und Regression lavierenden Kulturbewegungen um 1900 fragen. Zu diesen Arbeiten zählt auch Meike G. Werners Inspektion einer "Moderne in der Provinz", die sich, wie der Untertitel ankündigt, für "Kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jena" interessiert. Dahinter verbirgt sich ein eigenwilliger Versuch, Prozesse der kulturellen und gesellschaftlichen Modernisierung in einem interdisziplinären Zugriff zu rekonstruieren. Gemeinhin werden Fragen nach Modernisierung von unterschiedlichen Disziplinen nämlich entlang jeweils isolierter Aspekte diskutiert. Werner hat jedoch einen ganz anderen Zugang gewählt. Gemäß Jaques Le Goffs Maxime, daß die Wahrheit nicht nur eine Tochter der Zeit sei, sondern auch des geographischen Raumes, wählte sie für ihre Untersuchung den räumlichen Rahmen Jenas, in dem sie eigenständige, aber dann doch wieder untrennbar miteinander verknüpfte Personen und Projekte der vorvergangenen Jahrhundertwende in Beziehung zueinander setzt: Eugen Diederichs und seinen Kulturverlag, die zwischen Heimatschriftstellerei und der Suche nach eigenständiger Weiblichkeit zehrende Dichterin Helene Voigt-Diederichs und das Milieu des "Jungen Jena", also die Freistudentenschaft und der Serakreis, von dem wesentliche Impulse für die Genese der Pädagogik im 20. Jahrhundert ausgehen sollten.

Indem sie die Lebens- und Kulturreformer als kulturelle Modernisierer versteht, will Werner zeigen, daß es den vermeintlichen Modernisierungsverweigerern tatsächlich um die Suche nach einer "anderen" Moderne ging. Dabei räumt sie auch mit der Dichotomie vom "Wunschbild Land und Schreckbild Stadt" (Friedrich Sengle) auf und macht klar, daß die zwangsläufigen Bindungen Großstadt/Moderne versus Provinz/Traditionalismus den differenzierten kulturgeschichtlichen Blick auf alternative Modernisierungsprozesse mehr verschleiern als erhellen. Allerdings muß hier kritisch nachgefragt werden, ob die geistige und kulturelle Zuordnung Jenas als "Provinz" bzw. "Peripherie" glücklich gewählt wurde. Schon aufgrund des föderativen Aufbaus des Deutschen Reiches und des Selbstverständnisses als Kulturnation kann trotz aller politischen und kulturellen Zentralisierungsversuche des hohenzollerischen Kaiserreichs nicht von einer maßgeblichen Metropole Berlin als kulturelles Zentrum ausgegangen werden. All jene Akteure in der vermeintlichen Provinz verstanden jedenfalls die Bühnen ihres Schaffens ganz sicher nicht als "Peripherie", sondern verorteten sich selbst im Zentrum. Ganz so, wie Eugen Diederichs, einer der Hauptprotagonisten in Werners Studie, seine eigene geistige Landkarte entwarf: "Jena ist der Mittelpunkt der Welt. Denn der Mittelpunkt der Weltteile ist Europa, der Mittelpunkt Europas ist Deutschland. In der Mitte von Ost und West, von Nord und Süd liegt aber Jena." 

Jena um 1900 erweist sich, wie Werner in Anlehnung an Pierre Bourdieu entwickelt, als ein "intellektuelles Kräftefeld". Es handelt sich bei der klassischen deutschen Universitätsstadt um einen Ort, der einerseits ganz seiner bildungsbürgerlichen Vergangenheit verhaftet scheint, an dem aber andererseits Zukunft entworfen und gestaltet wird. Jena scheint als Rahmen mit ganz unterschiedlichen Bezugsgrößen prädestiniert dafür, daß hier alternative Entwürfe zu den dominanten Normen einer auf Rationalität und Funktionalität basierenden Moderne entwickelt und gelebt werden können. Die Stadt nämlich weist eine für deutsche Verhältnisse ungewöhnliche Verknüpfung auf. Sie ist nicht nur als traditionsgesättigte Universitätsstadt ein bildungsbürgerlicher Gedächtnisort, an dem Erinnerung und Erbe des deutschen Idealismus verwaltet wurde. Jena ist zugleich eine Stätte industrieller Modernität, an der Ernst Abbe und die Zeiss-Stiftung seltene Wege einer Vermittlung von Arbeit und Gemeinwohl suchen. Somit waren beste Voraussetzungen dafür geschaffen, daß Jena zu einem Laboratorim kultureller Experimente avancieren konnte.

Meike G. Werner sondiert die Facetten der "Moderne in der Provinz" anhand von drei kaum unabhängig voneinander zu verstehenden Personen und Phänomenen - dem Kulturverlag von Eugen Diederichs, Leben und Werk von Helene Voigt-Diederichs und dem freistudentischen Serakreis. Auch wenn es sich also bei diesen drei Hauptkapiteln um jeweils unterschiedliche Zugänge handelt (mal stehen die Personen im Vordergrund, dann das Milieu, mal die sozialen, dann wieder die geistigen Beziehungen, mal wissenschaftsgeschichtliche Überlegungen, dann wieder literaturwissenschaftliche ...), immer geht es um die übergeordnete Frage nach alternativen Modernitätsentwürfen in der vermeintlichen Provinz. Bei Helene Voigt-Diederichs geht es um ein Dichterinnenleben zwischen autonomer Lebensführung und regressiver Heimatliteratur. Bei ihrem Gatten Eugen steht hinter dem Programm seines Kulturverlages das Erneuerungsprojekt einer idealistischen Kultur, der im Zeitalter des gesellschaftlichen Zerfalls der quasireligiöse Rang einer sinnstiftenden Instanz zugesprochen wird. "Von der Wissenschaft zur Lebensgestaltung" lautete der Titel seines Verlagsprogramms für das Jahr 1910. Und damit war denn auch ein gesellschaftliches Erneuerungsprogramm diktiert, für das der neuromantische Moderator Diederichs oft widersprüchliche Mitstreiter zusammen trommelte: Bodenreformer, Wandervögel, Heimatschützer, Geschmackserzieher, Gartengestalter, Rationalitätskritiker, Naturschwärmer, Tanz- und Theaterreformer, Märchenforscher, Kunstgewerbler und viele andere mehr.

Für die Bildungsgeschichte am ertragreichsten ist sicherlich das Kapitel, welches Werner den freistudentischen Bewegungen und insbesondere dem Serakreis widmet. Überschrieben mit "Tanz auf dem Vulkan" erläutert sie hier mit dem kulturanthropologischen Ritualtheoretiker Victor Turner und seinem Konzept von antipodischer "Struktur" und "Antistruktur" (bzw. Liminalität), wie im Serakreis in einer historischen Phase des Übergangs, in der zudem Jugend als eigenständige Lebensphase etabliert wurde, vorübergehend eine "Communitas" entstand, die all jene Merkmale aufweist, welche Turner als charakteristisch für diesen Zustand beschreibt: Totalität, Unmittelbarkeit, Sakralität, Gleichheit und Statuslosigkeit. Turner nutzte sein Modell der Schwellen- und Umwandlungsphasen auch zur Erläuterung gesellschaftlicher und politischer Prozesse (Hippies, Neue Linke, Esoterikboom) und ihrer subversiven Potentiale. Die Anti-Struktur gewinne dann Gewicht, so Turner, wenn die "Vergangenheit ihre Macht verloren, die Zukunft aber noch keine definitive Form angenommen hat." So scheint Turners Konzept von Struktur und Anti-Struktur auch zur Erläuterung des Serakreises plausibel. Die liminale Phase erweist sich als eine, die im Besonderen Potentiale der Kreativität und Innovation birgt. Der Zustand der Liminalität enthält Potentiale des Spielerischen; d.h. er provoziert Rollendurchbrechungen, ein Spiel mit Rollen und Identitäten, mit Ideen und Werten. So besehen erscheinen die Sonnwendfeiern und Vagantenfahrten, die Tanzdarbietungen und Geselligkeitsveranstaltungen des Serakreises nicht als naiv-tümelnde Inszenierungen, sondern als Versuch, im Fest die "Erneuerung des Lebens" zu ermöglichen. Hier entstand für ein paar Jahre ein Milieu, dessen kreatives Innovationspotential nicht zuletzt Theorie und Praxis der Pädagogik im 20. Jahrhundert beeinflussen sollte. 

Was wurde aus jenen spielerischen Projekten und den Suchbewegungen nach einer "anderen" Moderne, die in Jena zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg nur für kurze Zeit neue Formen sozialer Vergemeinschaftung, neue Ideen, Stimmungen und Modi der Welterfahrung provozierten? Wie vieldeutig und bisweilen widerspüchlich sich die Szene, die sich da auf ein paar Jahre zusammenfand, ausnahm, illustriert Meike G. Werner im abschließenden Kapitel "Was sie wollten, was sie wurden" durch die Skizzen der weiteren Lebensgänge. Hier zeigt sich, wie aus ein- und demselben Gemeinschaftserleben am Vorabend des Ersten Weltkriegs ganz unterschiedliche intellektuelle und biographische Konsequenzen resultierten. Ein paar Beispiele: Walter Fränzel verschrieb sich gänzlich jugendwegter und lebensreformerischer Bildungsarbeit. Karl Korsch avancierte zu einem maßgeblichen marxistischen Theoretiker. Rudolf Carnap wandelte sich vom jugendbewegten Freistudenten zum analytischen Philosophen. Hans Freyer driftete vom Pädagogen zum Volkssoziologen und proklamierte schon vor 1933 die "Revolution von Rechts". Und Wilhelm Flitner transformierte sein Gemeinschaftserleben im Serakreis in Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung und wirkte an der Etablierung der Pädagogik als akademische Disziplin. Gemeinsam also war die Verankerung ihres Denkens und Empfindens in der Vorstellungswelt des Sera-Kreises - ganz unterschiedlich die Konsequenzen für die Fortführung der Lebenswege nach dem Ersten Weltkrieg.
 
 

Erfassungsdatum: 29. 04. 2003