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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Cramme, Stefan
Titel: Bildungsgeschichtliche Forschung zum Nationalsozialismus - Behoerden, Arbeitsverbaende und Institutionen
Erscheinungsjahr: 2003
zusätzl. Angaben zum Autor: Bibliothek fuer Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts fuer Internationale Paedagogische Forschung
Text des Beitrages:

 
Arbeitsgemeinschaft Erforschung pädagogischer Organisationen und
Institutionen an der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung,
Organisation: Christian Ritzi und Ulrich Wiegmann
23.05.2003, Berlin, Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung

Bericht von Stefan Cramme (Berlin)

An der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des
Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung hat sich
eine Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung pädagogischer Organisationen
und Institutionen zusammengefunden, die auf einer Tagung am 23. Mai 2003

in den Räumen der Bibliothek in Berlin ihre ersten Arbeitsergebnisse
vorstellte. Ausgangspunkt für die Bildung der Arbeitsgemeinschaft war
die Überlegung, dass gerade dieser Bereich der Bildungsgeschichte noch
einigen Forschungsbedarf aufweist und dass insbesondere noch große
Quellenbestände der Erschließung und Auswertung harren. Als
Forschungsbibliothek ist die BBF ein geeignetes Zentrum solcher
Untersuchungen.[1]

So bot der erste Vortrag von Ulrich Wiegmann (»Die Hitler-Jugend als
Gegenstand bildungsgeschichtlicher Forschung und Publikation in der
Bundesrepublik 1945–2001«) eine interessante bibliometrische Analyse der

Literatur zur Hitler-Jugend – ausgehend von den Beständen der Bibliothek

für Bildungsgeschichtliche Forschung, die sich im Vergleich mit
Standardbibliographien zum Thema als repräsentativ herausgestellt
haben.[2] Die Publikationstätigkeit zur Hitlerjugend erreichte zu Beginn

der 1990er Jahre ihren Höhepunkt und blieb auch danach auf zahlenmäßig
hohem Niveau, trotz des gleichzeitigen Booms der historischen
Bildungsforschung zu DDR-Themen. Durchaus überraschend war das Ergebnis der Auswertung der jeweils angeführten Primär- und Sekundärliteratur:
Ein relativ großer Teil der Literatur zur Hitlerjugend führt keine oder
nur eingeschränkte Quellen- und Literaturnachweise auf und ist somit
eher der Publizistik als der wissenschaftlichen Forschung zuzurechnen.
Dabei kann noch längst nicht alles einschlägige Quellenmaterial als
erschlossen gelten, denn ein knappes Drittel der zeitgenössischen
Literatur zur Hitlerjugend aus dem Bestand der BBF ist in keiner der
ausgewerteten Monographien verzeichnet.

Auch Christian Ritzi (»›Die nationalsozialistische Staatsführung hat
sofort erkannt, welche Dienste ihr die Auskunftsstelle für Schulwesen
leisten konnte‹: Zur Nützlichkeit einer pädagogischen Behörde in vier
politischen Systemen«) ging von Beständen der Bibliothek für
Bildungsgeschichtliche Forschung aus und stellte anhand der dort
aufbewahrten Archivalien die 1899 gegründete Auskunftsstelle (seit 1936:

Reichsstelle) für Schulwesen vor. Sie führte ihre Arbeit, die vor allem
in statistischen Auswertungen des höheren Schulwesens bestand (später
auch anderer Schulbereiche), vom Kaiserreich über Weimarer Republik und
Nationalsozialismus praktisch bruchlos fort. Eine deutliche politische
Positionierung konnte die Einrichtung vermeiden, und erst unter den
Bedingungen der deutschen Teilung verlor sie ihre überregionale
Bedeutung als pädagogische Dokumentationsstelle. Das Rohmaterial der von der Auskunftsstelle/Reichsstelle angelegten Datensammlungen ist im
Archiv der BBF zu großen Teilen erhalten und der Forschung zugänglich.

Der politischen Lenkung des Bildungswesens im Nationalsozialismus waren
noch weitere Vorträge gewidmet. Friedhelm Schütte und Gerhard Kluchert
beschäftigten sich mit der Rolle von zwei Behörden der Bildungsverwaltung zwischen 1933 und 1945. Schütte (»Maßnahmen und Politik der ›Abteilung für berufliches Ausbildungswesen‹ im Reichserziehungsministerium 1934–1944 [Abteilung IV im Amt für Erziehung]«) stellte die für Berufsbildung zuständige Abteilung des von Bernhard Rust geleiteten Ministeriums vor, die 1934 aus dem preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe überführt wurde. Er gliederte ihr Wirken in drei Phasen: Radikalisierung 1933/34, als eine Fülle von Erlassen die politische Neuausrichtung des Staatsbürgerkundeunterrichts sichern sollte; Rationalisierung von 1935 bis 1938, eine Zeit, in der die Abteilung IV zunehmend in die Defensive geriet; und die Phase des völligen Bedeutungsverlustes während des Krieges. Der knappe Überblick
wies auf einige Desiderata der Forschung hin, zum Beispiel im Hinblick
auf die mögliche Anwendung der Polykratiethese und die Notwendigkeit
weiterer Untersuchungen der handelnden Personen.

Eine Ebene tiefer in die Bildungsverwaltung führte der Vortrag von
Kluchert (»Politisierung der Schulaufsicht? Das Provinzialschulkollegium
Berlin-Brandenburg im Nationalsozialismus«), der von der Frage ausging,
inwieweit bestehende preußische Behörden von den Nationalsozialisten für
die Ziele ihrer Politik funktionalisiert wurden. Die Mittelbehörde des
Provinzialschulkollegiums war für die Aufsicht des höheren Schulwesens
zuständig. Die erhaltenen Revisionsberichte zeigen ebenso wie das
Eingreifen der Aufsichtsbehörde bei Konflikten innerhalb einzelner
Schulen, dass eine politische Beeinflussung teilweise erkennbar ist,
zumindest bei der Rekrutierung des Personals des Provinzialschulkollegiums und bei der Beurteilung von Unterrichtskonzeptionen.

Die beiden einander ergänzenden Vorträge von Christine Lost (»›… als
Ende der belastenden Gleichschaltung begrüßt‹: Zur Vor- und
Nachgeschichte der Selbstauflösung des ›Deutschen Fröbelverbandes‹
1938«) und Sylvia Wolff (»Die Selbstauflösung des Bundes Deutscher
Taubstummenlehrer [1933] und die Folgen für die Gehörlosen«)
beschäftigten sich mit einem lange verdrängten Kapitel aus der
Geschichte pädagogischer Berufe. Beide von den Referentinnen
thematisierten Verbände ordneten sich nach der ›Machtergreifung‹ ohne
große Widerstände den Zielen des Nationalsozialismus unter, die
teilweise sogar ausdrücklich begrüßt wurden. Nach einer mehr oder
weniger langen Übergangsperiode der Gleichschaltung blieb beiden
Vereinen nur noch die Selbstauflösung und Übertragung von Mitgliedern,
Vermögen, Aufgaben und Verbandszeitschriften an den
Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB). Aus Sicht des NSLB war der
Deutsche Fröbelverband lediglich für die historisch ausgerichtete
Fröbelforschung nützlich. Zahlreiche im Bund Deutscher Taubstummenlehrer

organisierte Hörgeschädigtenpädagogen traten aktiv für die
rassenhygienischen Ziele des Nationalsozialismus ein und lieferten die
ihnen anvertrauten Gehörlosen der Zwangssterilisation aus. Nach 1945
wurde mit Neugründungen der beiden Verbände versucht, an die Geschichte
vor 1933 anzuknüpfen und die Zeit des Nationalsozialismus auszublenden.
Wie in vielen vergleichbaren Fällen hat erst in jüngster Zeit eine
eingehendere Auseinandersetzung mit dieser Phase der Vereins- und
Berufsgeschichte begonnen.

Auch Sabine Harik (»Nur Kalkül? Zur Selbstauflösung des Allgemeinen
Deutschen Lehrerinnen-Vereins und zur Zwangsbeurlaubung von Frauen des
ADLV im Jahre 1933«) schilderte die Selbstauflösung eines pädagogischen
Berufsverbands angesichts drohender Gleichschaltung, doch ergab sich
hier ein deutlich anderes Bild. Der Vorstand des Dachverbandes
zahlreicher Lehrerinnenvereine versuchte offenbar bewusst, die
Eingliederung in den männlich dominierten NSLB zu boykottieren. Das
Vereinsvermögen wurde mitsamt Archiv und Bibliothek in eine private,
nach der Vereinsgründerin Helene Lange benannte Stiftung überführt und
blieb so bis Kriegsende unangetastet. Die im Berliner Landesarchiv
erhaltenen Aktenbestände des Vereins erlauben einen faszinierenden
Einblick in eine Möglichkeit oppositionellen Verhaltens im beginnenden
Nationalsozialismus.

Der abschließende Vortrag kehrte zu den Archivbeständen der BBF zurück:
Ursula Basikow, die Leiterin des Archivs, untersuchte aus den dort
aufbewahrten Nachlässen von Pädagoginnen und Pädagogen einige
Fallbeispiele unter dem Aspekt, wie weit die Einbindung in ›informelle
Netzwerke‹ z. B. bei Emigration oder Widerstandsarbeit erkennbar wird
(»›Auf einmal hörte alles auf …‹: Informelle Netzwerke von Pädagogen und
Pädagoginnen in der Zeit des Nationalsozialismus am Beispiel von
Nachlässen aus dem Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche
Forschung«). Auch wenn die Nachlässe oft noch nicht vollständig
erschlossen sind und vor allem nur eingeschränkt originales Material aus
der NS-Zeit enthalten, erlauben die zahlreich vorhandenen Lebensläufe,
Erinnerungen und Privatbriefe dennoch einige Aussagen über die
vielfältigen Verhaltensweisen angesichts eines solchen Umbruchs, wie ihn
die NS-Herrschaft gerade für politisch engagierte Pädagogen darstellte.
Auch in der Schlussdiskussion wurde deutlich, wie manche dieser
Netzwerke in der Nachkriegszeit weiterwirkten – gerade auch in der DDR.

Insgesamt kann die Tagung als erfolgreicher Auftakt der
»Arbeitsgemeinschaft Erforschung pädagogischer Organisationen und
Institutionen« gelten. Besonders die quellennahen Untersuchungen haben
verdeutlicht, wieviel Material für die historische Forschung noch
erschlossen werden könnte. Auch bei der Betrachtung von Einrichtungen
des Bildungswesens zeigt sich, dass eine von klaren methodischen
Vorgaben geleitete und neue Quellenbestände erschließende Forschung auch siebzig Jahre nach der ›Machtergreifung‹ noch immer zu neuen, teilweise überraschenden Erkenntnissen führen kann. Ferner ist deutlich geworden, dass eine Spezialdisziplin wie die Bildungsgeschichte, die
institutionell nach wie vor im Wesentlichen von den Erziehungswissenschaften getragen wird, auch zum allgemeinen
historischen Fachdiskurs interessante Beiträge zu liefern vermag.
Deswegen wäre eine stärkere Beteiligung von Zeithistorikern bei späteren
Tagungen sehr wünschenswert.

Ausführlichere Druckfassungen der Referate sollen noch in diesem Jahr
als Sammelband erscheinen.

Anmerkungen:
[1] Zur Geschichte der Bibliothek siehe einen aus einer früheren
Arbeitsgemeinschaft hervorgegangenen Sammelband: Christian Ritzi, Gert
Geißler (Hrsg.), Wege des Wissens: 125 Jahre Bibliothek für
Bildungsgeschichtliche Forschung, Berlin 2001, 2. Aufl. 2003 (i. E.).
[2] Das Verzeichnis der Hitlerjugend-Bestände in der Bibliothek für
Bildungsgeschichtliche Forschung wird voraussichtlich Mitte 2003
erscheinen.

Erfassungsdatum: 23. 06. 2003
Korrekturdatum: 02. 04. 2004