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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Hellekamps, Stephanie
Titel: Anfänge und Grundlegungen moderner Pädagogik im 16. und 17. Jahrhundert
Erscheinungsjahr: 2003
zusätzl. Angaben zum Autor: Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik
Text des Beitrages:

 
Eine interdisziplinär ausgerichtete Tagung, an der sich Vertreter der Geschichtswis-senschaft, der Erziehungswissenschaft, Theologie, Germanistik und Kunstgeschichte beteiligten, erörterte die Frage nach dem Beginn der modernen Pädagogik im späten 16. und 17. Jahrhundert. Um die Fragestellungen der verschiedenen Fächer zusam-menzuführen, hatten die Veranstalter (Hans-Ulrich MUSOLFF, Bielefeld; Anja-Silvia GÖING, Hamburg; Andreas SUTER, Bielefeld) den in der Geschichtswissenschaft seit längerem etablierten Konfessionalisierungsansatz empfohlen. Dieser Ansatz schien geeignet, die disziplinär unterschiedlichen Zugangsweisen und Fragestellungen zu verklammern. Denn der Prozess der Konfessionalisierung, der sich nach dem Urteil der Historiker als ein gesamtgesellschaftlicher Fundamentalvorgang vollzog, brachte nicht zuletzt eine Bildungsreform bislang ungekannten Ausmaßes mit sich. Die Aus-sicht auf die Formierung der Individuen im Sinne einer konfessionell homogenisier-ten Lebensführung schien das Schulwesen zu einem interessanten Ansatzpunkt für die Disziplinierungsanstrengungen der jeweiligen Obrigkeiten zu machen. Um so erstaunlicher ist es, dass der Konfessionalisierungsansatz von der historischen Päda-gogik bislang kaum rezipiert wurde. Die Arbeitstagung sollte u.a. die Tragfähigkeit dieses Ansatzes für die historische Bildungsforschung prüfen.
Indes offenbarten sich im Verlauf der Diskussion einige prinzipielle Schwierigkei-ten, die mit dem Rückgriff auf den Konfessionalisierungsansatz verbunden waren und die die interdisziplinäre Verständigung erschwerten. Zunehmend wurde deutlich, dass vornehmlich die Vertreter der Geschichtswissenschaft und der Theologie diesen Ansatz in seiner mehr oder weniger eng definierten Begrifflichkeit fruchtbar mach-ten. Demgegenüber verhielten sich die Vertreter der Pädagogik, aber auch der Ger-manistik und der Kunstgeschichte gegenüber diesem Ansatz teils reservierter, teils applizierten sie ihn in einer eher unorthodoxen Weise auf ihren jeweiligen Gegens-tand.
Zunächst wurden indes die wechselseitigen Erwartungen formuliert. Die Vortrags-reihe wurde mit einer Einleitung von Hans-Ulrich MUSOLFF eröffnet. Er verwies auf die Defizite der bisherigen historischen Bildungsforschung, die den Beginn der mo-dernen Pädagogik lange in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verortet und den von der Konfessionalisierung ausgehenden Modernisierungsschub noch nicht hinrei-chend reflektiert habe. Zugleich betonte er das Erfordernis, sich der regional und städtisch spezifischen Entwicklung von einzelnen Schulen zu vergewissern. In die-sem Zusammenhang erwarte er von den Historikern sowie den Vertretern der ande-ren Disziplinen Anstöße in institutionengeschichtlicher Perspektive, aber auch hin-sichtlich der Erforschung der konkreten Lehr- und Lerninhalte. Andreas SUTER fasste im Anschluss an Wolfgang REINHARD und Heinz SCHILLING die bisherigen Erträge der Konfessionalisierungsforschung noch einmal zusammen. Auch er betonte in die-sem Zusammenhang die Sinnhaftigkeit einer Debatte insbesondere zwischen Histori-kern und Pädagogen, da die Bildung sowohl der gesellschaftlichen Eliten als auch des übrigen Nachwuchses ein wesentliches Forschungsinteresse dieses Ansatzes dar-stelle. Damit skizzierte er den primär sozialgeschichtlichen Rahmen der Diskussion. In diesem Sinn betonte Stefan EHRENPREIS (Berlin) das besondere Interesse der Kon-fessionalisierungsforschung an fassbaren sozialen Entwicklungen und Veränderun-gen auf der gesellschaftlichen Makro- und Mikroebene. Angeregt durch die Gewinne der einschlägigen Forschungen in Frankreich, England und den Niederlanden mar-kierte er die sozialhistorischen Defizite in der deutschsprachigen Forschung. Insbe-sondere in der Katechese und im niederen Schulwesen konvergierten für ihn die ge-samtgesellschaftlichen Formierungstendenzen, die weiterer bildungshistorischer Aufklärung bedürften. Rudolf KECK (Hildesheim) konzentrierte sich aus erzie-hungswissenschaftlicher Perspektive auf die Katechesierungsanstrengungen in der Zeit der devotio moderna und des Humanismus. Er zeichnete eine Entwicklungslinie von der vorkonfessionellen Katechese hin zu entsprechenden Bemühungen der sich herausbildenden Bekenntnisse. Konfessionsübergreifend gemeinsam sei in Intention und Ergebnis die neuartige Würdigung der Bildung gewesen.
Nach diesen Markierungen des Tagungsthemas aus historischer und erziehungs-wissenschaftlicher Sicht folgte eine Reihe von Vorträgen, die sich der regionalen Schulgeschichte widmeten. Agnes WINTER (Berlin) stellte die frühneuzeitliche Ge-schichte der vier ältesten Berliner Gymnasien dar. Andreas LINDNER (Erfurt) sprach aus theologischer Sicht über das bikonfessionelle Erfurter Schulwesen und Jens BRUNING (Leipzig) über die Lateinschulen der „ostwestfälischen Provinz“ (Minden, Herford, Bielefeld). Diese sehr informativen Untersuchungen auf der Mikroebene der Schulforschung bestätigten einerseits den konfessionellen Anspruch der Schulen, der sich vor allem in der Berufungspraxis der Lehrer ausdrückte. Andererseits habe es konfessionsübergreifende Gemeinsamkeiten gegeben, so insbesondere auf der E-bene der Lehrpläne, die insgesamt das Erbe des Humanismus bewahrt und tradiert hätten. Der obrigkeitliche Zugriff auf die Schulen durch den Landesherrn habe sich gegenüber dem Einfluss der lokalen Behörden nicht verstärkt geltend machen kön-nen.
Wie diese Beiträge so trugen auch die Vorträge des Erziehungswissenschaftlers Daniel TRÖHLER (Heidelberg) und des Historikers Thomas MAISSEN (Luzern) dazu bei, den Konfessionalisierungsansatz vor dem Hintergrund lokaler und regionaler Forschungen zu schärfen bzw. dessen Grenzen zu präzisieren. D. TRÖHLER sprach über republikanische Tugend und Erziehung sowie die MACHIAVELLI-Rezeption des Schweizer Stadtbürgertums. Th. MAISSEN erläuterte frühe Formen der bürgerlichen Aufklärung durch öffentliche Diskussionen in den Zürcher `CollegiaA, die sich dem obrigkeitlichen und kirchlich-konfessionellen Zugriff entzogen. Beide Vorträge ver-wiesen auf die Formierung bürgerlichen Selbstverständnisses jenseits von Konfessi-onalisierungsbestrebungen.
Mit den Vorträgen von Anja-Silvia GÖING, Simone DE ANGELIS (London), H.-U. MUSOLFF, Ulrich PFISTERER (Hamburg) und Frauke BÖTTCHER (Frankfurt) wurden die Lehr- und Lerninhalte in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. A.-S. GÖING sprach über Naturphilosophie und Ethik im Lehrplan der Theologischen Lehranstalt in Zürich. S. DE ANGELIS interpretierte Melanchthons „De anima“ im Kontext von Medizintheorie und reformatorischer Theologie. H.-U. MUSOLFF diskutierte die Wiederkehr der Metaphysik in Curricula des 17. Jahrhunderts. U. PFISTERER sprach über Kunst im Curriculum, und F. BÖTTCHER erläuterte Formen mathematischer und naturwissenschaftlicher Wissensvermittlung für Laien in Frankreich. Für einzelne Schulen wurde zudem nicht nur nachgezeichnet, welche Bestimmungen durch die Lehrpläne vorgegeben waren und welche pädagogischen Intentionen mithin verfolgt wurden. Vielmehr wurde darüber hinaus auch nach den Wirkungen des Lernens ge-fragt, wie sie etwa in den öffentlichen Theses oder Disputationes fassbar seien, die einen integralen Bestandteil des Curriculums gebildet haben. Auch Schülerzeich-nungen und -briefe wurden als Quellen interpretiert. Angesichts konfessionsüber-greifender inhaltlicher Übereinstimmungen gerade im Hinblick auf die Lerninhalte sei die These von einer erfolgreichen durchgängigen Konfessionalisierung fraglich. Die Reduktion konfessioneller Gegensätze nicht nur auf der Ebene der Lehrpläne, sondern ebenso hinsichtlich des Gelernten lege es daher nahe, auch mit mittelfristi-gen Transformationsprozessen des Toleranzgedankens statt durchgängiger etatistisch durchgesetzter Konfessionalisierung zu rechnen.
Indes konnten nicht alle der genannten Beiträge den Konfessionalisierungsansatz für ihre Gegenstände nutzen. In besonderem Maße gilt dies auch für den Vortrag von Lutz KOCH (Bayreuth), der die Tagung um eine luzide wissenschaftsgeschichtliche Studie zu Comenius> Methodendenken bereicherte. Koch vergewisserte sich zu-nächst der Kritik G. BUCKS an COMENIUS> platonisierender Teleologie sowie der Analysen W. SCHMIDT-BIGGEMANNS, der die Fundierung der synkritischen Methode in der Offenbarungstheologie aufgezeigt hat. Jenseits dieser vormodernen Züge gelte es, COMENIUS> Modernität in den von ihm herausgearbeiteten Formalkriterien des methodischen Denkens zu suchen. Der Gang des Lernens, so KOCH, sei durch Me-thoden der Analyse und Synthese bestimmt; das Lernen folge mithin nicht dem ver-meintlichen Wesen der Sache, sondern vollziehe sich gemäß dem methodischen Entwurf. Hierin sei eine Parallele zu DESCARTES festzustellen, und hierin erweise sich COMENIUS> Modernität. Ungeachtet dessen, ob man diesen Schluss teilt oder nicht: L. KOCHS Beitrag machte deutlich, dass für die Frage nach den Grundlagen moderner Pädagogik der Rekurs auf sozialgeschichtliche Modelle nicht hinreichend ist. Vielmehr erfordert die Aufhellung dieser Frage stets auch philosophie- und wis-senschaftsgeschichtliche Zugangsweisen und die Explikation theorieimmanenter Zu-sammenhänge. Dies wurde in dem sich anschließenden Vortrag über I. DE LOYOLA leider nicht geleistet. Dieser Vortrag blieb dem obsoleten historiographischen Muster einer Helden- und Heiligenverehrung verhaftet.
An dem Status, der der Wissenschafts- und Theoriegeschichte für die Frage nach den Anfängen moderner Pädagogik zugemessen wurde, und an der Bereitschaft, den sozialgeschichtlichen Konfessionalisierungsansatz zu applizieren oder nicht, zeigten sich nun deutliche Differenzen zwischen den einzelnen Disziplinen. Diese Differen-zen mögen zunächst damit zusammenhängen, dass die Historiker sich mit dem frag-lichen sozialgeschichtlichen Ansatz auf einheimischem Terrain bewegten, während er für die Vertreter der anderen Disziplinen einen Theorieimport darstellte. Was für letztere die Rezeption des Ansatzes darüber hinaus erschwerte, hat vermutlich mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen davon zu tun, was als soziale Wirklichkeit an-zusprechen ist. Für die Sozialhistoriker wird diese Wirklichkeit primär von städti-schen und staatlichen Verwaltungen, Alphabetisierungsraten, in Daten fassbaren ma-teriellen Lebensbedingungen und in Bildungsinstitutionen repräsentiert. Die Referenten der Pädagogik, aber auch der Germanistik und der Kunstgeschichte bezogen demgegenüber auch die durch Lehr- und Lerninhalte, Kunstwerke und das Gespräch über solche Objektivationen repräsentierten geistigen und ästhetischen Wirklichkeiten in ihre Untersuchungen mit ein. Dass diese divergierenden Herangehensweisen zu divergierenden Bewertungen des Konfessionalisierungsansatzes sowie der Tagungsergebnisse insgesamt führten, konnte nicht ausbleiben.
Dies zeigte sich auch in der Abschlussdiskussion. Von Seiten der Sozialhistoriker wurde kritisch vermerkt, die Ergebnisse der historischen Bildungsforschung seien nicht in befriedigender Weise auf den Konfessionalisierungsansatz als „Auslegeord-nung“ (SUTER) zurückbezogen worden. Zudem habe sich wiederum bestätigt, dass die Historiker eher an den gesellschaftlichen Folgen und sozialen Sedimentationen von Ideen interessiert seien, während die Erziehungswissenschaftler nach wie vor ideengeschichtlichen Verfahren verpflichtet seien. Der Einschätzung der Historiker wurde von erziehungswissenschaftlicher Seite teilweise widersprochen. Die Ergeb-nisse der historischen Bildungsforschung hätten gezeigt, dass insbesondere die Kon-fessionalisierung auf der Ebene der philosophischen und wissenschaftlichen Kultur nicht gelungen sei. Jenseits der obrigkeitlich betriebenen Nützlichkeitsorientierung der schulischen Ausbildung habe sich spätestens in der zweiten Hälfte des 17. Jahr-hunderts die erneute Bevorzugung solcher Lehrinhalte gezeigt, die der Aristoteli-schen epistéme zugehören. Im übrigen wurde geltend gemacht, dass diese konfessi-onsübergreifende Wiederkehr von theoretisch-epistemischen Lehrinhalten mehr be-deute als eine ideengeschichtliche Entwicklung. Vielmehr zeuge dies, gerade auch mit Blick auf die transkonfessionelle Formierung der Eliten, von einer sozialen Rea-lität sui generis.

Naturgemäß konnten diese Kontroversen nicht behoben werden. Dies ist indes kein prinzipieller Einwand gegen Konzept und Durchführung der Tagung. Denn wis-senschaftliche Forschung lebt von solchen Kontroversen. Jedenfalls ist deutlich ge-worden, dass der Konfessionalisierungsansatz für die Erforschung der frühneuzeitli-chen Pädagogik aus erziehungswissenschaftlicher Sicht nur bedingt tauglich ist. So ist der Ansatz sicherlich relevant für weitere institutionengeschichtliche Forschun-gen, nicht aber für die Aufhellung der Kanon- und Curriculumgeschichte. Aber auch diese Reduktion der Reichweite eines wissenschaftlichen Modells bedeutet einen Erkenntnisgewinn.
Prof. Dr. Stephanie HELLEKAMPS, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, In-stitut für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik, Bispinghof 5/6, 48143 Münster, hellekam@uni-muenster.de

Erfassungsdatum: 15. 08. 2003
Korrekturdatum: 02. 04. 2004