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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Conrad, Anne
Titel: Anfänge und Grundlegungen moderner Pädagogik im 16. und 17. Jahrhundert
Erscheinungsjahr: 2003
zusätzl. Angaben zum Autor: Universität des Saarlandes, FR 3.3 Institut für Katholische Theologie
Text des Beitrages:

 Die Frage nach den frühneuzeitlichen Wurzeln der modernen Pädagogik war Thema einer international und interdisziplinär besetzten Tagung, die Ende November 2002 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld stattfand, initi-iert vom Arbeitskreis Vormoderne Erziehungsgeschichte (AVE), organisiert und ge-leitet von Hans-Ulrich MUSOLFF (Bielefeld), Anja-Silvia GÖING (Hamburg) und Andreas SUTER (Bielefeld). So naheliegend diese Frage nach den „Anfängen und Grundlegungen“ ist, so schwer schien es, interdisziplinär konsensfähige Antworten darauf zu finden. Die unterschiedlichen Denkvoraussetzungen und Erwartungen der Historiker, Pädagogen und Theologen erwiesen sich als spannungsreich und letztlich kaum miteinander vereinbar.
Als heuristischer Schlüssel zum Verständnis der Politik-, Sozial- und Theologie-geschichte der Frühen Neuzeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten das Konfes-sionalisierungsparadigma erwiesen. Die Frage, ob und wie weit die Kategorie „Kon-fessionalisierung“ auch für das Verständnis der frühneuzeitlichen Erziehungs- und Bildungsvorstellungen hilfreich und sinnvoll sein kann, gehört dagegen in der histo-rischen Pädagogik noch nicht zum Standardprogramm. Ziel der Bielefelder Tagung war es, hier anzusetzen und mit dem Konfessionalisierungskonzept im Anschluss an die Geschichtswissenschaft für die (historische) Pädagogik neue Perspektiven zu er-öffnen.
So rekapitulierte Andreas SUTER in seinem Eröffnungsvortrag das von Wolfgang REINHARD und Heinz SCHILLING entwickelte Konfessionalisierungsparadigma und erläuterte daran anschließend das Konzept der in fünf, recht ungleichgewichtige Sek-tionen gegliederten Tagung. In einem ersten Teil widmeten sich zwei Grundlagen-vorträge dem Zusammenhang von „Konfessionalisierungsforschung und Bildungs-geschichte“ aus allgemeinhistorischer (Stefan EHRENPREIS) und erziehungswissen-schaftlicher Sicht (Rudolf W. KECK). Bereits hier wurde erkennbar, wie unterschied-lich das gleiche Thema – je nach Perspektive – akzentuiert werden kann. Während EHRENPREIs den heuristischen Wert der Konfessionalisierungstheorie für das Thema „Bildung“ hervorhob, dabei auf den Vorsprung der angelsächsischen und französi-schen Forschung verwies und konkret auf konfessionell spezifische Entwicklungen einging, betonte KECK die der Konfessionalisierung zeitlich und inhaltlich vorauslie-genden prägenden Grundlagen der neuzeitlichen Pädagogik in Humanismus und De-votio moderna. Beide Referenten wiesen dabei auf die Bedeutung der spätmittelalter-lich-vorkonfessionellen und frühneuzeitlich-konfessionalistischen Katechese und Katechismusliteratur hin, deren Erforschung für den deutschsprachigen Raum noch in den Anfängen steckt. Das Beispiel verweist zugleich auf die Notwendigkeit, die Theologie- und Kirchengeschichte einzubeziehen. Ein ursprünglich geplanter, dann aber leider nicht realisierter analoger Grundlagenvortrag aus Sicht der Kirchen- und Theologiegeschichte wäre hier überaus sinnvoll gewesen.
In den beiden folgenden Tagungssektionen wurden konkrete Fallstudien zur Dis-kussion gestellt – zunächst aus Berlin (Agnes WINTER über die fünf ältesten Berliner Gelehrtenschulen), Erfurt (Andreas LINDNER über Erfurts bikonfessionelles Schul-wesen; im übrigen einer der wenigen Vorträge, der auch das Mädchenschulwesen berücksichtigte!) und der „ostwestfälischen Provinz“ (Jens BRUNING über die Latein-schulen in Minden, Herford und Bielefeld), dann aus der Schweiz: Daniel TRÖHLER suchte die Prägung des Schweizer Stadtbürgertums durch den italienischen Huma-nismus, genauer: durch MACHIAVELLIS Tugendbegriff und dessen Wandlung von ei-ner politischen zu einer pädagogischen Kategorie vor dem Hintergrund der Konfes-sionalisierung aufzuzeigen. Thomas MAISSEN stellte den Zusammenhang mit der Frühaufklärung her, die in Zürich im späten 17. Jahrhundert einsetzte und dem Bil-dungswesen neue Konturen gab: Die konfessionell geprägte, an die traditionellen Institutionen gebundene Erziehung trat zurück hinter die Selbstbildung der Bürger durch Vorträge und Diskussionen in kirchlich und politisch unabhängigen „Colle-gia“.
Die vierte Sektion widmete sich Johann Amos COMENIUS (Lutz KOCH) und Ignati-us VON LOYOLA (Luisa Margarita SCHWEIZER) und damit zwei Persönlichkeiten, die für das frühneuzeitliche Bildungswesen überaus einflussreich wurden. Beiden Refe-renten war daran gelegen, die geistesgeschichtliche „Modernität“ ihrer Protagonisten herauszuarbeiten, offen blieb jedoch, wie die jeweiligen Konzepte und Methoden im Kontext der Konfessionalisierung zu verorten und zu problematisieren sind.
Die letzte Sektion stellte schließlich explizit die in den verschiedenen Unterrichts-systemen vermittelten Lehrinhalten zur Diskussion: Anja-Silvia GÖING sprach über „Naturphilosophie und Ethik in der Theologischen Lehranstalt in Zürich“, Simone DE ANGELIS über Melanchthons „De anima“ im Kontext von Medizintheorie und re-formatorischer Theologie, Hans-Ulrich MUSOLFF über die Metaphysik an westfäli-schen Gymnasien, Ulrich PFISTERER über Kunst in frühneuzeitlichen Curricula und – einer der interessantesten Vorträge! – Frauke BÖTTCHER über Formen mathemati-scher und naturwissenschaftlicher Wissensvermittlung. So anregend diese Beiträge im einzelnen waren, so sehr wurde doch deutlich, dass die Konfessionalisierungsfor-schung in der historischen Pädagogik noch wenig Fuß gefasst hat. Das analytische Instrumentarium des Konfessionalisierungsparadigmas wurde allenfalls ansatzweise genutzt und seine heuristische Funktion im wesentlichen auf die Frage nach der Kon-fessionszugehörigkeit reduziert.
In der Abschlussdiskussion wurde diese Problematik aufgegriffen und unter-schiedlich bewertet: Während die Pädagogen betonten, dass von der Tagung wichti-ge Impulse für die Erforschung der frühneuzeitlichen Pädagogik ausgegangen seien, wurde seitens der Historiker bemängelt, der Anspruch, das Konfessionalisierungs-konzept zum Tragen zu bringen, sei nur unbefriedigend eingelöst worden, ein Ein-wand, der aus Sicht eingefleischter Konfessionalisierungshistoriker sicher berechtigt ist, der aber übersieht, was als eigentlicher Gewinn der Tagung festzuhalten ist: Me-thodisch und thematisch sehr unterschiedliche Zugänge zur frühneuzeitlichen Päda-gogik wurden interdisziplinär miteinander ins Gespräch gebracht. Es wäre zu hoffen, dass sich dieses Gespräch fortsetzen lässt – in kritischer Offenheit, aber auch in ge-genseitigem Respekt für den jeweils anderen Standpunkt.
Eine Publikation der Tagungsbeiträge wird unter dem Titel „Anfänge und Grund-legungen moderner Pädagogik im 16. und 17. Jahrhundert“ von Hans-Ulrich MUSOLFF und Anja-Silvia GÖING herausgegeben und soll in der Reihe „Beiträge zur Historischen Bildungsforschung“ (Böhlau Verlag, Köln, Weimar) noch im Jahr 2003 erscheinen. Für 2004 ist eine weitere vom Arbeitskreis Vormoderne Erziehungsge-schichte (AVE) veranstaltete Tagung zum Thema „Elementar- und Be-rufs(aus)bildung in und außerhalb der Schule vom 15. bis 17. Jahrhundert“ (s.o.) ge-plant (Kontakt: hans-ulrich.musolff@uni-bielefeld.de; goeing@unibw-hamburg.de).
Dr. Anne CONRAD, Universität des Saarlandes, FR 3.3: Institut für Katholische Theologie, Postfach 151150, 66041 Saarbrücken, anne.conrad@t-online.de

Erfassungsdatum: 15. 08. 2003
Korrekturdatum: 02. 04. 2004