Text der Rezension: |
Seit den Ergebnissen der
ersten PISA-Studie ist in Deutschland eine
Debatte um eine stärkere Schulorientierung des Kindergartens
entstanden. Auch in der Geschichte dieser Einrichtung sind
widerstreitende Konzepte erkennbar, die mehr die freie und kreative
Entfaltung des Kindes oder die intellektuelle Unterweisung sowie
religiöse oder politische Elemente betonen. Einhergehend mit den
sozialen Auswirkungen der einsetzenden Industrialisierung entstanden -
ausgehend von Frankreich und England - seit dem Ende des 18.
Jahrhunderts Ansätze einer institutionalisierten
Kleinkindererziehung. Kleine Kinder sollten nicht unbeaufsichtigt sich
selbst überlassen bleiben, während die Mutter in der Fabrik
arbeitete, sondern während dieser Zeit versorgt, gepflegt und
beschäftigt werden. Der drohenden Verwahrlosung sollte auf diese
Weise vorgebeugt werden. Frauenarbeit war vielleicht nicht der
ursächliche Auslöser für die Institutionalisierung der
Kleinkindererziehung, sicherlich aber der Grund für ihre
Verbreitung im 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Die “Warteschulen“ älterer Prägung konnten diese Aufgabe nur
unzureichend bewältigen. Zur ursprünglichen Bewahr- kam in
den Einrichtungen öffentlicher Kleinkindererziehung am Ende des
18. und Anfang des 19. Jahrhunderts die Erziehungs- und auch
Unterrichtsfunktion hinzu. Vor Einführung bzw. Durchsetzung der
Schulpflicht war der Besuch einer solchen Anstalt im Kindesalter oft
die einzige Möglichkeit, Lesen, Schreiben und Rechnen wenigstens
rudimentär zu erlernen, so dass die Aufnahme dieser Elemente auch
von sozialemanzipatorischem Interesse war. Die Anfänge einer
pädagogischen Konzeption öffentlicher Kleinkindererziehung
werden bei Friedrich Oberlin gesehen, bei dem die so genannten
“Strickschulen“ einen Bestandteil umfassender sozialer
Reformmaßnahmen bildeten. In Deutschland entwickelten sich aus
den Bewahranstalten und unter Rezeption der Schriften des
Engländers Samuel Wilderspin das Konzept der “Kleinkinderschule“,
das durch Theodor Fliedner eine religiöse Prägung erhielt.
Wichtige Impulse erhielt die Kleinkindpädagogik dann von Friedrich
Fröbel, dessen Ideen für die Entwicklung des “Kindergartens“
prägend werden sollten und weitergetragen wurden von den
Vertretern und vor allem Vertreterinnen der so genannten
“Fröbel-Bewegung“. Nach und nach breitete sich die
öffentliche Kleinkindererziehung im Laufe des 19. Jahrhunderts
aus, getragen meist von Vereinen konfessioneller Prägung, wobei
die historischen Namen konkreter Einrichtungen (Kindergarten,
Bewahranstalt, Kleinkinderschule usw.) mit den jeweils vertretenen
Konzepten häufig nicht übereinstimmten. Auch entstanden immer
mehr Ausbildungsstätten für Kindergärtnerinnen.
Zunehmend griff der Staat mit Erlassen in den Bereich öffentlicher
Kleinkindererziehung ein; kommunale Einrichtungen entstanden. Ab der
Jahrhundertwende erhielt die Kleinkindererziehung Impulse aus der neu
entstehenden Kinderpsychologie sowie aus Reformkonzepten wie der
Montessori- und Waldorfpädagogik, die bis heute sowohl als
geschlossene Reformkonzepte existieren wie auch Anknüpfungspunkte
für die eklektizistische Übernahme einzelner Elemente in
anderen Einrichtungen geben. Der nationalsozialistische Staat versuchte
sich auch der öffentlichen Kleinkindererziehung zu
bemächtigen, wurde dort aber insgesamt weniger einflussreich als
etwa im Bereich der Schule. Dennoch wurden Reformeinrichtungen
eliminiert und außerhalb konfessioneller Einrichtungen das
pädagogische Konzept auf nationalsozialistische Propaganda sowie
körperliche Ertüchtigung konzentriert. Nach 1945 knüpfte
man in der BRD zunächst an die Zeit vor 1933 an. Im Zuge der
Bildungsexpansion wurde der Besuch eines Kindergartens dann zum
Bestandteil der Normalbiographie. Didaktische Ideen, z.B. der
Situationsansatz, kamen zum Tragen, der Kindergarten wurde als
Bildungseinrichtung verstanden, blieb aber Bestandteil der Kinder- und
Jugendhilfe.
In der DDR wurde der Kindergarten so bedeutsam wie nie zuvor oder
danach in der deutschen Geschichte. Ein flächendeckendes Angebot
entstand, einerseits um die berufstätigen Mütter zu
entlasten, andererseits um den sozialistischen Menschen zu erziehen.
Abgesehen von den wenigen konfessionellen Einrichtungen bestimmten
zentrale Bildungs- und Erziehungspläne die pädagogische
Arbeit. Der Kindergarten war hier nicht Teil der Kinder- und
Jugendhilfe, wie in der Bundesrepublik, sondern die Eingangsstufe des
schulischen Bildungswesens.
Nach 1990 wurde die Kindergartenlandschaft in den neuen
Bundesländern derjenigen in der Bundesrepublik angepasst,
organisatorisch und bezogen auf das pädagogische Konzept. Die
Chance, den Kindergarten in das schulische Bildungswesen zu
integrieren, wurde nicht wahrgenommen; Bildungspläne wurden
abgeschafft. Erst in jüngster Zeit setzt man sich erneut mit dem
Gedanken eines Bildungsauftrages des Kindergartens und dem Sinn damit
einhergehender Bildungspläne auseinander. Das Buch “Der
Kindergarten“ von Franz-Michael Konrad gibt einen Überblick
über die historische Entwicklung der pädagogischen
Institution Kindergarten in den letzten 200 Jahren.
In insgesamt zehn übersichtlich gegliederten und in sich
abgeschlossenen Kapiteln handelt der Autor die Geschichte der
öffentlichen Kleinkindererziehung in Deutschland ab, an einigen
Stellen ergänzt durch sinnvolle Verweise auf die Entwicklungen im
Ausland. Nach der Schilderung der sozial-, pädagogik- und
geistesgeschichtlichen Voraussetzungen öffentlicher
Kleinkindererziehung in Deutschland um 1800 werden die Anfänge
öffentlicher Kleinkindererziehung in Frankreich und England
dargestellt; anschließend wird auf die Entwicklung in Deutschland
am Anfang des 19. Jahrhunderts eingegangen und die wichtigsten Konzepte
und Personen vorgestellt. Es folgt ein Kapitel zum Kindergarten
Friedrich Fröbels und zur Fröbelbewegung, danach geht es um
die weiteren Entwicklungen vom Kaiserreich über Weimarer Republik,
Nationalsozialismus, BRD, DDR und Wiedervereinigung bis zur Gegenwart.
Ein abschließendes Kapitel befasst sich mit der Entwicklung in
den letzten fünfzehn Jahren und geht dabei auch auf aktuelle
Probleme der öffentlichen Kleinkindererziehung ein, wie z.B. die
Forderungen nach einer gezielteren Schulvorbereitung oder nach einer
Akademisierung der Erzieherinnenausbildung auch in Deutschland. Die
Darstellungsweise des Bandes ist sachlich, klar und verständlich
und konzentriert sich darauf, einen Überblick zu geben. Jedes
Kapitel geht zunächst auf den sozialgeschichtlichen Kontext des
jeweils behandelten Zeitabschnittes ein, in dem die Entwicklungen der
öffentlichen Kleinkindererziehung verortet werden können,
dann auf die institutionelle Entwicklung der Kleinkindererziehung sowie
auf die jeweiligen pädagogischen Konzepte, die Ausbildung des
Betreuungspersonals, die Trägerstruktur und schließlich die
quantitative Entwicklung der Anstalten. Am Anfang jedes Kapitels wird
jeweils ein Gliederungsüberblick gegeben, der die Orientierung
zusätzlich erleichtert, am Ende folgt eine kurze Zusammenfassung.
Deutlich werden insgesamt die Entwicklungslinien zunehmender
Verbreitung, Institutionalisierung und Professionalisierung des
kleinkindpädagogischen Bereichs im Verlauf seiner Geschichte, die
mit dem öffentlichen Eingriff in die Kleinkindererziehung und der
historisch gewachsenen diffusen Trägerstruktur verbundenen
Probleme sowie die sozialgeschichtliche und gesellschaftspolitische
Bedingtheit der organisationalen und konzeptionellen Gestalt
pädagogischer Institutionen und ihrer Veränderungen. Der
Aufbau des Buches ermöglicht es, den Text im Zusammenhang zu
lesen, einzelne Kapitel herauszugreifen oder auch bestimmte
Themenstränge zu verfolgen, wie z. B. die quantitative Entwicklung
des Betreuungsangebots oder die zunehmende Professionalisierung des
Erzieherinnenberufs. Dass bei einem Überblickswerk wie diesem an
vielen Stellen nicht in die Tiefe gegangen werden kann, z. B. bei den
einzelnen pädagogischen Konzepten, beim Zusammenhang von
Fröbel- und Frauenbewegung oder bei den aktuellen Problemen liegt
in der Natur der Sache. Der Band vermittelt keine neuen
Forschungsergebnisse zur Thematik (im Gegenteil, denn z. B. wird das
Kindergartenverbot auf die umstrittene These der Verwechslung von
Friedrich und Karl Fröbel reduziert), sondern fasst vielmehr den
bekannten und “kanonisierten“ Wissensstand zusammen.
Der Anhang enthält Hinweise auf Überblicksliteratur und
Literatur zu ausgewählten Einzelaspekten, Quellensammlungen,
ilddokumentationen sowie auf Museen und Dokumentationszentren.
Leider sind die Quellensammlungen zur Geschichte des Kindergartens wie
die anderen Werke, auf die Konrad hier verweist, fast alle nicht mehr
im Handel erhältlich; gerade die älteren Originaltexte sind
oft auch über Bibliotheken nur schwer zugänglich. Man
würde sich deshalb ausführlichere Auszüge aus den
Quellentexten, auf die Bezug genommen wird, wünschen. Hier
lässt das Buch Desiderate in der aktuellen Fachliteratur wie auch
in der neueren Forschung deutlich werden.
Wegen seiner klaren und verständlichen Sprache, seinem fundierten
Inhalt, seiner übersichtlichen Struktur und seines Preises ist
dieses Taschenbuch besonders auch als Studienliteratur, sei es in
Lehrveranstaltungen, zum Eigenstudium oder zur
Prüfungsvorbereitung, geeignet. Es gibt einen schnellen, trotzdem
zuverlässigen und facettenreichen Überblick über die
Geschichte des Kindergartens in Deutschland und seiner
Vorgängerinstitutionen.
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
PD Dr. Karin Priem
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