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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Kleinau, Elke
Rezensiertes Werk: Sammelrezension: Helene Lange und Gertrud Bäumer
Erscheinungsjahr: 2004
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Prof. Dr. Elke Kleinau
E-Mail: elke.kleinau@uni-koeln.de

Text der Rezension:

 
Mit der von Angelika Schaser vorgelegten Doppelbiographie über Helene
Lange und Gertrud Bäumer, den einflussreichen Vertreterinnen der
sogenannten bürgerlichen Frauenbewegung im Kaiserreich und der Weimarer Republik, ist eine große und seit langem beklagte Forschungslücke in der Historischen Frauen- und Geschlechterforschung geschlossen worden. Bei der Studie handelt es sich um ein vorbildliches Lehrstück biographischer Forschung, die sozial-, geschlechter- und politikgeschichtlich unterfüttert, für verschiedene Wissenschaftsdisziplinen von Interesse sein dürfte. Neben der Geschichtswissenschaft, der Historischen Bildungsforschung und der Historischen Soziologie kommt m. E. auch die Germanistik an Schasers Werk nicht vorbei, da als Quellen u. a. auch das fiktionale Werk Bäumers, ihre im Nationalsozialismus entstandenen historischen Romane, in die Analyse einbezogen wurden.

Über Lange und Bäumer ist in den letzten Jahrzehnten zwar einiges
publiziert worden, aber der größte Teil der umfangreichen Literatur ist
durch eine höchst einseitige Wahrnehmung des Werkes und des Wirkens der beiden Frauen geprägt. In der Erziehungshistorischen Frauen- und
Geschlechterforschung wurde Lange vor allem als Mädchenschulpädagogin
zur Kenntnis genommen. Der "mainstream" der Historischen
Bildungsforschung hat Lange bis vor kurzem fast gar nicht registriert.
Erst mit ihrer Aufnahme in eine jüngst erschienene "Neuauflage" der
"Klassiker der Pädagogik" ist Helene Lange der Aufstieg zur
"Klassikerin" gelungen. (1) Leben und Werk Gertrud Bäumers wird in der
Forschung facettenreicher wahrgenommen. Zwar wird auch sie als
Mädchenschulpädagogin gewürdigt, aber in der Historischen
Frauenforschung betrachtet man sie vor allem als eine führende
Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung und in der Politikgeschichte
als Liberale. Beide Forschungstraditionen existieren weitgehend
unabhängig nebeneinander. Obwohl in der Historischen Frauenforschung die
über dreißigjährige Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Langes und Bäumers
oft thematisiert worden ist, wurde bislang "kaum danach gefragt, welche
Bedeutung diese enge Beziehung für das Leben beider Frauen hatte und
welchen Einfluß die Mentorenschaft Langes auf Bäumers politische und
berufliche Entwicklung gehabt haben könnte." (S. 18)
Nun geht es Schaser nicht nur darum, unser Wissen über zwei historisch
bedeutende Frauen zu erweitern. Die Lebens-und Arbeitsgemeinschaft
beider Frauen soll vielmehr "als herausragendes, zugleich typisches
Beispiel für die Lebensläufe, die Handlungsspielräume und das politische
Wirken von Frauen aus dem Bürgertum" behandelt werden. "Der zwischen
beiden Frauen liegende Altersunterschied von 25 Jahren ermöglicht es,
über die Darstellung zweier Einzelschicksale hinaus von der Mitte des
19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die sich verändernden politischen
Einflussmöglichkeiten und Begrenzungen für das `andere Geschlecht`
deutlich zu machen." (S. 11) Der Untersuchungszeitraum reicht über ein
ganzes Jahrhundert, von 1848 (dem Geburtsjahr Langes) bis 1954 (dem
Todesjahr Bäumers). Darüber hinaus markieren beide Daten aber auch
"Zäsuren der deutschen Frauenbewegung: deren Aufbruch mit der Revolution von 1848 und das endgültige Scheitern einer Reorganisation der `alten Frauenbewegung` in der Bundesrepublik zu Beginn der fünfziger Jahre." (S. 18).
Anhand der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Langes und Bäumers
geht Schaser der Fragestellung nach, "welche Umstände diesen Frauen ein
derart produktives, von der `weiblichen Norm` abweichendes Leben
ermöglichte. Wer oder was ermutigte sie, spornte sie an oder nötigte
sie, traditionelle Bahnen zu verlassen und ein `anderes Frauenleben` zu
wagen?" (S. 20) Schasers Analyse der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft von Lange und Bäumer verdeutlicht beispielhaft, wie sich bürgerliche Frauen
jenseits normativer Anforderungen an Ehe und Familie eine alternative
Lebensform schufen. Die Autorin arbeitet überzeugend heraus, dass die
Konstruktion beider Lebenserinnerungen darauf abzielt, diesen
Lebensentwurf nicht als einen aufgezwungenen, sondern als
selbstgewählten zu präsentieren. In Langes Autobiographie ist zwar nur
von ihrem unstillbaren Bildungshunger die Rede und nicht von Verehrern
und Liebeleien, aber Bäumer weiß sich in ihren Lebenserinnerungen auch
als begehrenswerte Frau in Szene zu setzen, und sie betont mehrmals,
dass sie durchaus die Möglichkeit gehabt hätte, eine Ehe einzugehen. Im
Rückblick platzierten beide Frauen ihre Entscheidung für den
Lehrerinnenberuf in eine Lebensphase, in der noch nicht abzusehen war,
dass sie ledig bleiben würden. Wenn sie auch nicht verhehlten, dass
nicht allein ihr Bildungsbestreben, "sondern auch die wirtschaftliche
Situation die Aufnahme einer Berufstätigkeit nahe legten, stellten beide
indirekt heraus, daß es ein freiwilliger Entschluß war, der keinesfalls
durch nicht zustande gekommene oder gescheiterte Heiratspläne erzwungen wurde." (S. 47)
Nach Langes Tod wurde die alternative Lebensform beider Frauen von
Schülerinnen und Freundinnen zum idealen Mutter-Tochter-Verhältnis
stilisiert. Schaser bevorzugt stattdessen den Terminus "Bostoner Ehe"
und bezieht sich damit auf eine in den neu-englischen Colleges
entstandene Lebensform, die der Schriftsteller Henry James 1885 in
seiner Novelle "The Bostonians" verewigt hat. "Diese Frauen fühlten sich
nicht, wie oft unterstellt als `Sitzengebliebene`, sondern sie sahen
sich als Elite, als Speerspitze einer neuen Frauengeneration, die für
sich das Recht beanspruchte, einen neuen Lebensstil zu kreieren, der
ihre beruflichen Ambitionen unterstützte und nicht, wie die übliche
Rollenverteilung in hetereosexuellen Beziehungen, sie an der effektiven
Ausübung eines Berufes hinderte." (S. 86 f.)
Im 19. Jahrhundert wurden diese Beziehungen von Frauen in der Tradition
"romantischer Freundschaften" gesehen. Man ging davon aus, dass diese
Beziehungen asexueller Natur seien und daher waren sie weitgehend
akzeptiert. Erst als zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutsche Psychiater
und Neurologen Emanzipationsbestrebungen von Frauen mit lesbischer
Veranlagung gleichsetzten, gerieten diese Beziehungen in Misskredit. Ob
diese Sichtweise auch auf ältere oder Paare mit großem Altersabstand
ausgedehnt wurde, lässt sich zwar nicht eindeutig feststellen, von daher
ist es aber nicht weiter verwunderlich, dass sich Lange und Bäumer kaum
zu ihrem Privatleben geäußert haben. Besonders in ihren Autobiographien
wird deutlich, "daß sie sich in ihrem Streben nach gesellschaftlicher
Anerkennung, in den Ritualen der Selbstdarstellung den Gepflogenheiten
der Männer weitgehend angepaßt hatten. Strikt trennten sie in ihren
Autobiographien öffentliches und privates Leben und gestanden letzterem
nur marginale Bedeutung zu, indem sie es weitgehend ausklammerten.
Subjektives, Emotionen wurden weitgehend weggelassen, das Rationale
betont." (S. 88) Die alternative Lebensform hat allerdings weder bei
Lange noch bei Bäumer zu Zweifeln an dem bürgerlichen Konzept klar
gegeneinander abgegrenzter Geschlechteridentitäten geführt. Die
"Polarität der Geschlechter" wurde von ihnen zu keiner Zeit in Frage
gestellt.
Schasers Kapitel zur Mädchenerziehung und Frauenbildung bietet
informierten LeserInnen wenig Neues. Die Autorin präsentiert eine gut
formulierte Zusammenfassung bislang verstreut publizierter kleinerer und
größerer Arbeiten, die sich auf die preußische Entwicklung
konzentrieren. Der neueste Stand zur Geschichte der Mädchen- und
Frauenbildung in Deutschland wird damit nicht eingeholt. In
Weiterführung der bildungshistorischen Pionierstudie James C. Albisettis
(1988) gelingt es ihr allerdings, den Mythos zu demontieren, dass Lange
und Bäumer die Reform der höheren Mädchenbildung allein gegen den
erbitterten Widerstand der gesamten akademischen Männerwelt durchgesetzt hätten. Entgegen dieser Lesart, die bereits in beider Lebenserinnerungen angelegt ist, zeigt Schaser die institutionelle Einbindung Langes und Bäumers in den Reformprozess der höheren Mädchenbildung auf. Während dem ersten bildungspolitischen Vorstoß Langes zur Institutionalisierung und Normierung der höheren Mädchen- und der Lehrerinnenbildung noch kein Erfolg beschieden war, die Petition von 1887/1888 wurde im Preußischen Abgeordnetenhaus nicht einmal behandelt, "kann man sich den Triumph vorstellen, den die 1894 erfolgte Zuziehung Langes zu den abschließenden Beratungen des preußischen Kultusministeriums zu der höheren Mädchenschule und der damals eingeführten Oberlehrerinnenprüfung bedeutete" (S. 69), der nur noch davon übertroffen wurde, dass sie "1906 zusammen mit Bäumer und 20 anderen Frauen vom preußischen Kultusministerium in eine 45köpfige Kommission zur Reform des höheren Mädchenschulwesens berufen wurde." (S. 118)
Hier zeigt sich erneut der Konstruktionscharakter der Autobiographien, der vor allem bei Lange "akzeptiert und selten hinterfragt" worden ist. (S. 53)
Schaser arbeitet heraus, dass die Führungsrolle innerhalb der
bürgerlichen Frauenbewegung Lange und Bäumer keineswegs kampflos
zugefallen ist. Die beiden Frauen waren weder in der persönlichen
Auseinandersetzung noch mit der Feder zimperlich, wenn es darum ging,
ihren Machtanspruch durchzusetzen. Seit der Jahrhundertwende nutzten
Lange und Bäumer gemeinsam die Zeitschrift "Die Frau", um "als
definitionsmächtige Publizistinnen" (S. 93) ihre Interessen
durchzusetzen. Beiträge wurden - wenn nicht von ihnen selbst verfasst
- im weitläufigen Bekannten- und Schülerinnenkreis eingeholt.
Unaufgefordert eingeschickte Manuskripte wurden von Lange nicht selten
scharf und kompromisslos zurückgewiesen. Unliebsame Autorinnen und
Autoren wurden schlichtweg totgeschwiegen. Im "Handbuch der deutschen
Frauenbewegung", vor allem in den Artikeln, für die Gertrud Bäumer
verantwortlich zeichnete, wurde vorbereitet, "was später in der
Publizistik der Frauenbewegung immer wieder aufgegriffen und schließlich
zum Topos erhoben wurde: Durch die narrative Verbindung zwischen dem
Wirken von Lange und den Pionierleistungen von Louise Otto-Peters und
Auguste Schmidt wurde Lange als Vertreterin der ersten Generation der
deutschen Frauenbewegung präsentiert." (S. 100) Diese Konstruktion, bei
der die drei Frauen als Angehörige einer Generation ausgegeben werden,
war zwar reichlich gewagt, immerhin waren Otto-Peters (geb. 1819) und
Schmidt (geb. 1833) 29 bzw. 15 Jahre älter als Lange. Aber die Strategie
ging auf: Bäumer (geb. 1872) stellte sich in einer Publikation von 1920
als Vertreterin der zweiten Generation dar und ihre Schülerinnen
übernahmen als "`dritte Generation` diese eigenwillige Festlegung der
Generationenfolge." (S. 100) Im Handbuch zeigt sich bereits, dass Lange
Bäumer zielstrebig zu ihrer Nachfolgerin aufbaute.
Ab 1920 zog sich Lange allmählich aus dem politischen Leben zurück, die
"Hierarchie in der Arbeitsgemeinschaft der beiden Frauen stand an ihrem
endgültigen Wendepunkt." (S. 197) Jetzt wurde Lange zur Assistentin
Bäumers, die zu einer der bekanntesten Berufspolitikerinnen der Weimarer
Republik avancierte. Den Hauptteil ihrer Arbeitskraft widmete Bäumer
nunmehr ihrer Tätigkeit als Ministerialrätin im Reichsministerium des
Innern und ihrer bis 1932 ausgeübten Abgeordnetentätigkeit für die
Deutsche Demokratische Partei (DDP).
In der Weimarer Zeit führte bildungspolitisch kein Weg an Gertrud Bäumer
vorbei. In der Kaiserzeit hatte sie - in Zusammenarbeit mit Helene Lange
- eine Reihe von reformpädagogisch orientierten Selbsthilfeprojekten
der Frauenbewegung ins Leben gerufen, u. a. die Soziale Frauenschule und
das Sozialpädagogische Institut in Hamburg. Lange hatte für die höhere
Mädchenbildung entscheidende reformpädagogische Impulse gesetzt. Darüber hinaus waren beide Frauen mit den einschlägigen Publikationen von
Friedrich Paulsen, Georg Kerschensteiner, Herman Nohl, Theodor Litt,
Wilhelm Rein und Eduard Spranger vertraut. Die meisten der sogenannten
geisteswissenschaftlichen Pädagogen, die sich als wissenschaftlicher
Flügel der Reformpädagogik verstanden, kannten sie sogar persönlich.
Trotzdem wurde ihr umfassender und breit dokumentierter Anteil an der
Reformpädagogik bislang von der Forschung kaum zur Kenntnis genommen,
ihre pädagogischen Verdienste immer eng auf das Feld Mädchenbildung
begrenzt.
Die Aufarbeitung dieser Ausgrenzung von Frauen aus dem
reformpädagogischen Diskurs gehört mit zu den eindrucksvollsten Passagen dieses Bandes. Anhand des von Hermann Nohl und Ludwig Pallat
herausgegebenen mehrbändigen "Handbuchs der Pädagogik" (1928-1933)
arbeitet Schaser heraus, dass Nohl im Handbuch "eine bis in die
Gegenwart wirkende Kanonisierung der `pädagogischen Bewegung in
Deutschland` vornahm". (S. 203) Die Frauenbewegung wurde mit keinem Wort erwähnt, obwohl Vertreterinnen der Frauenbewegung am Handbuch
mitgearbeitet hatten. Trotz des großen Erfolges, gerade des von Frauen
mitverfassten 5. Bandes zur Sozialpädagogik, "brachte Nohl das
Kunststück fertig, für seine Darstellung der Jugendpflege und der
sozialpädagogischen Ausbildung eine genuin männliche Ahnenreihe
aufzustellen." (S. 203) Mit seiner Darstellung der pädagogischen
Bewegung in Deutschland begründete Nohl eine bis heute wirksame
Traditionslinie, die die bahnbrechenden Publikationen und pädagogischen
Einrichtungen der Frauenbewegung einfach ausschloss.
Dasselbe Verfahren, mit dem Lange, Bäumer und andere Frauen aus dem "Pantheon der Reformpädagogen" (S. 203) ausgeschlossen bzw. gar nicht erst aufgenommen wurden, wiederholte sich übrigens auf parteipolitischer Ebene. Bäumers "führende Rolle in der DDP hinderte selbst den mit ihr befreundeten Theodor Heuss nicht, einen Aufsatz in der Festschrift zu Bäumers 60. Geburtstag zu platzieren, in dem er den Naumann-Kreis als einen Männerbund vorstellte und Bäumer kein einziges Mal nannte." (S.247)
Dass Gertrud Bäumer von der Forschung bislang ausgesprochen zwiespältig beurteilt worden ist, hängt mit ihrer uneindeutigen Haltung dem
Nationalsozialismus gegenüber zusammen. Sie selbst definierte sich als
Gegnerin des Antisemitismus, es gab jedoch ZeitgenossInnen, die sie für
eine verkappte Antisemitin hielten. Bekanntlich verhinderte Bäumer 1919
die Wahl von Alice Salomon als Vorsitzende des BDF. Offiziell unterband
sie Salomons Kandidatur mit dem Hinweis auf die antisemitische
Grundstimmung in der Öffentlichkeit. Dasselbe Begründungsmuster wurde
von ihr verwendet, als es 1924 darum ging, deutsche Kandidatinnen für
den Vorstand des Frauenweltbundes (ICW) zu nominieren.
Bäumers Verhalten nach der Machtübernahme lässt sich am ehesten mit dem Begriff "lavieren" beschreiben.
Außenpolitisch unterstützte Bäumer die Nationalsozialisten bis zuletzt.
Ihr Traum von einem Großdeutschen Reich war ihr so wichtig, dass sie die
Verfolgung, Ausgrenzung und Ermordung von "Nichtarien" und
"Nichtarierinnen" nicht oder nur begrenzt wahrnahm. Ihre Gedanken
kreisten vornehmlich um sich selbst und das eigene Werk. Die eigenen
publizistischen und rednerischen Wirkungsmöglichkeiten wurden
hoffnungslos überschätzt, und der Schaden, den sie durch Anpassung und
selektive Wahrnehmung anrichtete, wurde nicht reflektiert. Bäumer zählte
sich selbst zur Fraktion der "inneren Emigration", die sie dem
politischen Widerstand zuordnete. (S. 331)

Fast zeitgleich mit Schasers Monographie sind zwei Bände mit
kommentierten Texten von Lange und Bäumer erschienen, die von den
Erziehungswissenschaftlerinnen Caroline Hopf und Eva Matthes
herausgegebenen worden sind. Der zuerst erschienene Band dokumentiert
das Engagement Langes und Bäumers für die Mädchen- und Frauenbildung,
andere Bereiche ihres "allgemeinen" Wirkens in Pädagogik und Politik
werden explizit ausgeschlossen, da sie, laut Angaben der
Herausgeberinnen, den Umfang des Bandes überschritten hätten. Die
Auswahl der Texte reduziert demnach die pädagogischen Verdienste Langes und Bäumers auf den Bereich der Mädchen- und Frauenbildung und
reproduziert damit eine Sichtweise, die wieder hinter Schasers Studie
zurückfällt.
Der zweite Band ist dem Erziehungs- und Bildungsdiskurs vom Kaiserreich
bis zum "Dritten Reich" gewidmet. Den Anspruch, man sei angetreten,
eine Forschungslücke zu schließen - nämlich "eine Darstellung von Langes
und Bäumers erziehungs- und bildungspolitischer Position auf der Basis
einer detaillierten Textanalyse", die auch durch Schasers Studie nicht
geschlossen worden sei (S. 7), halte ich insofern für überzogen als eine
Quellenedition diesem Anspruch als Textgattung gar nicht gerecht werden
kann. Die Herausgeberinnen wecken damit Erwartungen, die sie nicht
erfüllen können. Auf der Ebene von Einleitungen bzw. kommentierenden
Texten kann man schwerlich mit einer Monographie konkurrieren. Das fällt
besonders dann auf, wenn Schasers ausgewogener und differenziert
argumentierender Darstellung von Anpassung und Widerstand im "Dritten
Reich" von Hopf und Matthes in ausgewählten Quellentexten vehement
widersprochen wird, als gelte es Bäumers Ruf als Widerstandskämpferin zu
retten (vgl. Bd. 2, S. 100). Selbst innerhalb der Auswahl, die Hopf und
Matthes getroffen haben, lassen sich leicht Gegenbeispiele finden (vgl.
Bd. 2, S. 146, S. 171).
Nun ist die Herausgabe verstreut publizierter und schwer zugänglicher
Quellentexte an sich begrüßenswert, weil damit geeignete
Arbeitsmaterialien für die universitäre Lehre zur Verfügung gestellt
werden. Die Auswahl der Texte in den einzelnen Kapiteln - Band 1 ist
aufgegliedert in Biographisches, Frauenbewegung, Geschlechtertheorie,
höhere Mädchenbildung, Universitätsbildung, Koedukation und Weibliche
Sozialarbeit, Band 2 in Erziehungs- und Bildungstheorie, Schultheorie
und Schulpolitik, Jugend und Jugendbewegung sowie sozialpädagogische
Theorie - erscheint nachvollziehbar. Wäre die Quellenedition von Anfang
an auf zwei Bände hin konzipiert gewesen, hätte man sich auch eine
andere Form der Systematisierung vorstellen können. In dieser Form
erscheint die Mädchen- und Frauenbildung eben doch wieder als "spezielle
Pädagogik", die es von der "Allgemeinen Pädagogik" abzugrenzen gilt.
Jedem Kapitel geht ein einleitender Text voraus, der mit Hinweisen auf
weiterführende Literatur endet. In ihrer Qualität sind die einleitenden
Texte sehr unterschiedlich ausgefallen. Bei den weiterführenden
Literaturhinweisen hat man immer wieder den Eindruck, dass wenig
systematisch ausgewählt worden ist, und auch zwischen Quellen und
Darstellungen nicht unterschieden wurde. Welchen Kriterien zufolge wird
z. B. ein von Meike Sophia Baader verfaßter Aufsatz zu Ellen Key genannt
(2001), nicht aber die von ihr mitverfasste Monographie (1998)? Als
Hintergrundlektüre zur Geschichte von Jugend und Jugendbewegung fehlt
Peter Dudeks "Jugend als Objekt der Wissenschaften" (1990), zum Thema
Mädchen in der Jugendbewegung wird lediglich Irmgard Klönnes (1990)
Dissertation genannt, nicht aber die Arbeiten von Marion de Ras (1988)
und Sabine Andresen (1997). Im Kapitel zur Universitätsbildung wird der
ältere Sammelband von Kristine von Soden und Gaby Zipfel von 1977
aufgeführt, nicht aber Claudia Huerkamps 1996 erschienene
Habilitationsschrift "Bildungsbürgerinnen". Die Reihung ließe sich
fortsetzten. Zudem ist bei den Kommentaren zumindest ein nachweisbarer
Fehler enthalten. Bei aller Werkschätzung Gustav Schmollers und seiner
Verdienste um die Frauenförderung, als Nationalökonom war er wohl kaum
dafür geeignet, Gertrud Bäumers Dissertation über Goethes "Satyros" zu
betreuen (vgl. Bd. 1, S. 11). Als Doktorvater fungierte der Germanist
Erich Schmidt. Die neuere Forschung geht zudem auch nicht mehr davon
aus, dass 1865 die Geburtsstunde der bürgerlichen Frauenbewegung in
Deutschland ist (vgl. Bd. 1, S. 37), sondern es wird zwischen einer
ersten Gründungsphase um 1848 und einer zweiten um 1865 unterschieden.
Zur autodidaktischen Weiterbildung von Studierenden sind daher die Bände
nur bedingt geeignet, für den Einsatz in der Lehre werden die
Quellentexte - kritisch reflektiert - durchaus ihren Wert haben.

(1) Vgl. Juliane Jacobi: Helene Lange (1848 - 1930), in: Heinz-Elmar
Tenorth (Hg.): Klassiker der Pädagogik. Bd. 1: Von Erasmus bis Helene
Lange, München 2003, S. 199-215.


Erfassungsdatum: 29. 03. 2004