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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Griese, Christiane
Titel: Von Luther zur interkulturellen Pädagogik - Vom Schulmanagement zur Lehrerbildung
Erscheinungsjahr: 2004
Text des Beitrages:

 
1.Vorbemerkungen
Zuvor scheinen einige erläuternde Bemerkungen notwendig.
Die Aufgabe zur Gestaltung dieses Vortrages weckte (oder erweckte quasi) in mir den Anspruch einer bilanzierenden Perspektive. Wenn inzwischen 18jährige „Kübelböcker“ mit ihren Autobiografien an die Öffentlichkeit gehen, sollte es legitim sein, als 1960er Jahrgang berufliche Bilanz zu ziehen, nicht um damit beamteten Status einzuläuten, sondern um an jenem Zeitpunkt, an dem ich erstmals seit 1990 eine unbefristete Stellung und damit berufliche Verankerung gefunden habe, sich der Strategien professionellen Handelns zu vergewissern, diese zu analysieren und bestenfalls weiterzuentwickeln.
Das Ziel des Beitrages wäre damit eine berufliche Standortbestimmung.
Und zwar – und das wäre als Methode und Inhalt zu bezeichnen – Standortbestimmung durch Rückkopplung, durch Rückbindung an die Schwerpunkte wissenschaftlicher Arbeit der letzten ca. 20 Jahre. Es sollte gelingen, diese – nämlich die Beschäftigung mit Geschichte bzw. Bildungsgeschichte und Schulentwicklung, die Tätigkeit in Bildungsberatung, Schulmanagement und Lehrerweiterbildung – sozusagen frei nach dem Deutungsmusteransatz in der Erwachsenenpädagogik (vgl. Arnold 2001) – in ein Deutungsmuster zu fassen. Das heißt, die Arbeitsfelder ständen nicht mehr wie zufällig nebeneinander, sondern sie werden in einem systematischen Zusammenhang betrachtet. Diese, meine Deutung wäre dann fruchtbar zu machen für jetzige und zukünftige Lehr- und Forschungstätigkeit.
Darauf bezieht sich auch der etwas kryptisch anmutende Titel, der diese verschiedenen Lebens- und Berufsstränge nur anzudeuten vermag.
Zu den Vorbemerkungen gehört auch die Feststellung, dass dies als Versuch zu verstehen ist, auch von einem gewissen pädagogischen Größenwahn getragen ist, doch noch die allumfassende theoretische Begründung als Sinngebung des eigenen pädagogischen Forschens und Handelns zu finden. (Vielleicht ist es auch nur die Denktradition, aus der ich stamme, die von konstruktivistischen Theorien zur Aneignung der Wirklichkeit nichts wissen wollte, vielmehr von der Möglichkeit der Erkenntnis absoluter Wahrheit ausging.)
Der Vortrag gliedert sich in drei Abschnitte. Die ersten beiden sind in der Überschrift angedeutet:
Zuerst – das wäre der Zusammenhang zwischen Luther und interkultureller Pädagogik – möchte ich aufzeigen, dass es für Pädagogik und insbesondere für interkulturelle Pädagogik unverzichtbar ist, sich an Geschichte bzw. Bildungsgeschichte rückzukoppeln, bzw. warum mir solches als unverzichtbar erscheint.
Im zweiten Teil will ich deutlich machen, dass gerade die Erfahrungen in der Lehrerweiterbildung und mit dem Thema Schulentwicklung, speziell im Fernstudiengang „Schulmanagement“, den ich in Kaiserslautern half zu etablieren und betreute, wichtige Impulse für die Gestaltung der Lehrererstausbildung hier an der TU Berlin erwachsen, so wie ich sie deute.
Im dritten Abschnitt gilt es dann die Schlussfolgerungen aus jenen beiden biografischen Strängen für die eigene Tätigkeit zu ziehen. Ich werde zeigen, welche insbesondere bildungshistorischen Inhalte und Perspektiven mir bei der Betrachtung interkultureller Erziehung und Bildung wichtig sind und wie sie in der Lehrererstausbildung umzusetzen sind.
Und eine letzte Vorbemerkung: Ich möchte einem Erschrecken vorbeugen: Ich werde keine Selbstanalyse betreiben und ich werde Ihnen keine 95 Thesen anschlagen, wie dereinst Luther in Wittenberg. Nichtsdestotrotz präsentiere ich meine Überlegungen Ihnen vorerst thesenhaft, und würde mich freuen, damit eine Disputation anzuregen.

1. Von Luther zur interkulturellen Pädagogik
Luther steht nicht dafür, dass ich Ihnen einen historischen Überblick zur Bildungsgeschichte geben möchte, in dem Falle würde ich eher bei Platons Höhlengleichnis begonnen haben, oder gar bei dem auf Tontafeln 1700 v. Chr. festgehaltenen Gilgamesch-Epos, das Rainer Winkel in einem Artikel als den ältesten pädagogischen Text ausweist. Nur kurz Ihnen zur Erbauung: Hier wird eine Sage erzählt, wie ein Mensch zum Menschen wird und zwar durch Liebe und sei es – wie in diesem Fall - die einer Hure. Ihr – der Liebe – gelingt es, sogar den unter Tieren aufgewachsenen Enkidu zu vermenschlichen. In dem Epos werde – so Winkel − eine vergessene Botschaft über Erziehung und Bildung, die nicht auf Gewalt oder Dressur, Verwöhnung oder Selbstregulierung setzt, sondern auf die Liebe zum Menschen, übermittelt. (Platon 1999)
Luther bezeichnet vielmehr in erster Linie eine Zäsur mit biografischem Hintergrund, weil sich mit Luther der Beginn meiner beruflichen Laufbahn verbindet: Ich promovierte über dessen Korrespondenzen und Aktivitäten während des Bauernkrieges bzw. gegen die „räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ 1525/24.
Damit hatte ich mich auch mit einem Mann beschäftigt, der sich – u. a. gemeinsam mit Philipp Melanchthon - um – was mich damals noch nicht so interessierte - Bildungsangelegenheiten bekümmerte: In seiner Schrift „An den Christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ (1520) und dem späteren Appell an die „Ratsherren aller Städte deutschen Landes“ (1524) forderte er auf, „allergrößte Sorge und Fleiß aufs junge Volk zu lenken“. Er setzte sich für eine allgemeine Bildung ein und legte diese in die Verantwortung der Obrigkeit. Insbesondere verdeutlichte er der Obrigkeit die staatserhaltende Funktion von höherer Bildung. Dies zu gewährleisten schien ihm vor allem ausgebildetes Personal notwendig - gerade nach den Erfahrungen des Bauernkrieges: „denn E.F.G. siehet wohl, wie man die Welt nicht allein mit Gewalt jetzt regieren kann, sondern muß gelehrte Leute haben, die mit Gottes Wort helfen das Volk durch Lehren und Predigten halten, und freilich, wo nicht Lehrer und Prediger wären, weltliche Gewalt nicht lange stehen würde…“. So schreibt er am 20. Mai 1525 an Herzog Johann Friedrich von Sachsen.
Aber es soll auch kurz auf den systematischen Zusammenhang zu Luther verwiesen werden: Oelkers meint in seiner „Theorie der Erziehung“ (2001), dass nach und mit Luther im eigentlichen erst die Begriffsgeschichte der „Erziehung“ begann, indem der Begriff mit Wert aufgeladen worden sei. Die Begriffs-Konstruktionen hätten sich seither immer auf die Seele des Menschen bezogen und Einwirkungen beschrieben: „Erziehung ist (seit dem) Formung zur Tugend, zunächst ausschließlich zur christlichen Tugend, später zu allen säkularen Tugenden, ohne dass sich die begriffsgeschichtliche Präferenz und Potenz verändert hätte.“ (Oelkers 2001, S. 31)
Ich könnte nun zwei Wege gehen, um Ihnen den von mir gedeuteten notwendigen Zusammenhang zwischen Bildungsgeschichte und Verständnis von Pädagogik bzw. interkultureller Pädagogik nahe zu bringen. Einmal indem ich diese Relevanz durch historische Beispiele nachweise und dokumentiere, aber da befürchte ich, dass ich Eulen nach Athen tragen würde. Ich möchte eher auf den Umstand eingehen, dass Pädagogik m. E. nach an „historischer Bodenständigkeit“ verliert und dass dies letztlich in ihrer eigenen Disziplingeschichte begründet ist.
Ich selbst konnte während meiner Tätigkeit am DIPF solch einen Prozess der Zurückdrängung bildungshistorischen Wissens und gleichzeitige Überlagerung durch empirische Bildungsforschung miterleben. Ich befürchte, dies ist ein disziplinärer Trend; auch bestimmend ist für die derzeitige Bildungsreformdiskussion. So erlebte es Heinz-Elmar Tenorth während seiner Tätigkeit in Bildungskommissionen und berichtete auf der letzten Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Bildungsverwaltung über "Glanz und Elend der Politikberatung im Bildungswesen", dass Bildungsgeschichte nur noch "Unterhaltungswert“ habe.
Die Ursache für den Verlust an historischer und außerdem philosophischer Fundamentierung der Erziehungswissenschaft sehe ich in den historischen Entstehungszusammenhängen der Disziplin selbst begründet. Das historische Beispiel Berlin bzw. der Berliner Universität kann dafür als Beleg dienen:
Im Gründungsjahr der Berliner Universität im Jahre 1810 wurde in Preußen das "examen pro facultate docendi" für Kandidaten des Lehramtes an höheren Schulen nach Vorstellung Wilhelm von Humboldts eingeführt. Es sollte die "Tauglichkeit der Subjekte für die verschiedenen Arten und Grade des Unterrichts im Allgemeinen" prüfen - pädagogisch-didaktische Kenntnisse werden nicht gefordert. Kam es im 19. Jh. auch noch nicht zur Institutionalisierung eines pädagogischen Lehrstuhles, so wurden dennoch pädagogische Vorlesungen gehalten - in der Regel von Philosophieprofessoren wie Friedrich Paulsen oder Wilhelm Dilthey und früher schon von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, später von Eduard Spranger.
Außerdem kann der Ablauf der erstmaligen Institutionalisierung der universitären Disziplin Pädagogik in Berlin meine Annahme stützen, dass eine Pädagogik als eigenständige Wissenschaft von ihrem Ursprung her nicht ausgereift war, was heißt, sie separierte sich, machte sich selbständig ohne ein ausgereiftes kategoriales System zu haben. Dafür steht auch Johann Wilhelm Himly: Er war Staatsbeamter, Geheimer Kriegsrat und Zensor und derjenige, der kurz nach der Eröffnung der Universität an der Philosophischen Fakultät die "venia docendi" für Pädagogik beantragte und erhielt. Von diesem ist nicht eine Spur weder in der Disziplingeschichte noch in der weiter gefassten Geschichte pädagogischen Denkens zu finden. „Dabei muss er“, so beschreibt es ein Band zur Berliner Universitätsgeschichte (auf den ich mich im Folgenden beziehe), „bei genauerem Hinsehen zu den ersten gerechnet werden, die das Fach Pädagogik nicht aus der Theologie heraus oder in der Kombination ‚Philosophie und Pädagogik’, sondern mit eigenständigem Anspruch eines Redens über Erziehung vertraten.“ (H. Kemnitz, in: Pädagogik unter den Linden 2000, S. 19) Himly war Anhänger von Pestalozzi und was ihn auszeichnete, war, dass er jede Erziehungstheorie daran maß, wie praktisch sie sei. Damit steht am Anfang der Verselbständigung der Disziplin bereits das sie bis heute begleitende Dilemma: ein Theorie-Praxis-Missverständnis.
In diesem Zusammenhang ist auch aufschlussreich, dass noch nach der Gründung der Pädagogischen Abteilung im Philosophischen Seminar 1913 unter F.J. Schmidt bzw. des Pädagogischen Seminars unter Spranger pädagogische Veranstaltungen von Angehörigen anderer Institute oder Seminare angeboten wurden. Die Institutionalisierung war somit zuerst eine Sammlung und Fokussierung philosophischer, philologischer und historischer Themen mit dem Ziel eine bestimmte Berufsgruppe zu professionalisieren. Der Eindruck bleibt latent, dass der Institutionalisierung eigener Lehrstühle und dem damit einhergehenden notwendigen Abgrenzungs- und Legitimationsprozess geschuldet ist, dass die Pädagogik bis heute als Wissenschaft in kategorialen und identifikatorischen Schwierigkeiten steckt.
In jenem Abgrenzungsprozess, der sich im Bezug auf (soziale, politische, ökonomische) Geschichte sowie ihre eigene vollzog, verlor m. E. nach pädagogische Wissenschaft nicht nur ein historisches Bewusstseins ihres Werdens (So erfindet man das Rad in Bildungsreformen gern immer wieder neu z. B., wenn es um schülerzentriertes Lernen geht, um Ganzheitlichkeit u. a. m. Derzeit erleben wir eine Renaissance der ‚Erziehung’, ‚entdecken’ neu die Notwendigkeit von Grenzensetzen), sondern insbesondere ihr kritisches Profil und Potenzial, denn die Geschichte der Pädagogik lässt sich auch als eine Kritikgeschichte schreiben. Schon immer wurde sie von benachbarten Wissenschaften aber auch intern nach ihren wissenschaftlichen Kategorien befragt, an ihre Verantwortung gemahnt, jedoch gleichzeitig in ihre Grenzen verwiesen. Einer der vehementesten Kritiker war Siegfried Bernfeld. In seiner 1925 erschienenen Schrift „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ nennt er unverblümt drei Hauptkritikpunkte:
 Die Pädagogik, d. h. die pädagogische Wissenschaft bürdet Erziehung eine nicht einzulösende Verantwortung auf,
 sie beschreibt Ziele, die mit den Mitteln der erzieherischen Praxis nicht erreichbar sind,
 ihr fehlt die Verbindung zur Praxis.
Er suche vergeblich, so schreibt er, nach den Kriterien für Wissenschaft und er bezweifele die Professionalität der Pädagogen, indem er die Motive für die Berufsentscheidung in der eigenen verdrängten triebwilden Kindheit zu entdecken meint:
„Unbewusste, erkenntnisfremde, unkontrollierbare Einmischung der Affekte findet im Zentrum des pädagogischen Systems statt“. Er diffamiert nicht das Anliegen und die außerordentliche Intuition großer Pädagogen. Aber es sind ihm eben „Leistungen der Intuition“, die aus „dem Tiefen Unbewussten“ entspringen und sich wissenschaftlichen Kategorien bzw. Kriterien verschließen.
„Jede pädagogische Lehre – jede der Dichtungen über Erziehung […] macht eine Aussage über die Realität: Wenn Du meine Methode befolgst, dann erreichst du, dass aus deinen Zöglingen wahr und wahrhaftig jene Menschen werden, von denen als den Idealen oder Zielen ich eingangs sprach. Und diese Behauptung, dieses Versprechen ist das wichtigste Stück der ganzen Lehre, ohne es bestünde sie überhaupt nicht.“ (Bernfeld 1925, S. 32)
Sie werden sich im zweiten Teil meiner Ausführungen wieder an Bernfeld erinnern.
Nun soll daraus nicht folgen, die Profession aufzugeben, ich müsste ja grundsätzlich an meiner beruflichen Entscheidung verzweifeln. Vielmehr regt eben diese Kritik an, über das Verhältnis von Theorie und Praxis, außerdem die Rolle als Lehrender immer wieder zu reflektieren und die Rolle, den Sinn und Zweck von Theorie zu stärken. Um noch einmal Bernfeld zu zitieren: Die Theorie ins rechte Licht zu rücken, hieße, zu begreifen, dass Pädagogik als Wissenschaft nur ihre Existenz legitimieren kann, in dem sie zur „Rationalisierungsinstanz der gesellschaftlichen Prozesse, die wir Erziehung nennen“ (Bernfeld 1925, S. 34), reift und sich auch so darstellt.
Für die Zeit nach 1945 ist sicher Adorno zuerst zu nennen, geht es um die Kritik der Pädagogik: Folgt man ihm, wäre Kritische Erziehungswissenschaft die Methode gegen ein weit verbreitetes Bedürfnis (bereits schon der Studierenden, wie ich in Seminaren immer wieder erfahren konnte) nach Sicherheit, nach Strategien der An- und Einpassung an einen für bereits aus der Studierenden-Perspektive einengenden und angstauslösenden Berufsalltag. Erziehungswissenschaft muss dagegen Zumutungen setzen: Erziehung hätten die Studierenden dann – „in diesem Augenblick des allgegenwärtigen Konformismus“ - zu begreifen als „Aufgabe, Widerstand zu kräftigen“, und eben nicht „Anpassung zu verstärken“ Adorno 1971). Eine Aufgabe, die ihnen interkulturelle Bildung und Erziehung im eigentlichen abverlangt.
Die Bernfeldsche Kritik kann durchaus als schmerzhaft empfunden werden (Kritik wird gern auch abgewehrt, weil sie vermeintlich diskreditiert oder Bedeutung schwächt); das sehe ich anders: Bernfeldsche „Schelte“ kann ebenso gut als Entlastung empfunden werden, indem sie die der Pädagogik gern aufgebürdete ‚Allmacht’, gar gesellschaftsverändernd zu wirken, relativiert. Und – so verstehe ich es – Bernfeld setzt dagegen Bedeutungszuwachs: Indem er den Erziehungsbegriff erweitert, ihn als „gesellschaftlichen Prozess“, der auf eine Entwicklungstatsache, nämlich Kindheit reagiert, betrachtet, gelänge es der Pädagogik, sich von der einengenden Bezugnahme auf die (meist schulisch fokussierte) Praxis zu befreien.
Ich möchte diesen Teil schließen mit Wolfgang Brezinka: Er richtet in seinem neuesten Buch „Erziehung und Pädagogik im Kulturwandel“ (2003) die Kritik vor allem auf die Vermischung von zwei Theorietypen, die ihm das Grundübel bei der Bestimmung und Legitimation der Disziplin zu sein scheinen: die praktische Theorie der Erziehung und die wissenschaftliche Theorie der Erziehung (Erziehungswissenschaft): „Dieses undifferenzierte Gemisch mit vielen Philosophischen Zutaten wurde und wird von seinen Produzenten seit Jahrzehnten als ‚Wissenschaftliche Pädagogik’ ausgegeben. Es ist nach wissenschaftlichen Maßstäben chaotisch und nach praktischen Maßstäben unbrauchbar, schädlich und überflüssig.“ (S. 181)
Um den Bezug zur interkulturellen Pädagogik nun herzustellen: Wolfgang Nieke stellte noch 1995 fest, dass das, was mit interkultureller Erziehung bezeichnet wird, innerhalb der pädagogischen Praxis und der erziehungswissenschaftlichen Theorie einen noch nicht hinreichend geklärten Status hätte. Der Begriff selbst umreiße jeweils einen Teilbereich aus Praxis und Theorie, der als Gegenstand interkulturelle Pädagogik hat.
Die historische Perspektive kann uns die Ursachen dieser Vermischung bzw. Selbstdefinitionsprobleme aufzeigen.
Es wäre noch genauer zu untersuchen, ob eine heute vorschnell eingenommene ablehnend-negative Haltung gegenüber jenen, die auf Traditionen, alte Werte und die Klassiker sich berufen, letztlich die Geschichtslosigkeit der Pädagogik noch vorantreibt. Solche Einschätzungen diskreditieren m. E. die Wissenschaft von der Erziehung insgesamt. Die „Macht der Traditionen“, darin werden heute vor allem Hemmnisse und Grenzen von Schulentwicklung vermutet, wird argwöhnisch beäugt. Als Bildungshistoriker muss man zu einem anderen Schluss kommen, denn gerade in Umbruchzeiten fanden Menschen in Überlieferungen Kraft und Mut und Legitimation für Veränderung. So auch die Losung der Reformation und implizit Luthers: Ad Fontes: „Auf der Suche nach den Quellen (der Kirchenväter, der Geschichtsschreibung wie Eusebius von Caesarea oder der Juden wie Falvius Josephus, der griechischen Antike durchdrang besonders die späten Jahrzehnte des 15. und Anfang des 16. Jh. eine Begeisterung, die mitreißend und ansteckend wirkte) pflanzte sich das Bewusstsein eines neuen Aufbruchs und einer allgemeinen Erneuerung durch weiteste Teile Europas fort.“ (Steinmetz 1988, S. 28) Ein Schwung, den keine noch so ausgeklügelte empirische Bildungsforschungsstudie bisher auszulösen vermochte. „Die Grundströmung der Zeit war das überaus lebhafte Verlangen, zu den Quellen der Bildung und des Wissens zu gelangen…“ (ebd. S.27) Ad fontes!
Die hier angedeutete Relevanz der Besinnung auf die historischen Wurzeln für das Selbstverständnis und Selbstwertgefühl der Disziplin betrifft in gleichem, wenn nicht höherem Maße die interkulturelle Pädagogik. Sie ist mit dem Erbe der allgemeinen Pädagogik belastet, jedoch zusätzlich mit ihrer Herkunft: der Ausländerpädagogik. Theorie-Praxis-Missverständnisse sind womöglich noch stärker ausgeprägt, da sich die Teildisziplin ganz direkt aus praktischen (und akut zu befriedigenden) Bildungsbedürfnissen entwickelte, der Anwesenheit von Kindern nichtdeutscher kultureller und sprachlicher Herkunft in deutschen Schulen. Nach meinem Verständnis von interkultureller bzw. antirassistischer Pädagogik muss sie sich als kritischer Anteil an allgemeiner Erziehungswissenschaft (fast zwangsläufig) definieren, weil sie eben jene Aspekte von Pädagogik und pädagogischem Handeln thematisiert, die aktuelle gesellschaftliche Prozesse von Migration, Integration und Ausgrenzung als Ursachen für sowie in ihren Auswirkungen auf Bildungschancen (oder eben Beschränkungen) für bestimmte Teile der Gesellschaft betreffen. Dabei kommt sie m. E. nicht ohne historische Perspektive aus, die Entstehungszusammenhänge von Rassismus und Unterdrückung und eben auch deren Tradierung durch Bildung und Erziehung bis heute aufzeigen.
2. Vom Schulmanagement zur Lehrerbildung
Während meiner Tätigkeit am Zentrum für Fernstudien und Universitäre Weiterbildung der Universität Kaiserslautern wurde ich mit Fragen und Problemen der Schulentwicklung und – für meinen Zusammenhang wichtiger – mit Theorieabstinenz und Reflexionsverweigerung konfrontiert. Die meist langjährig im Beruf tätigen Lehrer traten den Dozenten als Experten entgegen: ‚Sagt ihr uns nicht, was Schule ist und wie Unterricht zu führen sei.’
Was hat dieser Befund aus der Lehrerweiterbildung in einem berufsbegleitenden Fernstudiengang mit der Lehre und den ersten Lehrerfahrungen hier [an der TU Berlin] zu tun. Gern und voreilig wird unterstellt, dass solche Haltungen Ergebnis langjähriger Routinen seien, Abschleifungs- und Erschöpfungserscheinungen. Meine Vermutung ist eine andere: Theoriemissverständnis und Reflexionsverweigerung bzw. –unfähigkeit werden bereits in den Beruf mit eingebracht, bestimmen womöglich die grundsätzliche „Verwertungsperspektive“ auf das Hochschulstudium. In der Rückschau erkenne ich Argumentationsweisen der erfahrenen Lehrer bei den Studierenden wieder: Manche Studierende wiederholen bereits eins ums andere Mal ihre Vorstellungen, wie Unterricht sich abspielen soll, bei manchen Diskussionen mit den Studenten spüre ich eine gewisse liebenswürdige Arroganz: Vor mir sitzen die zukünftigen Experten; man weiß jetzt schon – gespeist allerdings nur aus eigenen Schulerfahrungen und Alltagsverständnis – um die wirklichen Probleme der antizipierten Berufspraxis, die Dozentin, sie hat wohl nicht wirklich Ahnung von der Realität. Die antizipierten interkulturellen Problemlagen scheinen dann fast übermächtig und lassen manche Studierende schon vor Beginn ihrer Tätigkeit resignieren. Dazu gesellt sich allzu oft „Reflexionsabstinenz“, der ein verkürztes Theorie-Praxis-Verständnis zugrunde liegt, das u. a. in einer Überhöhung der Praxiserfahrung seinen Ausdruck findet: „Auch heute noch werden LehramtsanwärterInnen in der Praxis von Schule und Studienseminar immer mal wieder mit der Formel ‚begrüßt’, nun doch am besten alles zu vergessen, was auf der Universität gelernt wurde; erst jetzt werde das eigentlich wichtige Wissen vermittelt.“(Arnold 2003, S. 164)
Bender-Szymanski hat dazu im Jahr 2002 Ergebnisse einer Untersuchung bei Referendaren vorgelegt, die belegen, dass für die Bewältigung interkultureller Situationen im Unterricht entscheidend war, welche Deutungsmuster diese mitbrachten, in wie weit ihre Bereitschaft und Fähigkeit ausgeprägt war, die Situation zu prüfen und zu analysieren und gewohnte Sichtweisen und Rollenzuweisungen zu hinterfragen. Diejenigen Referendare, die dazu nicht bereit waren, keine Strategien dafür besaßen, neigten sehr schnell zu resignativem Verhalten, sie zeigten sich änderungsresistent, zogen sich auf die schlechten Rahmenbedingungen zurück bzw. betrachteten interkulturelle Situationen oder gar Konflikte als störend, Schüler nichtdeutscher Herkunft ausschließlich unter defizitären Aspekten. Ihr pädagogisches Anliegen bestand darin, den Schülern die Notwendigkeit der Anpassung an das dominante Normen- und Regelsystem verständlich zu machen. Die eigenen Denk- und Handlungsmuster blieben davon unberührt.
„Ad fontes“ - würde hier bedeuten, nach den Ursachen solchen Verhaltens zu fragen; und ich würde damit gern den Fokus – Bernfeld folgend − auf die Persönlichkeit der Studierenden, d. h. der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer lenken: War es im ersten Teil die Geschichte, wäre ihr biografischer (d. h. in der Vergangenheit liegender) Hintergrund jetzt die Quelle, um dieses Phänomen zu entschlüsseln. Damit wäre vermieden, sofort und ausschließlich auf die Rahmenbedingungen und Strukturen für Defizite in der Umsetzung interkultureller Erziehungskonzepte zu verweisen und dort nach Ursachen zu suchen.
Die Person des zukünftig Lehrenden gerät in den Blick. Um darzulegen, dass dies genauso notwendig ist wie der Blick in die Geschichte, um interkulturelle Bildung und Erziehung zu gestalten, möchte ich im Folgenden erwachsenenpädagogisch argumentieren. (Dies sozusagen des Erbe, das ich aus Kaiserslautern mitbringe.)
In der Kompetenzdebatte hat sich in den letzten Jahren die Überzeugung durchgesetzt, dass für eine erfolgreiche „Nachreifung“ in der Weiterbildung – und ich weite dies ausdrücklich auf die höhere, die universitäre Bildung aus (immerhin die Reifeprüfung haben die Studierenden ja schon abgelegt) - früh grundgelegte Emotionsmuster des Einzelnen transformiert werden müssen, soll Kompetenzentwicklung und -zuwachs gelingen (vgl. auch Bernfeld). Dies rückt die „Emotionale Intelligenz“ in den Mittelpunkt der Überlegungen und trägt der Erkenntnis Rechnung, dass Gefühle unseren Verstand wesentlich prägen. Die Frage, ob und inwieweit jemand in der Lage ist, Bekanntes los zu lassen, Neues zu konstruieren und zu gestalten – und dies betrifft ja direkt die interkulturelle Kompetenz - , hat demnach mehr mit seinen grundlegenden emotionalen Mustern zu tun als mit „irgendwelchen“ kognitiven Wissensbeständen oder Kompetenzen.
In diesem Kontext käme es darauf an, dass sich zukünftige Lehrkräfte Veränderungskompetenzen aneignen, denn die Anstöße zur derzeit geforderten und beförderten Veränderung von Schule können nur von innen wirksam werden. Veränderungskompetenz wird verstanden als die Fähigkeit, Wandel zu gestalten und Krisen zu überwinden, setzt somit grundlegende emotionale Fähigkeiten zum Umgang mit Angst (vor Neuem etc.) voraus. Viele Menschen sind durch die Angst vor Veränderung geradezu gelähmt, mindestens doch behindert in ihrer Gestaltungskraft, sie antizipieren vorschnell Probleme und Konflikte, sie suchen Sicherheit in Routinen. Sie folgen Emotionsmustern, die sie sich früh z. B. durch Bedrohungserfahrungen angeeignet und etabliert haben – und zwar bevor sie an die Universität kommen (womöglich werden diese noch verstärkt an der Universität). Diese gilt es im Rahmen tiefgreifender transformativer Lernprozesse bewusst werden zu lassen, um aus ihren lähmenden Wirkungen aussteigen zu können (vgl. Arnold 2003).
Dazu kommt, dass die später in der Berufspraxis erlebte und tradierte systemische „Gefangenschaft“ durch ein spezifisches Theorie-Praxis-Verständnis begründet ist: Handlungsmuster und -routinen, die sich „bewährt“ haben, werden zu einem theoretischen Konstrukt zur Begründung und zur Legitimierung des eigenen Praxishandelns errichtet und gespeichert. Das Ganze wird zusätzlich kompliziert dadurch, dass in diesem Konstrukt eine beabsichtigte Wirkung implementiert ist, dass den Handlungsroutinen bestimmte Wirkungen – und zwar als Kausalzusammenhang – zugemutet werden. Hinterfragt wird dies kaum (vgl. wieder Bernfeld). Dem wäre eine „systemische Gestaltungsprofessionalität“ entgegenzusetzen, die davon auszugehen hätte, dass das Handeln des Einzelnen in einem System Teil eines komplexen Gefüges von Wechselwirkung ist; die Wirkung jenes Handelns kann kaum im Voraus berechnet werden. „Zwischen den Absichten, die wir mit unserem Handeln verbinden, und ihren Wirkungen innerhalb sozialer Systeme besteht ein großer Unterschied“. (Simon 1999, S. 9)
Vielleicht wirkt dies ein wenig eklektizistisch, wenn ich hier wieder Platon bemühe: Dieser schlug sich schon mit dem Wirkungsproblem herum: „Wir müssen daher, so hierüber denken, dass die Unterweisung nicht das sei, wofür einige sich vermessen sie auszugeben. Nämlich sie behaupten, wenn keine Erkenntnis in der Seele sei, könnten sie sie ihr einsetzen, wie wenn sie blinden Augen ein Gesicht einsetzten“. Vielmehr ist es „die Kunst der Umlenkung, nicht die Kunst ihm das Sehen erst einzubilden, sondern als ob es dies schon habe und nur nicht recht gestellt sei und nicht sehe, wohin es solle, ihm dieses zu erleichtern.“ (Platon 1999)
Das bedeutet jedoch nicht, dass der Einzelne, schon gar nicht ein Lehrer, in Resignation verfallen müsste gegenüber diesen komplexen und weitgehend unberechenbaren Wirkungsweisen. Für die Konzeption von Weiterbildungsangeboten und speziell dem Fernstudiengang „Schulmanagement“ kam es vielmehr darauf an, eine in diesem Sinne veränderte Herangehensweise zu konzeptionalisieren, d. h. Kompetenzen, die es erlauben, diese Komplexität und Widersprüchlichkeit aufzudecken, wurden thematisiert. Denn: Nur, wer sich der Relativität des eigenen Wirklichkeitskonzeptes und der Wirkungen des Handelns bewusst wird, hat die Möglichkeit, dieses zu verändern und andere Deutungen sowie Handlungsmuster – zunächst „probeweise“, dann als neue vorläufige Deutungs- und Handlungsroutine nutzend – zu entwickeln. Der Erfolg gab dem Konzept Recht und sollte auch anregen, solche Überlegungen in die Lehrererstausbildung zu implementieren.
Zentrales Anliegen wäre dann, in der Ausbildung die „emotionalen Grundmuster“ einer Person, auf der ihre bevorzugten kognitiven Weisen der Welterkenntnis gewissermaßen aufruhen, anzusprechen. Denn in diesem – vornehmlich angstbesetzten - Bereich gilt es, Veränderungskompetenz zu verwurzeln. Durch die Erkenntnis, dass Machbarkeit und Beherrschbarkeit eine Illusion ist, kann Angst abgebaut und können Potenziale für Veränderung frei werden. Der Einzelne „lernt“, die eigene Steuerungsleistung zu relativieren und Wirkungsunsicherheit auszuhalten. Anzustreben wäre pädagogische Gelassenheit.
3. Schlussfolgerungen
Mein aus der berufsbiografischen Erfahrung und Deutung dieser Erfahrungen erwachsener spezifischer Anspruch an interkulturelle Bildung und Erziehung in Forschung und Lehre muss demnach auf einer historisch basierten, kritisch-reflexiven Pädagogik ruhen.
Das Anliegen meiner Überlegungen besteht vor allem darin, Diskurs anzuregen. Deshalb plädiere ich zusammenfassend für drei grundlegende Veränderungen im Verständnis, im Umgang und vor allem in der „Vermittlung“ pädagogischen Wissens auch und insbesondere im interkulturellen Bereich.
1. Historische Perspektiverweiterung
Horst Fuhrmann hat vor einiger Zeit ein Buch geschrieben „Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit“ (München 1996). Erst die historische Analyse z. B. solcher Themen wie Vorurteile, Stereotypen und Feindbilder, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit weitet den Blick dafür, wie tief unsere kulturellen Deutungsmuster – z. B. von rassistischen Denkmustern durchdrungen und damit auch unsere Vorstellungen von Mensch, Gesellschaft, Natur usw. von diesen Phänomenen geprägt sind. Von der Rasselehre des Nationalsozialismus lässt sich schnell positiv abgrenzen, wie steht es jedoch mit den positiv besetzten Kulturtraditionen – Aufklärung und Philosophie z. B., in die eben auch rassische Vorurteile implementiert sind: „Der Neger stellt, wie schon gesagt worden ist, den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar; von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muss man abstrahieren, wenn man ihn richtig auffassen will: es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden“, schreibt Hegel im 18. Jahrhundert., immerhin ein geachtetes Beispiel deutscher Philosophiegeschichte.
2. Belebung des kritischen, historisch gewachsenen Potenzials
Ich möchte mich hier nochmals auf Adorno (1971), seine Ausführungen im Gespräch mit Becker zur „Erziehung zur Entbarbarisierung“ beziehen. Vom Grund her wird Erziehung – und hier ist interkulturelle Pädagogik direkt angesprochen – im Zusammenhang mit dem Kulturbegriff problematisiert (vorher führte er schon Gedanken über das „Unbehagen in der Kultur“ bezogen auf Freud aus, S. 90). Bereits in dem Begriff der angeblich „kultivierenden Erziehung“, entdeckt er jedoch „barbarische Elemente“: „Ich glaube“, so Adorno weiter, „dass gerade diese repressiven Momente der Kultur in den der Kultur Ausgelieferten die Barbarei produzieren und reproduzieren.“ (S. 122) „Mir scheint, dass […] es einen objektiven Grund der Barbarei gibt, den ich ganz einfach bezeichnen möchte als Scheitern der Kultur. Die Kultur, die ihrem eigenen Wesen nach den Menschen alles Mögliche verspricht, hat dieses Versprechen gebrochen. Sie hat die Menschen geteilt.“ (S. 128) Dieses muss aufklärend den Menschen zu Bewusstsein gebracht werden. (S. 129)
Und wenn ich eine kritische Perspektive anstrebe, dann ist auch der Verweis auf die materialistische Kritik nicht von vornherein auszuschließen: Sie betrachtet die ausschließliche, jedoch verschleierte Funktion von Erziehung zur „gelungenen Anpassung des Menschen an die gesellschaftlichen Erfordernisse“ unter kapitalistischen Verhältnissen als Instrument der Unterwerfung (Wie z. B. in: „Erziehung im Kapitalismus“ von Freerk Huisken (1998) nachzulesen ist, der sich im Übrigen auch mit Rassismus und Ausländerfeindlichkeit befasst hat.).
Für Kritik an interkultureller Pädagogik bedeutet dies eben auch aufzuzeigen, dass sie und wo sie durch die Art und Weise der Fokussierung von Multikulturalität gerade festschreibt, was sie zu problematisieren angetreten ist. Durch die Verwendung des Begriffs Kultur setzt sich interkulturelle Bildung bzw. Interkulturelle Kompetenzentwicklung der Kritik aus, „sich eines Konzeptes zu bedienen, das als Grenzmarkierung gesellschaftlicher Inklusions- und Exklusionsverfahren gekennzeichnet wird, das den Menschen auf seine Zugehörigkeit zu ethnischen Herkunfts- und Abstammungsgemeinschaften festlege, als kollektive ‚Kerker’ das Individuum seines Anspruchs auf Autonomie beraube und rassistische und ethno-nationalistische Ausgrenzungsstrategien im neuen Gewande fortschreibe.“ (Bender-Szymanski 2002, S. 153)
Pädagogik hätte in diesem Spannungsfeld von Kulturalisierung und der Kritik an den gesellschaftlichen und strukturellen Verhältnissen die komplexen Wechselwirkungen zwischen struktureller Diskriminierung und der persönlichen Verantwortung bzw. Gestaltungsmöglichkeit zu thematisieren und auch Wirkmöglichkeiten aufzuzeigen. Ich plädiere für eine kritisch orientierte Erziehungswissenschaft. Um noch einmal Adorno zu zitieren: „Erziehung wäre sinnvoll überhaupt nur als eine zu kritischer Selbstreflexion.“ (Adorno 1971, S. 90) In diesem kritischen Anspruch sollten sich Teildisziplinen nicht weiter separieren und von einander abgrenzen, sondern integrativ interdisziplinär arbeiten. Wenn ich Nieke folge, dann bedarf es im eigentlichen (bei aller Vorsicht) keiner eigenständigen interkulturellen Pädagogik, sondern ich verstehe interkulturelle Erziehung eher innerhalb einer kritischen Pädagogik als regulatives Prinzip, ob und inwieweit erziehungswissenschaftliche Theorien und pädagogische Konzeptionen der dauerhaft zu akzeptierenden multikulturellen Gesellschaft, den daraus erwachsenden gesellschaftlichen An- und Widersprüchen gerecht werden. Und sie sollte die Ausweitung der Perspektive von einem eher schulpädagogisch gelenkten Blick auf die gesellschaftliche Komplexität der Themen und Problematiken unterstützen.
3. Perspektivwechsel: „Blick zurück in die eigene Biografie“
Die Frage der Professionalität, des eigenen Rollenbildes bewegt die Studierenden heftig. Es steht außer Frage, dass ich ihnen im Sinne der Professionalisierung u. v. a. Wissenselementen eine wissenschaftlich begründete und handhabbare Rassismusdefinition mit geben muss, wichtiger scheint jedoch die Anregung selbstreflexiven Potenzials. Lassen Sie mich noch einmal einen erwachsenenpädagogischen Bezug herstellen: Ich beziehe mich dabei auf Arnold und votiere dafür, dass der Studierende mit seinen gerade in interkulturellen Fragestellungen undifferenzierten Deutungsmustern stärker in den Blickpunkt des Interesse des Lehrenden und seines eigenen vor allem rückt. Ich als Dozentin kann mich leicht auf meine fachliche Kompetenz zurückziehen, in dem ich beispielsweise die Ergebnisse neuer Forschungen referiere und damit vermeintlich falsche Deutungsmuster durch die Überzeugungskraft des Wissens verändere. Es ist fraglich, ob dadurch langjährig und erfolgreich verwendete Strategien entkräftet und dazu noch Veränderung angeregt werden können. Um tatsächlich zu einem erweiterten Verständnis der eigenen Deutungen und deren Bedeutungen für das Rollenverständnis im späteren Beruf zu kommen, scheint es jedoch bedeutungsvoller, „sich auch stärker auf die Lebenssituation der Teilnehmer ein(zu)stellen, deren Deutungsmuster als Ausdruck und Ergebnis“ ihrer Biografie zu verstehen und zum „eigentlichen Ausgangspunkt und Inhalt des Bildungsprozesses zu machen“ (Arnold 2001, S.168 ff.) Insofern wird die eigene Biografie als „Lerngeschichte“ sichtbar. Im Interkulturellen Bereich bedeutet das: Weniger den Blick auf das Fremde zu richten, als vielmehr auf die eigene kulturell geprägte, im Sozialisations- und Erziehungsprozess angeeignete „Gefangenschaft“ zu entschlüsseln.

Es gäbe noch andere Schlussfolgerungen zu formulieren, u. a. was veränderte Formen der universitären Lehre betrifft. Es wäre nachzudenken über stärker kollegiale, d. h. teamorientierte Arbeit unter Dozenten, fachübergreifend und systematisch. Das würde bedeuten, authentischer für die spätere Tätigkeit in den Schulen im Bereich Schulentwicklung notwendige Arbeitsformen bereits an der Universität zu erproben; in meinem Verständnis ein sinnvoller und universitär zu vertretender „Praxisbezug“, wie er so gern angemahnt wird.
Ein Blick noch ein letztes Mal zurück in die Geschichte macht deutlich, dass Universitäten eben auch von ihren Anfängen her von Kritik begleitet waren: So äußerte Martin Luther - einer Überlieferung in den Tischreden zufolge: „Die hohen Schulen wären wert, dass man sie alle zu Pulver machte; nichts Höllischer und Teuflischer ist auf Erden kommen von Anbeginn der Welt.“

Literatur
Adorno, Th. W.: Erziehung zur Mündigkeit, Berlin 1971
Arnold, R.: Erwachsenenbildung. Eine Einführung in Grundlagen, Probleme und Perspektiven, Baltmannsweiler 2001
Arnold, R.: „Nun vergesst mal schön, was Ihr auf der Universität gelernt habt!“ Plädoyer für das vernetzte Zusammenwirken unterschiedlicher Wissensformen in der Lehrerbildung, in: PÄDForum 3/2003, S. 164-167
Arnold, R.: Emotionale Kompetenz und emotionales Lernen in der Erwachsenenbildung, Kaiserslautern 2003
Bender-Szymanski, D., Interkulturelle Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern aus der Sicht der empirischen Bildungsforschung, in: Auernheimer, G. (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität, Opladen 2002, S. 153-182
Bernfeld, S.: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung, Leipzig 1925
Brezinka, W.: Erziehung und Pädagogik im Kulturwandel, München Basel 2003
Huisken, F.: Erziehung im Kapitalismus. Von den Grundlügen der Pädagogik und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten, Hamburg 1998
Kemnitz, H.: Johann Friedrich Wilhelm Himly. Ein Pestalozzianer als erster Privatdozent für Pädagogik an der Berliner Universität, in: Klaus Peter Horn/Heidemarie Kemnitz (Hrsg.): Pädagogik Unter den Linden. Von der Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002
Oelkers, J.: Einführung in die Theorie der Erziehung, Weinheim und Basel 2001
Platon: Das Höhlengleichnis. Ausgewählt und kommentiert von R. Winkel, in: Pädagogisches Forum 1/1999, S. 26-48
Simon, F. B., Die Kunst, nicht zu lernen und andere Paradoxien in Psychotherapie, Management und Politik, Heidelberg 1999
Steinmetz, Max: Thomas Müntzers Weg nach Allstedt. Eine Studie zu seiner Frühentwicklung, Berlin 1988







Erfassungsdatum: 19. 11. 2004