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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Bernstorff, Florian
Titel: Bericht ueber das fuenfte Forum junger Bildungshistoriker am 24. und 25. September 2004 in der Bibliothek fuer Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin
Erscheinungsjahr: 2004
Text des Beitrages:

 
Ein reichhaltiges Programm und ein voll besetzter Tagungsraum - einmal
mehr stellte das von der Sektion `Historische Bildungsforschung` der
DGfE und insbesondere von Jörg-W. Link organisierte `Forum` seine
Daseinsberechtigung unter Beweis.

Dies um so mehr, da die vorgestellten Arbeiten methodisch als auch in
der Wahl der Gegenstände das nahezu unübersehbar weite Spektrum der
historischen Bildungsforschung widerspiegelten. Die Referenten forschen
von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Sie bedienen sich so
grundlegend verschiedener Methoden wie der objektiven Hermeneutik oder
dem Inventar der QUAKRI-Forschung. Gleichzeitig wurde eine Tendenz
wieder einmal deutlich spürbar, die Winfried Böhm kürzlich in allerdings
kritisch-pejorativer Absicht als Wandel der sich praktisch verstehenden,
reflektierenden Bildungsgeschichte zu einer "nur scheinbar" normativ
neutralen "pädagogischen Historiographie" beschrieb[1]

Insofern dient das Forum jedesmal wieder auch der Vergewisserung über
den Fortgang in der Disziplin.

In diesem Zusammenhang lässt sich für den ganz überwiegenden Teil der
vorgestellten Arbeiten zumindest ein grober gemeinsamer Rahmen
ausmachen: Im Zentrum des Forschungsinteresses standen diesmal zumeist Übergänge, Krisen, Prozesse, Brüche und Kontinuitäten.

Das gilt in bestimmter Weise z.B. für den Vortrag von Andreas Ledl
(Flensburg) über das "Discere per totam vitam" Martin Luthers. Der
überraschende Befund, dass auch Luther bereits vom "Lebenslangen Lernen" spricht, könne nur aus einer tieferen Einsicht in die Quellen von
Luthers Kreuzestheologie verstanden werden. Erst mit dem
spätmittelalterlichen Übergang zur "philosophischen" Individualisierung
eines Ockham einerseits und zur "religiösen Individualisierung" eines
Tauler andererseits, so Ledl, sei es für Luther möglich als auch
plausibel gewesen, jeden einzelnen Christen dazu anzuhalten "ein Leben
lang zu lernen". Die Geschichtsschreibung des lifelong learning müsse
aufgeben, lediglich nach sinnhaften Analogien des heute gültigen
Konzepts zu suchen. Sie habe zur Kenntnis zu nehmen, dass eine Genese
des Begriffs "Lebenslanges Lernen" aus nahezu gänzlich differenten
Ursprüngen möglich sei.

Kontinuität und Wandel thematisierte Anja Richter (Halle), indem sie in
vergleichender Absicht Schulfeiern und die dort gehaltenen Reden an
verschiedenen Zeiten und Orten unter die Lupe nahm. Als reflexiver
Moment im Schulalltag wurde in dem Vortrag der große Erkenntniswert
deutlich, den die Erforschung solcher Anlässe im Hinblick auf den das
Schulleben beeinflussenden Zeitgeist hat. Es habe z.B., so Richter, eine
über den Raum Schule hinausgehende Bedeutung, dass auch nach
Reichsgründung der Geburtstag des sächsischen Königs an sächsischen
Gymnasien mit wesentlich höherem Aufwand begangen wurde als des Kaisers Wiegenfest.

Oliver Schael (Göttingen) hingegen zeigte am Beispiel des gescheiterten
Aufbaus der "Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft" im
Wilhelmshavener Rüstersiel, wie institutionelle und personelle
Kontinuitäten im westlichen Nachkriegsdeutschland zwar die Etablierung
neuer, demokratischer akademischer Strukturen verhindern konnten.
Gleichzeitig, so Schael, stellte aber die sich darin ausdrückende
Verteidigung der Ordinarien-Universität einen Pfeiler des Fundaments
dar, auf dem sich die Hochschulkrise von 1968 abspielte. Dabei stellte
sich im Vortrag Schaels eindrücklich heraus, wie wenig eindeutig sich
das Beziehungsgeflecht von Opfern und Profiteuren des Nazi-Regimes
innerhalb der Nachkriegsprofessorenschaft charakterisieren lässt.

Einen Wandel ganz anderer Art zeigte Walburga Hoff (Halle) in ihrem
Vortrag zu Schulleiterrinnen an Gymnasien. Gestützt auf qualitative
Interviews, von denen sie exemplarisch zwei vorstellte, unternimmt Hoff
den Versuch, idealtypische Entwicklungsmuster heraus zu arbeiten. So
konnte sie anhand ihres Materials zeigen, wie sich die professionellen
Einstellungen der Schulleiterinnen zwischen den 1960er und 1990er Jahren
auch vor dem Hintergrund der so genannten Verdrängungsthese von der
"Äbtissin der Bildungsreligion" zur "Managerin mit dem Bedürfnis nach
personaler Akzeptanz" wandelten. Inwiefern aus solchen Konstruktionen
eigener Sinnentwürfe auf allgemeinere Entwicklungstendenzen geschlossen
werden kann, ist eine noch zu klärende Frage.

Monika Wickis (Zürich) Projekt schließlich will herausfinden, wie sich
ändernde Lebensverhältnisse den gesellschaftlichen Diskurs über Kindheit
und Jugend beeinflussen. Am Beispiel der Kinderschutzpolitik in der
Schweiz seit Ende des 19. Jahrhunderts stellte Wicki in ihrem
Werkstattbericht die Vermutung auf, dass die Durchsetzung des
Arbeitsverbotes für Kinder und das stetige Heraufsetzen der unteren
Altersgrenzen nicht allein den vertieften Erkenntnissen über den
kindlichen Entwicklungsprozess geschuldet waren. Politisch koinzidierte
dies in der Schweiz auffällig mit Situationen, in denen kindliche
Erwerbsarbeit entweder in Konkurrenz stand zu arbeitssuchenden
Erwachsenen oder Kinderarbeit eine ohnehin nur noch marginale Rolle für
die Wirtschaftsleistung der Schweiz spielten.

Auch die Diskussion der Vorträge spiegelte gewissermaßen einen
methodologischen Trend wieder, der in der pädagogische
Geschichtsschreibung in den letzten Jahren zunehmend Fuß fasst. Es
erschien immer wieder die Frage nach der Analyse des "Kontextes", in den
sich der jeweilige Forschungsgegenstand einbettet.

So in der Arbeit über Friedrich Eberhard von Rochow. Der Vortrag von
Silke Siebrecht beleuchtete gut fundiert durch bislang unerschlossene
Quellen die Funktion und Position Friedrich Eberhard von Rochows als
Domherr in Halberstadt. Zu einem vertieften Verständnis von Rochows
Wirken, so die Rückmeldung, könne diese Arbeit beitragen, wenn sie die
institutionelle Einbindung Rochows ins Licht seiner politischen Motive
setze.

Ganz ähnlich in der spannenden Frage nach der Rolle des Kantorats an
Gymnasien im 18. und 19. Jahrhundert, die Gesa Brümmel aufwarf. Sie
untersucht in ihrer Arbeit die sich wandelnde Rolle des musikalischen
Unterrichts und die damit verbundene Stellung des Kantors zu Zeiten der
"Krise des Kantorats". Als Indiz für diese Krise, so Brümmel, könne die
Stellung des Kantors innerhalb der Rangordnung des Lehrerkollegiums
gelten - allerdings nicht ohne, so die Replik des Auditoriums, auch
lokalspezifische und solche Faktoren zu berücksichtigen, die in der
Person des einzelnen Kantors gelegen haben könnten.

Zu welchen neuen Forschungsergebnissen man durch einen
kontextualisierende Geschichtsschreibung auch in Bezug auf vermeintlich
gut erforschte Zusammenhänge kommen kann, zeigte Rebekka Horlacher
(Zürich) in ihrer Auswertung der Briefe an Johann Heinrich Pestalozzi
aus seiner Zeit in Burgdorf. Durch die Analyse zweier unterschiedlicher
Korrespondenzen konnte sie belegen, dass Pestalozzi Teil einer größeren
Schulreformbewegung in der Schweiz war und nicht das helvetische Genie,
für das er gerne gehalten wird. Wieder einmal zeigte sich, dass nur
zeitaufwändige Archivarbeit wirklich zu Ergebnissen führt, die die
pädagogische Historiographie nachhaltig verändern können.

Besonders wichtig wurde der Hinweis auf die Kontextanalyse im
Zusammenhang mit den Vorträgen aus der quantitativen Untersuchung der
"langen Wellen" des Bildungswachstums. So konnte Corinna M. Dartenne
(Lüneburg) schon auf diesem Symposium die Ergebnisse ihres Projektes
präsentieren, das sie erst zwei Jahre zuvor an selber Stelle vorgestellt
hatte. Recht eindrücklich konnte sie nachweisen, dass langfristige
Wachstumsschwankungen im deutschen Wirtschafts- und im Bildungssystem offensichtlich korrelieren. Um diese Erkenntnis interpretieren zu können, bedürfe es aber einer qualitativen Analyse, um z.B. zu erhellen, warum die vor dem Zweiten Weltkrieg verschobenen Wachstumskurven beider Systeme überraschender Weise nach dem Krieg ein eher gleichförmiges Muster entwickelten.

Wie abhängig eine Kontextualisierung auch von den verwendeten Quellen
ist, zeigte sich im Vortrag von Kerstin Schmeitzner (Lüneburg). Sie
untersucht in ihrer Dissertation den Zusammenhang des Wandels von
Mentalität in den Lehrergenerationen mit den Langen Wellen des
Bildungswachstums. Anhand von Lehrerautobiografien sollen Einstellungen
und Deutungsmuster im Zeitraum von 1800 bis zur Gegenwart untersucht
werden um zu ermitteln, welche Mentalitätsausprägungen die einzelnen
Lehrergenerationen aufweisen. Ziel ist es dabei zu analysieren, welche
historische Entwicklung diese Deutungsmuster auszeichnen. Die Diskussion zeigte, dass allein schon durch die Wahl solcher autobiografischer Quellen eine inhaltliche Selektion gegeben ist. Denn zweifellos gab es auch zeitabhängige Konjunkturen für das Schreiben von Autobiografien.
Schwierig scheint es zudem zu sein, aus diesen Quellen heraus ein
qualitatives und quantitatives Interpretationsraster zu entwickeln.
Möglicherweise bietet sich bei einem so langen Untersuchungszeitraum ein
exemplarisches Vorgehen an.

Noch bedeutsamer wird die Kontextanalyse für die Arbeit von Holger Wloch
(Lüneburg). Eine konsistenter quantitativer Vergleich von Schülerleistungen über einen Zeitraum von mehr als 150 Jahren, wie Wloch ihn vorbereitet, scheint angesichts sich stetig verändernder Leistungserwartungen durch Lehrer und Gesellschaft ein extrem komplexes Unterfangen zu werden - zumal wenn diese als entscheidende Parameter für jede Messung expliziert werden müssten!

Man mag zu der Einlassung Winfried Böhms stehen wie man möchte. Im
methodologischer Hinsicht jedenfalls erscheint die Historische Bildungsforschung im Spiegel ihrer Nachwuchsforscherinnen und -forscher
derzeit weit davon entfernt zu sein, was Böhm als "im Dienste der
pädagogisch Handelnden" stehend bezeichnet - und was aus Sicht der
"pädagogischen Historiographen" den Verdacht erregt, nur mehr
"Applikationshermeneutik"[2] zu sein und sein zu wollen. Ob das Symposium für diesen Trend als repräsentativ gelten kann, soll hier aber nicht diskutiert werden.

Im Namen aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer möchte ich den
Veranstaltenden, insbesondere Jörg-W. Link, Uwe Sandfuchs und Heidemarie Kemnitz herzlich danken. Ihnen ist es einmal mehr gelungen, an bewährtem Orte einen straffen, inhaltsreichen Zeitplan mit einer zwanglosen
Atmosphäre zu kombinieren. Angenehm war auch, dass die meisten der
Anwesenden und insbesondere die Dozentinnen und Dozenten ihre Kritik in
einer Weise vortrugen, die gleichzeitig ermutigend auf die Vortragenden
wirkte.

Florian Bernstorff

Erfassungsdatum: 15. 12. 2004