Rezensent(in): | Brachmann, Jens |
Rezensiertes Werk: | Horn, Klaus-Peter: Erziehungswissenschaft in Deutschland im 20. Jahrhundert : zur Entwicklung der sozialen und fachlichen Struktur der Disziplin von der Erstinstitutionalisierung bis zur Expansion. - Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2003. - 415 S. - ISBN: 3-7815-1271-1 |
Erscheinungsjahr: | 2005 |
zusätzl. Angaben zum Rezensenten: | PD Dr. Jens Brachmann Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Jena E-Mail: s6brje@uni-jena.de |
Text der Rezension: |
Horns Untersuchung wird allerdings nicht allein nur auf Grund des thematisch innovativen Vorgehens den Rang eines erziehungswissenschaftlich-fachhistoriografischen Standardwerkes beanspruchen dürfen, sondern vor allem wegen der hier vorgenommenen Eingrenzung des Untersuchungszeitraumes - der Autor liefert erstmals umfassende Befunde über genau jene Jahrzehnte der Fachentwicklung, die bisher kaum im Mittelpunkt historiografischen Interesses standen. Hatten nämlich die traditionellen Disziplingeschichten (vgl. u. a. Reble 1951, Ballauff/Schaller 1973, Blankertz 1982, Scheuerl 1985) ihre Darstellungen entweder mit Skizzen zur Herausbildung der bildungstheoretischen Konzeptionen des geisteswissenschaftlichen Paradigmas, mit der Würdigung der reformpädagogischen Bewegung oder mit Analysen zur empirischen Grundlegung eines überwiegend (entwicklungs-)psychologisch aspirierten Erziehungswissens im frühen 20. Jahrhundert beschlossen, konzentrierten sich jüngere Studien statt dessen auf die Rekonstruktion des institutionellen Zustandes bzw. die Illustration der kommunikativen Praxis der bundesdeutschen Erziehungswissenschaft seit ihrer sozialwissenschaftlichen Wende in den späten 1960-er Jahren (Keiner 1999, vgl. auch die Befunde des "Datenreport Erziehungswissenschaft" in Otto u. a. 2000). Indem Horn statt dessen aber die Bestrebungen zu einer eigendisziplinären Entwicklung des pädagogischen Milieus ausgerechnet zwischen der so genannten "Erstinstitutionalisierung" in den Jahren der Weimarer Republik und der sich schließlich abzeichnenden "Expansion" des Faches im Zuge hochschulpolitischer Interventionen in den Phasen der Konsolidierung der beiden deutschen Staaten nachzeichnet, können die Phänomene der fachlichen Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Pädagogik erstmals anhand valider Daten verfolgt werden. Eingeleitet wird die Arbeit zunächst durch ein Vorwort
von
Heinz-Elmar Tenorth (vgl. S. 7-10), das die disziplinpolitische Brisanz
der Befunde hervorhebt, vor allem aber auf die Forschungskontexte
verweisen will, durch die die Themenwahl und der methodische Ansatz von
Horns Untersuchung inspiriert wurden. Während nämlich der 209 Druckseiten umfassende, in
Vollständigkeit und Detailliertheit beispielhafte Materialteil auf
Jahre hin die Standards zur Erhebung akademischer Personen- und
Institutionendaten setzen wird, dokumentieren die um immerhin 4 Dutzend
Seiten kürzeren Abschnitte der erläuternden Deutung der
erhobenen Datensätze möglicherweise nur einen ersten Versuch
der Aufarbeitung der erziehungswissenschaftlichen Fachgeschichte im 20.
Jahrhundert. Hervorhebenswert
an der chronologischen "Übersicht über die Professoren [...]
in den einzelnen Untersuchungszeiträumen" (Kapitel 6) wie
insbesondere aber am Verzeichnis "Biographische Daten der
Hochschullehrer der Erziehungswissenschaft an den wissenschaftlichen
Hochschulen 1919 bis 1965" (Kapitel 7) ist die Tatsache, dass Horn hier
eine Kompletterhebung des Milieus akademischer Pädagogik
angestrebt hat und dieses Vorhaben mit außergewöhnlichem,
nicht genug zu würdigendem Aufwand auch verwirklichte. Die
gebotenen Datensätze zu den insgesamt 339 einschlägigen
Protagonisten, die während der Weimarer Republik, während des
Nationalsozialismus, während der Besatzungszeit nach dem Zweiten
Weltkrieg und schließlich in den beiden deutschen Staaten an den
Universitäten und wissenschaftlichen Hochschulen tätig waren,
erfassen in bewundernswerter Vollständigkeit sowohl die soziale
Herkunft, die Umstände der akademischen Sozialisation, die
Qualifikationsprofile, das professionelle Engagement der
Hochschullehrer wie schließlich auch deren Mitgliedschaft in
Berufsverbänden, (fach-)wissenschaftlichen Vereinigungen oder
politischen Organisationen. Mit Ausnahme einer obligatorischen
Erwähnung der Qualifikationsarbeiten verzichtet Horn allerdings
auf Angaben zur publizistischen Tätigkeit der Fachvertreter.
Lediglich bei einigen ausgewählten Professoren finden sich in der
zusätzlichen Rubrik "Herausgeberschaften von
Zeitschriften/Handbüchern/Lexika" zudem noch ergänzende
Angaben zum Publikationsverhalten und zur editorischen Arbeit der
erwähnten Zielgruppe. Mittelbar verweist bereits das erwähnte "Vorwort" auf
dieses
Desiderat. Zwar soll dieser einführende Paratext vorgeblich nicht
dazu dienen, die Studie zu "legitimieren" (vgl. S. 7), auffällig
bleiben dort aber dennoch die Bemühungen, die Befunde im Umfeld
der Wissenschaftsforschung zu kontextualisieren und die Ergebnisse
anschlussfähig zu machen an aktuelle
Debatten zum Zustand des Faches. Insgesamt will das "Vorwort" auf
Themenfelder aufmerksam machen, die "nicht Aufgabe des Autors" seien
(vgl. ebd.). Warum
aber eigentlich nicht? Ist es nicht gerade der Sinn historischer
Rekonstruktion,
Deutungsmuster und Semantiken zu liefern, die über das
Untersuchungsobjekt
selbst hinaus weisen? Darf man die Darstellung eines historischen
Befundes demgegenüber nicht vielmehr als ein systematisches
Argument zur Rechtfertigung
des szientifischen Selbstverständnisses verstehen und hat das
historisch
fundierte Urteil nicht gerade darum Orientierungsfunktion, weil es eine
engagierte
Erkenntnis angesichts einer problematischen Forschungsgegenwart ist? Dass
Horn in der Tat keine kritische Problematisierung der erhobenen Daten
anstrebt, dass er sich stattdessen zurückhaltend - aber jederzeit
kompetent! - in den Dienst seines Materials stellt, wird bereits in der
"Einleitung" offensichtlich. Weil er sich nämlich damit
begnügt, lediglich Chronist des historischen Verlaufs der
Fachentwicklung sein zu wollen, verzichtet er auf einen
kritisch-konstruktiven, systematischen Ansatz zur
argumentativ-heuristischen Aufbereitung seiner Daten. Dies ist
bedauerlich, denn statt die Wirkungsmacht des Materials damit
tatsächlich offensiv zu operationalisieren und - wie eigentlich
beabsichtigt - "strukturelle Momente" der Entwicklung und des Zustandes
der wissenschaftlichen Pädagogik im Untersuchungszeitraum
herauszuarbeiten (vgl. S. 19), skizziert er so lediglich "Trends der
Disziplinentwicklung" (vgl. S. 86, S. 121, S. 166). Als
fragwürdig könnte dieses Vorgehen insbesondere deshalb
erscheinen, weil Horn hier mit einem für seine Zwecke
gänzlich ungeeigneten Disziplinbegriff operiert: Dabei ist es wohl
durchaus legitim, dass er sich bei seinem Vorgehen auf ausgewählte
Arbeiten der jüngeren Wissenschaftsforschung und deren Studien zur
disziplinären Genese
wie fachlichen Binnendifferenzierung beruft (vgl. Stichweh 1993).
Bedenklich muss aber stimmen, wie er diese Forschungsergebnisse
verkürzt und
in ungeeigneter Weise für sich aufbereitet. So folgert er
ausgerechnet aus der Bestimmung der "Disziplin" als
Kommunikationsgemeinschaft - als "Kommunikationszusammenhang von
Wissenschaftlern und Gelehrten, der durch gemeinsame Problemstellungen
und Forschungsmethoden und nicht zuletzt durch die Entstehung
effektiver Mechanismen disziplinärer
[sic!] Kommunikation zusammengehalten wird" (S. 14) -, dass die
"methodisch kontrollierte" Erhebung des gesamten "disziplinären
Personenkorpus" bzw. die pragmatische Beschränkung auf die
universitär tätigen Vertreter dieser Klientel hinreichend
aussagefähige Befunde zur Darstellung disziplinärer
Entwicklung generierten! Dieser methodische Schluss
ist gewagt, weil man nämlich erst für die Jahre unmittelbar
vor der sozialwissenschaftlichen Wende - also erst für das Ende
von Horns Untersuchungszeitraum - davon ausgehen darf, dass das
Teilsegment der deutschen Universitätspädagogik und die Menge
der publizierenden Fachvertreter in zunehmendem Maße
deckungsgleich werden (vgl. Keiner 1999). Dies heißt in der
Konsequenz aber, dass Horn nicht die gesamte Kommunikationsgemeinschaft
der wissenschaftlichen Pädagogen selbst, sondern lediglich die
Fachvertreter an den Hochschulen als Exponenten der
Disziplinentwicklung begreift. Die von Horn formulierten "Trends" des
disziplinären Verlaufs wären - gutwillig interpretiert -
demnach allenfalls Befunde über die Lage der universitären
Erziehungswissenschaft. Sollte er auf diese Weise aber die
Universitätspädagogen als repräsentative Vertreter
für das Fach insgesamt ansehen wollen, müsste man dem Autor
widersprechen. Diese uneindeutige analytische Schärfe in der Bestimmung
des
Disziplinbegriffs wirkt sich problematisch dann insbesondere auf die
Wahl der Indikatoren zur Rekonstruktion des Fachverlaufs aus
(Stellendenomination, fachliche Herkunft, Qualifikation,
Praxiserfahrung), die im Einzelfall zwar valide Aussagen über
Tendenzen des institutionellen Zustandes der Pädagogik an den
Hochschulen gestatten, jedoch ungeeignet für die verallgemeinernde
Darstellung des umfassenden Prozesses disziplinärer Verstetigung
der Erziehungswissenschaft sind: Dabei verstärkt Horn das Problem
noch zusätzlich, indem er keine einheitlichen
Bewertungsgrößen für die einzelnen Abschnitte der
Disziplinentwicklung wählt, sondern im Bedarfsfall
willkürlich neue Indikatoren einführt (siehe insbesondere die
politisch-ideologische Fokussierung der "Trends der
Disziplinentwicklung in der SBZ/DDR 1945 bis 1965"). Diese
methodisch-systematische Nachlässigkeit ist insgesamt bedauerlich,
weil Horn damit sein Kapital der mühevoll gesammelten Daten
leichtfertig verschenkt! Überzeugender als der theoretische Ansatz ist die von
Horn
vorgenommene interne chronologische Strukturierung des
Untersuchungszeitraumes Die Gliederung der Arbeit schließt sich an diese politisch-historische Schwerpunktsetzung an. Die entsprechend erläuternden Kapitel zu den historischen Phasen sind ähnlich aufgebaut: Die Abschnitte werden jeweils eingeleitet mit einer allgemeinen, nach Ländern gegliederten Übersicht über die Hochschulstandorte und einem darauf folgenden, mit "Systematische Analyse" überschriebenen Teil, dessen Ziel die Formulierung der bereits erwähnten Tendenzen des Fachverlaufs sind Diese Befunde sind z. T. überraschend: Wer hätte
beispielsweise vermutet, dass die Zahl der eingerichteten Stellen der
Universitätspädagogik keineswegs stetig wächst, sondern
etwa zum Ende des ersten Untersuchungszeitraumes kaum größer
ist als noch
1919? Wer hätte tatsächlich mit einer deutlich nachweisbaren
Dominanz der psychologischen Teilbereiche gegenüber der
Philosophie und Politik gerechnet (S. 86 ff.)? Wer hätte gedacht,
dass die Phänomene, die zur universitären Etablierung der
Erziehungswissenschaft führten, sich in Ost- und Westdeutschland
nicht gravierend voneinander unterschieden haben, dass aber der Trend
zur Binnendifferenzierung in der SBZ/DDR viel ausgeprägter war als
jenseits ihrer Grenzen (vgl. S. 115 bzw. S. 122)? Andere Ergebnisse der
Fachentwicklung hatte man bereits vermutet, bisher aber kaum empirisch
belegen können: etwa das hohe Durchschnittsalter der Professoren
insgesamt wie insbesondere auch der erstberufenen Hochschullehrer in
den Jahren der Erstexpansion vor 1932, den fast durchgängig zu
verzeichnenden Trend zur Rekrutierung von Fachfremden (S. 70), die
ausgeprägte Tendenz zum Lokalismus im Osten (S. 120 ff.), die erst
relativ spät einsetzende und keineswegs überdurchschnittliche
Dominanz des geisteswissenschaftlichen Paradigmas (S. 163) oder
schließlich die Entwicklung der Erziehungswissenschaft zu einer
ganz normalen Universitätsdisziplin in den Jahren nach dem Zweiten
Weltkrieg (S. 164). Für den akribischen Nachweis dieser Mythen
durch valides Forschungsmaterial darf man dem Autor danken. Die
Fülle der von ihm vorgelegten Daten garantiert zudem, dass noch
unzählige solcher bisher nur latenten Einsichten gehoben und
bestätigt werden können. Im
sehr kurzen 5. Kapitel "Institutionalisierung und Verstetigung,
Differenzierung und Autonomisierung der Erziehungswissenschaft im 20.
Jahrhundert" (S. 168-171) fasst der Autor die Ergebnisse nochmals
zusammen. Horn kommt dort zu dem Schluss, die zusammengetragenen
Befunde deuteten darauf hin, dass die wissenschaftliche Pädagogik
in den fünf Jahrzehnten des Untersuchungszeitraumes
universitär ganz normal verankert wurde und sich gegenüber
den Nachbardisziplinen der Philosophie und Psychologie
verselbständigen konnte: "Mit
ihrer Institutionalisierung als Fach an den Hochschulen, mit der
Einrichtung dauerhafter erziehungswissenschaftlicher Lehrstühle
und erziehungswissenschaftlicher Institute und Seminare und
schließlich mit der Möglichkeit, sich in diesem Fach zu
habilitieren, wurde die Erziehungswissenschaft im 20. Jahrhundert an
den wissenschaftlichen Hochschulen irreversibel etabliert" (S. 168). Horn beschließt seine erläuternden Ausführungen mit dem Ausblick auf die Entwicklungen während und nach der großen Expansion des Faches in den späten 1960-er und frühen 1970-er Jahren der alten Bundesrepublik: "Während die Entwicklung der Erziehungswissenschaft in
der DDR in
den Folgejahren weitgehend in den gezeichneten Bahnen weiterlief, kam
es mit der Integration der Volksschullehrerausbildung und der
Einführung
eines eigenen Hauptfachstudienganges in der BRD zu einer beispiellosen
Expansion des Faches an den Universitäten, die der
Erziehungswissenschaft erhebliche Folgeprobleme eingetragen hat, u. a.
dadurch, dass die Nachfrage nach Fachkräften aus der
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Erfassungsdatum: | 10. 01. 2005 |