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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Casale, Rita; Oswald, Christian
Rezensiertes Werk: Die aufgegebene Aufklärung : Experimente pädagogischer Vernunft / Hopfner, Johanna ...(Hrsg.) - Weinheim u.a.: Juventa, 2004. - 175 S. (Beiträge zur pädagogischen Grundlagenforschung); ISBN: 3-7799-1261-9
Erscheinungsjahr: 2005
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Casale, Rita; Oswald, Christian
Pädagogisches Institut, Universität Zürich 
E-Mail: rcasale@paed.unizh.ch 
sowie Universität Konstanz; E-Mail: christian.oswald1@web.de
 


 


Text der Rezension:
 

Die neun Beiträge in dem von Johanna Hopfner und Michael Winkler herausgegebenem Buch "Die Aufgegebene Aufklärung. Experimente pädagogischer Vernunft" verbindet kein inhaltlich einheitliches Konzept. Die verschiedenen Themen, mit denen sie sich beschäftigen, sind nur schwer unter einen Hut zu bringen. Dennoch bedeutet das nicht, dass es nicht etwas gäbe, das sie zusammenhält. Kein Beitrag arbeitet dieses "etwas", das der Titel "Aufgegebene Aufklärung" exakt bezeichnet, so gut heraus wie der Aufsatz Wolfgang Sünkels. Mit dem Band, in dem die Herausgeber die Beiträge der Tagung gesammelt haben, die sie im März 2002 anlässlich seiner Emeritierung in Erlangen veranstaltet hatten,
wollten sie ihn wohl auch als ideellen Vater dieses Programms würdigen.

In "Aufklärung und bürgerliche Gesellschaft. Etwas über Marxismus" (ebd., S. 60-67) gibt Sünkel mit seiner Kritik an der marxistischen Revolutionstheorie sowohl ein Beispiel "aufgegebener Aufklärung" wie auch eine Begründung für ihren Fortbestand über die eigentliche Epoche der Aufklärung hinaus. Sie stehe für eine Denkhaltung, die mit der bürgerlichen Gesellschaft und deren Entstehung aufs engste verbunden sei und die auch darum aufgegeben sei, weil letztere noch keineswegs als erledigt gelten könne. In dieser Gesellschaft habe sie die doppelte Funktion, einerseits die neuen gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnisse zu erfassen und andrerseits das Erfasste unter der revolutionären Norm bürgerlicher Idealität zu beurteilen und zu< bewerten. Sünkel negiert jeden über diese Gesellschaftsform hinausweisenden Charakter der Aufklärung und macht so Kritik zu einem notwendigen und dadurch stützenden, tragenden Element derselben. Als konstitutives Element einer Gesellschaft, die nach erst 200 Jahren ihres Bestehen gerade mal "die ersten frühen Stationen ihrer Evolution" (ebd., S. 67) hinter sich gelassen habe, diene sie lediglich deren Entwicklung zur Vollkommenheit. Diese Art der historischen Einbettung enthistorisiert die Aufklärung der Sache nach. Schon Hegel hat gegen die Vorstellung eines kontinuierlichen Fortschritts zur Vernunft zu recht eingewandt, daß die Betonung dabei auf dem unendlichen Progress liege, der, weil er unendlich sei, das Ziel, die Vernunft, zu einem unerreichbaren Jenseits mache. Nichts belegt dies drastischer als die Rede von der "aufgegebenen Aufklärung". Ist die Aufklärung nur Aufgabe, dann "ist" sie nicht. Eine nur subjektive Vernunft ist eben nicht nur nicht wirklich, sondern darum auch nicht vernünftig. Statt jedoch an dem Widerspruch einer nur subjektiven Aufklärung irre zu werden auch in Bezug auf ihr eigenes Tun, freuen sich die Pädagogen lieber darüber, dass es immer und überall eine Aufgabe für sie gibt. So haben sich die Herausgeber in der Einleitung durchaus bemüht, die zwiespältige Angelegenheit, den dialektischen Charakter der Aufklärung stark hervorzuheben. Aber wichtig ist ihnen daran vornehmlich, die entscheidende Rolle des aufklärerischen Programms für die Pädagogik zu betonen: "Geht Aufklärung verloren, dann verliert die Pädagogik zugleich ihren entscheidenden Sinn, den der Begriff der Mündigkeit und die Rede von einem Subjekt bezeichnen, das den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und entsprechend autonom zu handeln" (ebd., S. 11). Eine Pädagogik im Sinne der Aufklärung wäre interessanter als eine Aufklärung im Sinne der Pädagogik.

Sünkels Befund der jede geschichtliche Dynamik auflösenden reinen
Immanenz der "aufgegebenen Aufklärung" erlaubt, verschiedene Fallstudien
unverbunden nebeneinander zu stellen und entbindet davon, die eigene
Tradition spezifischer zu bestimmen. Dabei hätte letzteres angesichts
der tragenden Bedeutung, die die Denkfigur im Band hat, und den
Wortspielereien, die sich mit "aufgegeben" treiben lassen, nicht
geschadet. Was fehlt, ist jedoch ein klarer Hinweis auf den Ort, an dem
das Projekt der aufklärerischen Mündigkeit angekündigt wird. Tatsächlich
wäre er auch nur schwer zu finden. Denn bei aller Ähnlichkeit zu den
Gedanken Kants negiert dessen pädagogische Reprise genau jenes
revolutionäre Pathos bürgerlicher Idealität, das für seine Philosophie
und die Aufklärung so charakteristisch ist.

Der endlose Auftrag der Pädagogik, dessen man sich nur mittels der
Negation der entsprechenden Bestimmung der menschlichen Vernunft
entledigen kann, wird in den Beiträgen, die in vier Abteilungen
eingeteilt sind, an unterschiedlichen Gegenständen verfolgt.

Die erste Abteilung, "Grundlagen", enthält außer dem schon erwähnten
Aufsatz von Wolfgang Sünkel, die von Christoph Lüth und Käte
Meyer-Drawe.
In seinem Aufsatz "Die Aufklärung der Sophisten als Traditionsbruch und
Reaktionen Platons. Zum Beginn der Erziehungstheorie in der griechischen
Aufklärung" (ebd., S. 17-46) macht Christoph Lüth deutlich, dass es sich
bei der "aufgegebenen Aufklärung" nicht um ein historisches Projekt des
18. Jahrhunderts, sondern um eine bestimmte Form der menschlichen
Vernunft handelt, die bei der Erziehungstheorie der Sophisten ihre erste
Formulierung gefunden habe und die sich als Selbstbestimmung durch das
Denken charakterisieren lasse. Dass schon diese erste Form von
Aufklärung ganz hegelianisch eine historische Aufhebung erfahren habe,
zeigt Lüth anhand der platonischen Kritik am relativistischen Begriff
der Vernunft der Sophisten.
In "Sklaverei und Tändelei: Kant zu den Grenzen von Erziehung und
Bildung" (ebd., S. 47-59) betont Käte Meyer-Drawe das Element der
Selbstbestimmung in der kantischen Fassung der Erziehung. Sie tut es,
indem sie an dem facettenreichen kantischen Begriff der Erziehung (als
Zivilisierung, Kultivierung und Moralisierung verstanden) die Dimension
der Selbstregierung und ihr kritisches Potenzial stark macht. Auch in
einem modernen Kontext bzw. mit aktualisiertem Bedeutungsgehalt sieht
Meyer-Drawe die kritische Selbstbestimmung eher in der Selbstregierung
gewahrt als im Selbstmanagement unterm Diktat lebenslangen Lernens:
"Unser Problem ist vielleicht nicht mehr der Rückfall in das Rohe und
Wilde. Wir werden vielmehr angehalten, unser Leben erfolgreich zu
gestalten, indem wir uns an unausgesetzte Veränderungen anpassen. Das
sogenannte lebenslange Lernen verdammt uns zu lebenslänglicher
Flexibilität. Da bleibt keine Zeit für eine Vernunft, die ihre eigenen
Grenzen auslotet, die nicht produktorientiert ist und für ihre
Selbstkritik Zeit braucht" (ebd., S. 57).

In der zweiten Abteilung, "Rezeptionshermeneutik" betitelt, wird die
"aufgegebene Aufklärung" in einem weiteren Sinne als hermeneutisches
Verfahren dekliniert. In Alfred Langewands "Hölderlins `Sokrates und
Alcibiades` bei Johann Friedrich Herbart" (ebd., S. 71-84) geht es um
die Dialektik von ästhetischer Identitätsphilosophie und Sophistik. Sie
wird daran entwickelt, wie Herbart in seiner Schrift "Allgemeine
Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet" das Versmaß von
Hölderlins Ode "Sokrates und Alcibiades" (1798) auflöst.
Götz Hilligs "Einige Anmerkungen zu Sünkels `Fassadenhypothese` mit
Seitenblicken auf redaktionelle Eingriffe und Druckfehler" (ebd., S.
85-106) handelt von einer Rezeptionsepisode - vom Verhältnis Makarenkos
zur kommunistischen Pädagogik -, die man als ein Beispiel der
aufklärerischen Desillusionierung gegenüber der eigenen historischen
Tradition interpretieren könnte.

In der dritten Abteilung, "Dialektik", werden die Ambivalenzen von
Erziehungsprozessen in den zwei Aufsätzen von Caroline Hopf und von Eva
Matthes anhand zweier Fälle problematisiert, die in einem gewissen Sinn
als zwei Extreme verstanden werden können. Thema des Aufsatzes "`Bey so aufgeklärten Zeiten...` Leopold Mozart als Erzieher" (ebd., S. 109-123)
von Caroline Hopf ist die aufgeklärte Erziehung Leopold Mozarts. Sie
könne zwar in bezug auf die musikalische Bildung und das
Karrieremanagement seines Sohnes als erfolgreich angesehen werden. Aber was die Förderung der Selbstbestimmungsfähigkeit desselben anbetreffe, sei sie nicht unbedingt als gelungen zu betrachteten.
Im Gegensatz dazu präsentiert Eva Matthes in "Die aufgegebene
Aufklärung: Höhere Schulen im NS-Staat", (ebd., S. 124-142) als ein
Kontrastprogramm zur Aufklärung die NS-Erziehungsideologie. Sie zeigt
aber, wie es trotz vielfältiger Anstrengungen des staatlichen Apparats
vor allem in den höheren Schulen nicht gelang, die aufklärerische
Tradition völlig zu vernichten: "In einer Vielzahl von
Zeitzeugenberichten wird deutlich, dass es auch in der NS-Zeit
Lehrkräfte gab, die sich teilweise wohl auch in ihren inhaltlichen
Grundüberzeugungen, sicher jedoch in der Art und Weise ihres
erzieherischen Handelns der Aufklärung verpflichtet fühlten, indem sie
ihre Schüler zu eigenständiger Reflexion, zum Gebrauch ihres Verstandes
anregten und sie zum Selbstdenken ermutigen" (ebd., S. 131).

In der Geschichtswissenschaft gab es in den letzten 10-15 Jahren,
verbunden mit den Namen Browning, Goldhagen aber auch Heer - mit der
Wehrmachtsausstellung - große Anstrengungen auch unter Berücksichtigung und Einbezug subjektiver Zeugnisse, die Verstrickung von Millionen in den arbeitseilig organisierten Vernichtungsprozeß nachzuweisen und damit deutlich zu machen, dass auch ein Terrorsystem nicht nur auf Zwang beruhen kann, sondern weite Teile der Bevölkerung kooperiert haben. Die Autorin versucht demgegenüber anhand von insgesamt fünf autobiographischen Äußerungen die Widerstandsfähigkeit von Aufklärung noch unter widrigsten Umständen zu zeigen. Den Beschreibungen glücklicher Zufälle und Ausnahmen soll sich ihr zufolge entnehmen lassen, dass eher der Unterricht als die Erziehung die Möglichkeit zu Aufklärung auch unter der Naziherrschaft bot. Dass am Ende die Verordnungen des Reichserziehungsministers, weil in ihnen die
Notwendigkeit von Unterricht stärker betont wurde als die völkischer
Erziehung, in die Nähe von aufklärerischen Akten rücken, lässt
allerdings Zweifel an der Konzeption aufkommen.

Abgeschlossen wird der Band von einem Kapitel mit der Überschrift
"Perspektiven". Helmut Heid und Michael Winkler gehen in ihren Beiträgen
der Frage nach, wie zukunftsträchtig die "aufgegebene Aufklärung" sei.
Heids "Kann man zur Verantwortlichkeit erziehen? Über Bedingungen der
Möglichkeit verantwortlichen Handeln" (ebd., S. 145-154) zufolge besteht
die aktuelle Bedeutung der Aufklärung vorrangig in einer Erziehung zu
menschlicher Verantwortung.
Winkler versucht in seinem Aufsatz "Aufklärung. Ein Tableau und drei
Worte zu ihrer Zukunft insbesondere in der Pädagogik" (ebd., S. 155-174)
die Zukunft der aufgegebenen Aufklärung zu bestimmen, indem er sie im
Verhältnis zu den anderen beiden Zeitbestimmungen, d. h. zu Gegenwart
und Vergangenheit, betrachtet. Winkler schlägt vor, ihre Gegenwart in
einem husserlianischen Sinn als Epoché, als schlichte Störung,
Unterbrechung zu begreifen: "Aufklärung, will sie Aufklärung bleiben,
gelingt nur als Störung des Betriebsfriedens. Sie bleibt also durchaus
verdächtig, sie schließt keine Freundschaft, will und soll sich den
laufenden Geschäften nicht ausliefern" (ebd., S. 157). Zukunft und
Vergangenheit sind Winkler zufolge nicht voneinander zu trennen, da es
für die "aufgegebene Aufklärung" nur dann eine Zukunft geben kann, wenn
die aktuelle Vergessenheit der Tradition der Moderne aufgehoben werde.
Was für die aufgegebene Aufklärung gilt, gilt selbstverständlich auch
für ihr Organ, die Pädagogik. Die modernisierte Erziehungswissenschaft
könne sich selbst nur eine Zukunft garantieren, wenn sie ihre
historischen Grundphänomene - Erziehung, Bildung und Unterricht - nicht
aufgebe.

Auf dem Buchumschlag ist das Bild Les vacances de Hegel von Henri
Magritte zu sehen. Es zeigt ein Glas gefüllt mit Wasser, das auf einem
Regenschirm steht. Dem Schirm kommen offensichtlich zwei einander
ausschließende Funktionen zu: Er trägt das Glas und er schützt vor dem
Wasser, das es enthält. Fällt aber das Glas um, trägt der Schirm nicht
mehr. Und trägt er, dann braucht es keinen Schirm. Denn schließlich hat
man nur einen Schirm gewählt, weil es umfallen könnte. Obwohl Magritte
nur den paradoxalen Zustand gemalt zu haben scheint, der Aufklärung zur
Aufgabe macht, zeigt das Cover das exakte Gegenbild zum im Buch
entfalteten pädagogischen Programm. Die Pädagogen erkennen die
Provokation in dieser Dialektik im Stillstand nicht mehr. Alles scheint
ausbalanciert. Die Dynamik - oder Hegel? - hat Urlaub. Genau darum wird
dem konzentrierten Betrachter das Bild jedoch bald unerträglich. Nichts
wünscht er sehnlicher herbei, als dass das Glas doch endlich fiele.
 

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
PD Dr. Karin Priem 
PH Schwäbisch Gmünd
Institut für Erziehungswissenschaft
Abt. Allgemeine Pädagogik


Erfassungsdatum: 01. 03. 2005