Die Seiten werden nicht mehr aktualisiert – hier finden Sie nur archivierte Beiträge.
Logo BBF ---
grün und orangener Balken 1   grün und orangener Balken 3

HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Osterwalder, Fritz
Rezensiertes Werk: Baader, Meike Sophia, Erziehung als Erlösung : Transformationen des Religiösen in der Reformpädagogik, Weinheim [u.a.], Juventa, 2005, ISBN 3- 7799-1263-5 [Elektronische Ressource]
Erscheinungsjahr: 2005
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Prof. Dr. Fritz Osterwalder
Institut für Pädagogik und Schulpädagogik,
Universität Bern
E-Mail: osterwa@sis.unibe.ch

Text der Rezension:

Säkularisierung, Entzauberung der Welt oder Laisierung sind Konzepte, die wesentlich die Modernisierungstheorien des 20. Jahrhunderts bestimmten. Je länger sich die historisch orientierte Forschung dieser Konzepte bediente, desto unausweichlicher traten allerdings auch deren Grenzen ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Weber oder Durkheim, die wesentlich zur Karriere dieser Konzepte beitrugen, konstruierten und nutzten sie mit vielen andern im wesentlichen auch als Kampfbegriffe. Die Entzauberung der Welt und die Ablösung der Religion als moralisch verbindliche Referenz durch Wissenschaft war von den Wissenschaftlern, die sich selbst als gesellschaftliche Akteure verstanden, nicht nur als Tendenzbeschreibung, sondern gleichfalls normativ gedacht.

Der kritische Umgang mit diesem Konzept von Modernisierung wies zunehmend auch auf komplementäre und teilweise auch auf gegenläufige Entwicklungen, auf Kontinuitäten, Verschiebungen und Transformationen des Sakralen oder sogar neue Formen der Sakralisierung, die gleichermaßen die Modernisierung begleiten.

In der Pädagogik ist diese Fragestellung erst spät, in den 90er Jahren, und kaum bemerkt angekommen. Wer auf die religiösen Traditionen und Kontinuitäten der Pädagogik und deren Bedeutung verwies oder diese gar beforschte, geriet schnell in den Verdacht, von antireligiöser oder religiöser Militanz beflügelt zu sein.

Meike Sophia Baaders vorliegende Arbeit ist so angelegt, dass ein solcher Verdacht sich von vornherein erübrigt. Sie fragt nach der Transformation von Sakralität in der pädagogischen Modernisierung. Dazu wählt sie das für soziale wie auch für pädagogische Modernisierung besonders sensible Feld, die deutsche Reformpädagogik des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert.

Ihre Ausgangsfrage welche religiösen Erwartungen der Reformpädagogik zugrunde liegen, an welche Kontexte sie anschließen und welchen Transformationen dabei die Religion oder das Religiöse im Rahmen der Pädagogik unterliegt, zielt auf eine ganz andere These als die traditionellere Modernisierungstheorie, die von der Säkularisierung ausging und dabei eine verspätete Säkularisierung der Pädagogik diagnostiziert.

In einem ersten Abschnitt werden quasi als theoretischer Rahmen die soziologischen Theorien zur Bedeutung der Religion in der modernen Gesellschaft von Luckmann und Luhmann referiert. Mit Luckmann wird nicht substantiell oder historisch nach Kontinuität einer bestimmten Religion oder der sozialen Praxis einer Religion gefragt, sondern nach Formen, in denen starke Oppositionen zwischen Profanität und Sakralität erzeugt werden. Dies wird dann mit Luhmanns systemtheoretischer Bestimmung der Religion als Bearbeitung der Differenz von Transzendenz und Immanenz gleichgesetzt.

Dementsprechend geht Baader mit Luckmann nicht von einer tendenziell säkularen modernen Gesellschaft aus, sondern von einer Verschiebung oder Neukonstitution des Sakralen. Im Gegensatz zur Vorherrschaft von stark in Kirchen und Dogma institutionalisierten Oppositionen von profan und sakral hat sich nach Luckmann die Differenz in der Moderne individualisiert, wird in privaten Bereichen vollzogen und ist diesseitig und synkretistisch angelegt. Baaders große These lautet nun, dass die Reformpädagogik, die moderne Form der Pädagogik, wesentlicher Bestandteil der Konstitution dieser modernen Form der Sakralität ist.

Die großen Verschiebungen des Sakralen werden in sehr unterschiedlichen Kontexten und Debatten dokumentiert: In der veränderten Stellung der (protestantischen) Kirche in der sich urbanisierenden Gesellschaft und vor allem in ihrer Stellung zur Schule; im breitest rezipierten und diskutierten Konzept von William James der "religiösen Erfahrung", das Religion psychologisiert und pluralisiert; in den großen öffentlichen Debatten, in den kulturellen Bewegungen der intellektuellen Öffentlichkeit, im Monismus, im Nietzscheanismus und in der Theosophie; und schließlich im Umfeld der Lebensreformbewegung in der Aesthetisierung und Sakralisierung des jugendlichen Körpers.

Im Hauptteil der Untersuchung wird dann nachgewiesen, dass die Reformpädagogik in ihren religiösen Erwartungen diesen Verschiebungen folgt, sich weder säkularisiert noch einfach die religiöse christliche Tradition fortsetzt, sondern selbst Teil dieser Verschiebungen, der modernen Form des Religiösen ist. Dazu werden sehr unterschiedliche Dimensionen der Pädagogik beleuchtet.

Die Stellung zum traditionellen schulisch-konfessionellen Religionsunterricht wird anhand der Bremer Debatte von 1905 dargestellt. So stark sich die Mehrheit der Positionen hier auch vom konfessionellen Religionsunterricht distanziert, so breit ist dann der Konsens zugunsten der Ausrichtung der Schule auf religiöses Empfinden. Wie dieses individuelle Empfinden inhaltlich ausgestaltet ist, wird anhand Ellen Keys Rezeption Nietzsches und Darwins und deren Ausgestaltung in einem `Lebensglauben` und anhand der öffentlichen Auseinandersetzung darum dargestellt.

Als pädagogisches Zentrum dieser neuen Sakralität wird das Konzept der Persönlichkeit bestimmt. Die Erziehung zur Persönlichkeit markiert die pädagogische Verfügbarkeit der neuen Form von Sakralität. Dies wird dargelegt anhand der Lebenserinnerung von Alwine von Keller, einer Erzieherin im Umfeld von Geheeb, und des Werkes eines psychoanalytisch orientierten schweizerischen Lehrers, Werner Zimmermann, der Religion und Erlösung gewissermaßen als psychoanalytisch-pädagogische Stabilisierung der Persönlichkeit versteht.

Schließlich wird die Entwicklung einer neuen Form der Sakralität auch in den Praktiken und Bauten der Reformschulen und Landerziehungsheime, ihrer spezifischen Form des Schullebens nachgewiesen. Die Kapellen in den Landerziehungsheimen von Lietz als Kultraum und Kultform sowie die Andachten und Lesungen von Geheeb, der sich in einem Schulspiel als Gottvater darstellt (mit Fotografie, S. 249!) dokumentieren die sakralen Bestrebungen.

Abschließend werden diese Entwicklungen auch in den Konzepten von Dewey und Montessori nachgewiesen, die mit weiterem theoretischem Anspruch gleichfalls ausgehend von darwinistischen und naturwissenschaftlichen Referenzen pädagogisch neue religiöse Dimensionen zu erschließen beanspruchen. Währenddem bei Dewey die "Einheitlichmachung des Selbst durch Verpflichtung auf Ideale" die neue religiöse Form abgibt (S. 267), wird bei Montessori ein christus-ähnliches Martyrium des Kindes nachgewiesen, das sich aus christlichen und theosophischen Kontexten inspiriert.

So interessant und anregend die These von Baader auch ist, so überzeugend und bereichernd die Nachweise im einzelnen entwickelt werden, so seien im Sinne einer weiterführenden Diskussion und Forschung hier auch einige Fragen und Einschränkungen angebracht. Der These, dass über die moderne Pädagogik wichtige Verschiebungen, sogar eine eigentliche Neukonstitutionen des Sakralen erfolgen, kann sicher zugestimmt werden. Allerdings trifft meines Erachtens für die meisten der Fälle, die uns Baader überzeugend vorführt, gerade das kaum zu, was sie mit Luckmanns Charakterisierungen der heutigen Formen des Religiösen auch über diese reformpädagogischen Religionen des Fin de Siècle aussagt (S. 279). Erscheinen sie doch kaum als privatistisch oder individualistisch, und auch nicht - mit James - auf plurale individuelle Erfahrungen hin angelegt. Vom völkisch-deutschen Christentum von Lietz über den Körperkult von Fidus über die eugenische Menschheitsreligion von Ellen Key bis zu Montessoris christlich-theosophischem Mysterium des Kindes, wie sie nach ihrem faschistischen Abstecher in "Il segreto dell`infanzia" (übrigens 1938, nicht 1950 erschienen, S. 267) dargelegt wird, sind alle diese pädagogischen Formen der Sakralisierung und Religiosität, die Baader vorführt, auf Gesellschaftsreform hin angelegt und beanspruchen dazu auch institutionelle Anwendung auf Schule oder Familie.

Mit diesen öffentlichen, gesellschaftlichen und institutionellen Ansprüchen haben diese Formen der "modernen Religionen" und der Reformpädagogik zum Teil auch beachtliche Wirkungen erzielt, denen allerdings weder in der Zeit selbst noch im historischen Rückblick Modernität schlechthin und ausschließlich zugesprochen werden konnte und kann.

Die Modernität dieser Pädagogik und ihrer Religiosität stand und steht vielmehr von zweierlei Seiten in Frage, was es vielleicht sinnvoll macht, die traditionelle Säkularisierungsthese bezüglich der Pädagogik, wie sie Oelkers in seinem Buch zur Reformpädagogik vertritt, nicht zu schnell gänzlich fallen zu lassen.

Im 19. Jh. und im Fin de Siècle ist in den Ländern, in denen die liberale Demokratie sich durchsetzte, die Abstinenz der öffentlichen Schulen und der öffentlichen Institutionen von jeglichem religiösem Bekenntnis zum entscheidenden Programm der Modernisierung im Namen der demokratischen Bürger/innen-Rechte gemacht worden. Zu Recht wurde von dieser Seite auch auf die mangelnde Modernität von pädagogischen Diskursen und Programmen hingewiesen worden, die gerade ihre Sprache, Argumentation, Ziele und Konzepte wesentlich aus der christlichen Tradition bezogen haben. Ohne Zweifel war diese Kritik in der deutschen Reformpädagogik, die fast ausschließlich in dieser christlichen Kontinuität stand und wo die liberalen demokratischen Traditionen nur schwach ausgebildet waren, relativ schwach vertreten. Von daher wäre es sicher sinnvoll gewesen auch Diskussionszusammenhänge außerhalb Deutschlands systematisch in die Untersuchung aufzunehmen, um auch die Entwicklung von Kritik und Alternative im Verhältnis zu diesen pädagogischen Religionen ins Blickfeld zu gewinnen. Aber auch in Deutschland war diese Alternative entwickelt. Baader selbst verweist auf die Kritik an der Religion der rettenden Persönlichkeit von Edmund Zilsel von 1918, die gerade auch die pädagogische Dimension kritisiert. Andere, noch stärker pädagogisch artikulierte Varianten, wie zum Beispiel der Braunschweiger Pädagogik-Privatdozent August Riekel und seine Kritik an der sich akademisch etablierenden geisteswissenschaftlichen Pädagogik, würden doch zeigen, dass diese pädagogischen Sakralität nicht die einzige und notwendige Form pädagogischer Modernität ist.

Diese Alternativen und Konfrontationen weisen auch auf eine Problematik hin, die in Baaders Untersuchung erstaunlicherweise weitestgehend ausgelassen ist, das Feld der akademischen Etablierung der Pädagogik als Wissenschaft. Es ist doch zumindest beachtenswert, dass sich in den deutschen Universitäten in der von Baader untersuchten Zeitspanne eine wissenschaftliche Strömung, die geisteswissenschaftliche Pädagogik, etablierte, die eine bestimmte, germano-zentrische Sakralisierung der Pädagogik zum eigentlichen Wissenschaftsprogramm erhob und sie offensiv und aggressiv gegen den Anspruch der Sozialwissenschaften auf "Wertfreiheit" verteidigte, um "den alten Dom des preußisch-deutschen Pflichtgedankens" (Spranger) an den deutschen Universitäten zu erhalten. In diesem Umfeld wäre es doch sicher unangebracht, den Befund, dass ein bedeutender Teil der deutschen Pädagogik - der sich zur Reformpädagogik zählte - sich in einem zunehmend säkularisierenden wissenschaftlichen Kontext antimodern und sakral entwickelte, einfach fallen zu lassen.






Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
PD Dr. Karin Priem

Erfassungsdatum: 30. 06. 2005
Korrekturdatum: 30. 06. 2005