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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Gippert, Wolfgang
Rezensiertes Werk: Kater, Michael H.: Hitlerjugend. Aus dem Englischen von Jürgen Peter Krause. - Darmstadt: Primus Verl., 2005. - 288 S. ; ISBN 3-89678-252-5
Erscheinungsjahr: 2005
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Dr. Wolfgang Gippert
Universität zu Köln
E-Mail: w.gippert@web.de

Text der Rezension:

 
Nach mehreren Studien zum Nationalsozialismus legt der renommierte
nordamerikanische Historiker Michael H. Kater mit "Hitler-Jugend" - so
der schnörkellose Titel des Buches - erneut eine Untersuchung über die
Zeit des `Dritten Reiches` vor.

Der Klappentext verspricht "einen neuen und fundierten Überblick" zu
einem breit diskutierten Thema: "was die Hitler-Jugend war und wie
Jugend unter Hitler erlebt wurde". In der Organisationsgeschichte, die
anhand von Einzelschicksalen und Lebenserinnerungen illustriert wird,
leitet den Autor die Frage nach Verantwortung und Schuld der Jugend,
"nach einer Komplizenschaft jüngerer wie älterer HJ-Mitglieder" (S. 9)
bei der Festigung der NS-Diktatur. Damit knüpft Kater an den aktuellen
Täter-Opfer-Diskurs an und lässt auf neue Erkenntnisse auch aus
erziehungshistorischer Perspektive hoffen.

Die Gliederung des Bandes erfolgt ohne Zählung. Gerahmt von
Einleitungskapitel ("`Macht Platz, Ihr Alten!`") und Fazit ("Die
Verantwortung der Jugend") besteht der Hauptteil aus vier großen
Abschnitten, die wiederum in zwei bis vier Unterpunkte aufgeteilt sind.
Die thematischen Schwerpunkte sind mit den Überschriften "Dienst in der
Hitlerjugend", "Mädchen im Dienst der NS-Politik", "Dissidenten und
Rebellen" sowie "Hitlers Jungen und Mädel an der Front" benannt. Im
Anhang findet sich ein Abkürzungs- und Personenregister sowie ein rund
1150 Endnoten fassender Anmerkungsapparat. Ein gesondertes
Literaturverzeichnis gibt es allerdings nicht, was die Suche nach den
Quellen und Studien, aus denen Kater sein Wissen schöpft, höchst
umständlich und zermürbend gestaltet. Hinzu kommt, dass er auf eine
Skizze des Forschungsstandes und eine Begründung seiner Vorgehensweise verzichtet, was eher auf eine breite interessierte Öffentlichkeit und weniger die Fachwelt als Adressaten verweist.

Ausgehend von (auto-) biografischen Beispielen, die die Attraktivität
der Hitler-Jugend für Heranwachsende verdeutlichen sollen, entfaltet
Kater in seiner Einleitung These und Fragestellung. Nach der von
Wirtschaftskrisen und Kriegsängsten geschüttelten Weimarer Republik
hätte gerade der autoritäre Charakter des NS-Regimes den Jugendlichen
als schützende Gemeinschaft enorme Sicherheiten geboten. Jugendliche
hätten sich als Mitglieder in der HJ im Sinne einer Komplizenschaft
schuldig gemacht, wenn sie z. B. "ihren Untergebenen bewusst
nationalsozialistische Werte vermittelten und sie dadurch zu Rassenhass
und Kriegslüsternheit aufstachelten" (S. 10). In der Frage nach der
Mitverantwortung der Hitler-Jugend an den Verbrechen des NS-Regimes
sieht Kater allerdings verschiedene Probleme, etwa wenn ehemalige
HJ-Mitglieder erst in einer späteren Lebensphase als Soldaten in den
Krieg zogen. Eigene Handlungsspielräume der Jugendlichen, wie die
freiwillige Annahme einer Führungsposition in der HJ, könnten jedoch
Aufschluss in der Frage nach ihrer Täterschaft geben. Als
"NS-regimespezifische Jugendkohorte" (S. 16) macht Kater jene Personen
aus, die zwischen 1916 und 1934 geboren wurden. In eingeschränktem Sinne könne man bei den Angehörigen dieser Geburtsjahrgänge auch von einer `Generation` sprechen, da sie innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne
dieselbe wesentliche Erfahrung geteilt hätten.

Bei der folgenden Darstellung der kollektiven Erfahrung dieser
Personengruppe begegnet dem kundigen Leser im Hauptteil zunächst viel
Bekanntes. Im Kapitel "Dienst in der Hitlerjugend" bereitet Kater die
vielfältigen und ambivalenten Facetten der nationalsozialistischen
Jugendorganisation detailreich, anschaulich und dennoch bündig auf. Das
Themenspektrum erstreckt sich zunächst auf die Monopol- und
Uniformitätsbestrebungen der HJ und den schrittweisen Prozess der
`Gleichschaltung` der Jugendverbände. Darin eingebettet sind eine kurze
Organisationsgeschichte der HJ, die Biografien der beiden
`Reichsjugendführer` sowie die Kennzeichnung der wichtigsten Gesetze und
Verordnungen. Im weiteren Verlauf stehen die verschiedenen Aktionsformen
in der Hitler-Jugend im Focus, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf die
paramilitärische Ausrichtung. Die abschließende Schilderung der
Schulungs-, Disziplin- und Führungsprobleme in der HJ verdeutlicht das
grundlegende Dilemma der Organisation, in der `Jugend durch Jugend
geführt` werden sollte.

Der Frage nach der Beteiligung von Mädchen und jungen Frauen an der
Gestaltung des `Dritten Reiches` widmet Kater das zweite Kapitel. Das
Thema verortet er zwischen den beiden Polen `Mittäterschaft` und
`Opferstatus`. Er geht davon aus, dass sich auch Mädchen mit zunehmenden Alter und zunehmender Verantwortung schuldig gemacht hätten (S. 65).
Auch wenn die Befehlsstrukturen im `Bund Deutscher Mädel` ebenso
aufgebaut waren wie in der HJ für Jungen, ergaben sich in der konkreten
Ausgestaltung der Freizeitaktivitäten erhebliche Unterschiede, die Kater
auf die grundlegende Geschlechterpolarität im NS-Staat zurückführt. Erst
im Kriege habe paramilitärischer Drill Einzug in die Erziehung der
weiblichen Jugend erhalten - in den Lagern des `Reichsarbeitsdienstes`
und in den verschiedenen Formen der Kriegshilfsdienste. Irritationen
hinterlässt der Punkt "Eugenik als `Rassenpflege`". Nach einer Skizze
der Aufgaben und Ziele des Projektes `Glaube und Schönheit` - jenem
NS-Werk für junge Frauen, das insbesondere der Propagierung eines
rassistischen Frauenideals diente - wendet sich Kater dem Thema
`weibliche Jugend und Sexualität` zu. Er führt aus, dass es im Krieg zu
zahllosen Affären zwischen BDM-Mädchen und Wehrmachtssoldaten bzw.
Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern gekommen sei. Selbst zwölfjährige
Mädchen hätten sich "den Soldaten quasi an den Hals" (S. 97) geworfen.
Kater schließt generell auf eine "gesteigerte sexuelle Freizügigkeit"
(S. 95) der Mädchen im Krieg, die er "auf die allgemeine sexuelle
Frustration der Mädchen und Frauen" (S. 95) zurückführt und die bei den
Jugendlichen eine "dreist praktizierte Promiskuität" (S. 94) bis hin zu
"heimlicher Prostitution" (S. 97) bewirkt hätte. Seine Ausführungen
illustriert Kater mit zahlreichen, willkürlich aneinander gereihten
Beispielen, die eher den Eindruck vermitteln, als wolle der Autor eine
voyeuristische Lesart erzielen, als dass sie eine erkennbare Funktion im
Rahmen eines Kapitels zum Thema "Eugenik" haben.

Mit seinem Kapitel über "Dissidenten und Rebellen" erweitert der Autor
das im Titel angekündigte Untersuchungsfeld um widerständige und
nonkonforme, z. T. kriminelle Jugendliche. Dabei fragt er sich, ob
Letztere gegen das Regime handelten, weil sie "kriminell veranlagt" (S.
100) [sic!] gewesen seien, oder ob ihr abweichendes Verhalten vom
NS-Regime nur als kriminell definiert worden ist. Breiten Raum nimmt die
Darstellung der Widerstandsgruppe um die Geschwister Scholl ein, die
Kater "zu den wenigen wahren Helden der uneinheitlich organisierten
Widerstandsbewegung gegen das NS-Regime" (S. 113) rechnet. Ferner widmet er sich jenen Gruppen, die oftmals in Anlehnung an bündische Traditionen eine selbstbestimmte, unkontrollierte Jugendzeit verleben wollten. Sie schlossen sich in Cliquen zusammen, nannten sich `Blasen`, `Meuten` oder `Edelweißpiraten` und gingen teilweise in offene Konfrontation mit Gruppierungen der Hitlerjugend. Unangepasste Jugendliche aus der oberen Mittelschicht imitierten hingegen einen anglo-amerikanischen Lebensstil, der sich durch eine gewisse Lässigkeit auszeichnete.
Auch in der Darstellung der sog. `Swing-Jugend` wirkt der Detailreichtum, mit dem das "lebenssprühende[...] sexuelle[...] Verhalten" (S. 124) der
Jugendlichen rekonstruiert wird - Kater stützt sich hier u. a. auf
Gestapoberichte -, befremdlich. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die
nonkonformen Jugendgruppen Unterschiede in ihrer "moralischen Qualität"
(S. 142) aufweisen würden, abhängig von dem Grad ihrer Bereitschaft zur
Selbstaufopferung. `Swing-Anhänger` und die Gruppierungen der `Blasen`
hätten in dieser "Kategorie [...] offensichtlich keinen Platz, weil sie
nach dem Lustprinzip lebten und sich durch die HJ einfach daran
gehindert fühlten." (S. 142)

Im letzten Kapitel des Hauptteils, das die Fronterfahrungen
thematisiert, greift Kater seine Ausgangsfrage nach Komplizenschaft,
Verantwortung und Schuld der Jugend wieder auf. Um die "individuelle
moralische Schuld" beurteilen zu können, sei es hilfreich, etwas über
die "jeweils vorhandene oder fehlende ideologische Kriegsmotivation der
Jugendlichen" zu wissen, ihre Einstellungen während der vormilitärischen
Ausbildung, "ihre Handlungen und Reaktionen im Feld sowie ihre etwaigen
Gedanken und Überlegungen angesichts der Niederlage" (S. 145). Während
in den ersten beiden Kriegsjahren die `Blitzsiege` eine weit verbreitete
Begeisterung in der Hitlerjugend bewirkt hätten - Kater flicht in dieses
Kapitel häufig militärgeschichtliche Passagen ein -, sei dieser
Optimismus nach 1941 einer "qualvolle[n] Desillusionierung" (S. 152)
gewichen. Davon waren vor allem jene ehemaligen HJ-Mitglieder betroffen,
die als Soldaten an der Front standen, sich im Partisanenkrieg aufrieben
oder als Flakhelfer eingesetzt wurden. Letztere Gruppe, die in der Regel
aus 15- bis 17-jährigen Schülern bestand, sei durch ihren soldatischen
Habitus schon früh in ein "Pseudo-Erwachsenendasein" (S. 173) gezwungen
worden, was zu Statusunsicherheiten, aber auch zu einem spezifischen
"Identitätsgefühl" geführt habe. Durch den beschleunigten Übergang in
den Erwachsenenstatus hätten diese Heranwachsenden unter einer
"abgebrochenen Jugend" (ebd.) zu leiden gehabt.

Die aus bildungshistorischer Perspektive aufschlussreiche Fragestellung
nach der kollektiven Verarbeitung des Aufwachsens in der NS-Diktatur
beschäftigte bereits amerikanische und deutsche Sozialwissenschaftler in
den 50-er Jahren. Es war Helmut Schelsky, der das griffige Schlagwort
von der "skeptischen Generation" prägte und damit die allgemeine
Politikverdrossenheit jener Personengruppe zu erfassen suchte, die Kater
als "NS-regimespezifische Jugendkohorte" ausmacht und die 1950 etwa
zwischen 16 und 34 Jahren alt war. Dass den Jugendlichen im `Dritten
Reich` eine Mittäterschaft zugeschrieben werden könne - so bilanziert
Kater in seinem Fazit -, stehe für den Historiker außer Zweifel. Selbst
wenn sie nur "kleine Rädchen in dem Getriebe des Verfolgungs- und
Massenmordsystems und der Kriegsmaschinerie" waren, so hätten die
Jugendlichen doch dazugehört und gemeinsam für die Funktionstüchtigkeit
gesorgt. Schwieriger sei indes die Frage nach der "moralischen Schuld"
zu beantworten. Sie sei in Abhängigkeit vom Alter der Jungen und
Mädchen, von ihren Positionen innerhalb der NS-Hierarchie und von der
"Gesamtmenge der verbrecherischen Aktivitäten, an denen sie beteiligt
waren" (S. 224), zu sehen.

Das Buch erfüllt seinen Anspruch, einen fundierten Überblick über die
Hitlerjugend zu geben. Der Band überzeugt in der Vielfalt der
angeschnittenen Themenfelder. Neben fakten- und
organisationsgeschichtlichen Ausführungen stehen biografische Beispiele,
Einzel- und Kollektivschicksale, die Aufschluss über die Funktions- und
Wirkungsweise der Kinder- und Jugendorganisation sowie ihrer
Anschlussinstitutionen im NS-Staat geben. Kater ist trotz seiner
fokussierenden Frage nach der `Täterschaft` um eine ausgewogene
Darstellungsweise bemüht. Häufiger verweist er etwa darauf, dass
Jugendliche auch Opfer des Regimes und des Krieges waren und in
vielfältiger Weise traumatisiert worden sind. Die gut verständliche,
detailreiche und durchgängig anschauliche Darstellung ist für
Studienanfänger geeignet.

Das Verfahren Katers, biografische Fallbeispiele als pars pro toto zu
verwenden, erweist sich jedoch häufig als problematisch, zumal dann,
wenn sich der Autor zu fragwürdigen, generalisierenden Pauschalurteilen
hinreißen lässt. Besonders deutlich wird dies, wenn sich der Autor zum
vermeintlich libidinösen Verhalten der Jugendlichen äußert und dabei
ohne eine dringend erforderliche Quellenkritik zeitgenössische
Vorurteile reproduziert. Viele Ausführungen sind zudem in einem recht
saloppen, unangemessenen Sprachgestus gehalten (z. B. "Hobbyeugeniker
Himmler", S. 138). Katers zentrale Frage nach der "moralischen"
Verantwortung und Schuld der Jugendlichen an der Festigung und den
Verbrechen der NS-Herrschaft erscheint aus bildungshistorischer
Perspektive eher unergiebig, zumal der Autor eine Begriffsklärung seiner
leitenden Kategorien vermissen lässt. Aus erziehungswissenschaftlicher
Sicht geht es jedenfalls weniger um eine normative Bewertung von
Einstellungen, Handlungs- und Verhaltensweisen der Jugendlichen, sondern
darum, sie als Spiegel von Erziehungs, Sozialisations- und
Identitätsbildungsprozessen zu verstehen.


Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
PD Dr. Karin Priem

Erfassungsdatum: 12. 07. 2005