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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Götte, Petra
Rezensiertes Werk: Als Kind verfolgt. Anne Frank und die anderen / Hrsg.: Ingeborg Hansen-Schaberg. - Berlin: Weidler, 2004. - 291 S. ; ISBN 3-89693-244-6
Erscheinungsjahr: 2005
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Dr. Petra Götte
Erziehungswissenschaftliche Fakultät,
Seminar für Pädagogik, Universität zu Köln
E-Mail: pgoette@uni-koeln.de

Text der Rezension:

 
Der von Inge Hansen-Schaberg herausgegebene und eingeleitete Sammelband „Als Kind verfolgt. Anne Frank und die anderen“ ist aus einer
gleichnamigen Tagung hervorgegangen, die die Arbeitsgruppe „Frauen im
Exil“ in der „Gesellschaft für Exilforschung e.V.“ im November 2003 in
Leipzig veranstaltet hat. Das Buch versammelt 19 Beiträge (und zwei
dokumentarische Anhänge), in denen sich die Autorinnen und Autoren mit
der Situation von verfolgten Kindern und Jugendlichen in Deutschland, im
Exil und in den annektierten und eroberten Ländern während der NS-Zeit
befassen. Das besondere Augenmerk gilt dabei den schulischen bzw.
allgemein den pädagogischen Verhältnissen.

Hierzu bietet der Band, nicht zuletzt durch seinen interdisziplinären
Zugriff auf das Thema, einen informativen und facettenreichen Überblick.
Dies macht ihn nicht nur für (Bildungs-) Historiker und Studierende
interessant, sondern auch für einen an der Auseinandersetzung mit der
Shoah interessierten nichtwissenschaftlichen Leserkreis, zumal die
Aufsätze durchweg kompakt und gut lesbar sind. Das besondere Verdienst
der Beiträge ist es, die spezifisch kindlichen Erfahrungen und Deutungen
von Ausgrenzung und Verfolgung, von Entwurzelung und Akkulturation
herausgearbeitet zu haben. Es ist dies nämlich eine Perspektive, die in
der wesentlich auf erwachsene Verfolgte konzentrierten Holocaust- und
Exilforschung bislang vergleichsweise wenig beachtet worden ist.
Anzumerken ist allerdings, dass die Beiträge, in denen das Thema auch
theoretisch und methodisch reflektiert wird, in der Minderzahl sind.

Untergliedert ist der Sammelband in drei große Kapitel. Im ersten Teil,
der mit „Verfolgung – Das Ende der Kindheit“ überschrieben ist, steht
das Thema Flucht und Exil im Mittelpunkt. Hier befasst sich Gudrun
Maierhof mit der Arbeit der Abteilung Kinderauswanderung in der
Reichsvertretung/Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in den
Jahren 1934 bis 1941. Von der Einrichtung der Abteilung, über ihre
Arbeitsweisen bis hin zum Auswanderungsverfahren schildert sie die
Anstrengungen der Abteilung, möglichst vielen Kindern zur Flucht aus
Deutschland zu verhelfen. Bis zum Verbot der Auswanderung im Jahre 1941
konnten mit Hilfe dieser Abteilung mehr als 7.000 Kinder und Jugendliche
aus Deutschland flüchten.

Vor allem geht es in diesem ersten Kapitel des Buches um die erinnerten
Erfahrungen von Menschen, die gezwungen waren, als Kinder aus
Deutschland zu flüchten und – oftmals ohne ihre Eltern – im Exil zu
leben. Dies war z. B. bei der 1927 geborenen Hanna Papanek der Fall. Sie
schildert in ihrem Aufsatz „Exilkind: ... aus dem Garten vertrieben“ die
Flucht- und Exilerfahrungen von Kindern. Dabei beschreibt sie – und dies
geschieht im Rückgriff auf Eriksons Identitätsbegriff und sein Konzept
der stufenweisen Identitätsentwicklung – auch ihre eigene Entwicklung
unter den Bedingungen des Exils.

Unter die Rubrik Zeitzeugenberichte fällt auch ein Beitrag von Silvia
Schlenstedt (geb. 1931). Sie lebte mit ihren Eltern im Exil, zunächst in
Spanien, dann in Frankreich und gelangte schließlich in die Schweiz.
Dort arbeitete ihr Vater als Lehrer und Betreuer in einem Heim für
jüdische Flüchtlingskinder. Neben ihren eigenen Erinnerungen stützt sich
Schlenstedt in ihrem Beitrag auf Briefe, die sich ihre Eltern seinerzeit
geschrieben haben, sowie auf Berichte und Vorträge, die ihr Vater damals
über seine Arbeit mit den Flüchtlingskindern verfasst hat. Es sind
insbesondere die Berichte des Vaters, die einen dichten Eindruck vom
Zustand der Flüchtlingskinder, aber auch von der pädagogischen Arbeit
mit ihnen vermitteln. Aus der Perspektive eines einfühlsamen erwachsenen
Beobachters (mit offensichtlich bürgerlichem Hintergrund) erfahren wir
hier etwas über die verfolgten, traumatisierten Kinder und den Versuch
der Erwachsenen, diese Kinder unter den bedrängten Bedingungen des Exils aufzufangen, zu versorgen und zu betreuen. Die zeitliche Nähe des
Erlebten zum Berichteten macht die besondere Eindringlichkeit und
Unmittelbarkeit der Schilderung aus.

Wünschenswert wäre es, wenn solche Zeitzeugnisse in gesammelter und
publizierter Form zugänglich wären. In Birgit Schreibers Aufsatz stehen
dann Jüdinnen und Juden, die die NS-Zeit als Kinder versteckt
überlebten, im Zentrum der Betrachtung. Sie widmet sich damit einer
Gruppe von Verfolgten, die bis heute weitgehend unbeachtet geblieben
ist, wurde doch lange Zeit angenommen, diese Kinder hätten „scheinbar
unbeschadet im Versteck überlebt“ (S. 66). Als ein Ergebnis ihrer
Untersuchung hält Schreiber fest, dass die einst Versteckten ein „Leben
auf zwei Ebenen“ oder, anders gesagt, eine „doppelte[...] Existenz“
führen (S. 69). Auf einer ersten Ebene hätten die Zeitzeugen ein
„’gelungene[s]’ Leben“, etwa mit „berufliche[m] Erfolg“, „privater
Zufriedenheit“ und einer Integration in die „nichtjüdische
Mehrheitsgesellschaft“ vorzuweisen. Auf der zweiten, bei Schreiber auch
„Tiefenspur“ genannten Ebene, fänden sich die „noch immer spürbaren
Verluste und virulenten Nachwirkungen früherer Traumatisierungen und
zerstörter Kindheit, die Schuldgefühle und Schmerzen sowie ein
bleibendes Verwundetsein“ (ebd.).

Unter dem Titel „Literarische und dokumentarische Zeugnisse und ihre
Rezeption“ versammelt der zweite Teil des Buches zum einen Beiträge, die
vornehmlich autobiographische, aber auch literarisch-fiktive
Erinnerungen von Zeitzeugen vorstellen und reflektieren. Zum anderen
finden sich hier rezeptionsgeschichtlich orientierte Aufsätze, wobei die
Kontroverse um die Rezeption des Tagebuchs der Anne Frank im Vordergrund steht.

Wolfgang Benz konstatiert in seinem Beitrag, dass kein anderes Schicksal
nach 1945 so sehr „durch naive Identifikation verinnerlicht worden“ sei
wie das von Anne Frank (S. 99). Benz fragt, „wie repräsentativ, wie
exemplarisch, wie lehrreich“ die Aufzeichnungen von Anne Frank seien und
was ihr Tagebuch, abgesehen von der „Gefühlswelt eines jungen Mädchens
in bedrängter Lage“, eigentlich erkläre (S. 106). Dies sei nämlich „im
Grunde nicht viel“, so die Antwort von Benz – und genau das mache auch
den Erfolg des Tagebuchs aus: „Der Transfer der Verfolgungssituation in
die private Lebenswelt versteckter Verfolgter, bei der die Fakten
millionenfachen Mordens nicht zur Handlungsebene gehören, erlaubt
Annäherung ohne den existentiellen Schrecken, den Leser bei der
Beschreibung von Erinnerungen an Ghetto, KZ und Vernichtungslager
erfaßt“ (ebd.). Als Leserin dieser Zeilen fragt man sich allerdings
etwas irritiert, ob denn eine Quelle, mithin ein „Ego-Dokument“,
überhaupt repräsentativ oder exemplarisch sein kann, geschweige denn
sein muss? Müssen Aufzeichnungen über die erlittene Verfolgung während
der NS-Zeit dem Anspruch genügen, lehrreich zu sein? Und ist eine
Annäherung an den „existentiellen Schrecken“ der damals Verfolgten
überhaupt möglich? Ist das von Anne Frank beschriebene und gedeutete
Leben in dem Amsterdamer Hinterhaus nicht „realistisch“, nicht
Bestandteil der Verfolgung und des Völkermords?

Wolfgang Benz kritisiert, wie übrigens auch Laureen Nussbaum und Marion
Siems, mit überzeugenden Argumenten die Instrumentalisierung Anne Franks für eine seichte Erinnerungskultur, die mehr verschleiert als offenbart. In Theaterstücken, Biographien und Verfilmungen sei Anne Frank zur Kultfigur stilisiert, zum Mythos avanciert und damit auch ein Stück weit
trivialisiert worden (S. 107). Allerdings müssen sich Herausgeberin und
Autoren des Bandes fragen lassen, ob man nicht mit der Wahl des
Untertitels: „Anne Frank und die anderen“ genau diesem Mythos in
gewisser Weise Vorschub leistet, indem man wieder einmal Anne Frank in
den Vordergrund rückt und andere verfolgte Kinder und Jugendliche im
anonymen, dadurch beliebig wirkenden Status „die anderen“ belässt.
Innerhalb des Buches, dies sei hier betont, kann davon jedoch keine Rede
sein. Dies macht die dort geführte Kontroverse um den Mythos Anne Frank
deutlich wie auch die breite Darstellung anderer Lebensgeschichten.

Im Gegensatz zu Tagebüchern, Autobiographien und mündlich überlieferten
Erinnerungen lässt die Etablierung von fiktionalen Texten als Quellen
historischer und insbesondere bildungshistorischer Forschung bis heute
weitgehend auf sich warten. Dabei stellen fiktionale Texte eine höchst
ergiebige Quelle dar, und dies gilt auch, wenn es um die Erforschung der
Verfolgung von Kindern bzw. um die spezifisch kindliche Erfahrung von
Verfolgung geht. Der Gewinn fiktionaler Literatur für eine historische
Forschung, die an subjektivem Erleben und dessen Verarbeitung
interessiert ist, wird besonders im Beitrag von Marianne Kröger
deutlich. Sie sucht in autobiographisch-fiktiver Literatur der
US-amerikanischen Schriftstellerin Lore Segal nach den Spuren des
Kindheitsexils. Lore Segal kam im Dezember 1938 als Lore Groszmann mit
einem Kindertransport aus Wien nach Großbritannien. Über ihre Kindheit
in Wien und über ihre Exilerfahrungen hat sie einen autobiographischen
Roman verfasst, der 1964 unter dem Titel „Other people’s house“ zunächst
in englischer Sprache und erst im Jahre 2000 unter dem Titel „Wo andere
Leute wohnen“ erschienen ist. Im Zentrum des Romans stehen „das
Vertrieben-Werden, Ankommen und doch nirgendwo Zuhause-Sein [...], die
unzähligen Irritationen des Exils, der Verlust eines stabilen familiären
Rahmens und seine Auswirkungen sowie die Schwierigkeiten der äußeren und inneren Umstellungen auf die diversen Exilstationen mit ihren jeweils
spezifischen Lebensbedingungen“ (S. 181). In Marianne Krögers Analyse
dieses und eines weiteren Romans von Lore Segal gewinnt man auf
zweierlei Ebenen Erkenntnisse: einerseits über kindliche Erfahrungen im
Exil, über die Entfremdung der jungen Exilierten von ihrer Familie und
deren bedrohlicher Lebenssituation in Deutschland, andererseits über die
Verarbeitung dieser Erfahrungen in fiktionaler Literatur.

Im dritten Schwerpunkt des Bandes, der mit dem Titel „Ethik der
Erinnerung – zum Problem, Erfahrungen an die nachkommenden Generationen zu vermitteln“ überschrieben ist, werden verschiedene künstlerische und schulische Projekte vorgestellt, in denen anhand individueller Schicksale das Thema Verfolgung von Kindern und Jugendlichen im Nationalsozialismus erarbeitet wurde.

Während Dirk Krüger sich am Beispiel eines Unterrichtsprojektes mit dem
Nationalsozialismus als Thema in der Grundschule auseinandersetzt,
stellen Bettina Ramp und Martin Krist jeweils Projekte vor, in denen
Grazer bzw. Wiener Jugendliche Lebensgeschichten von verfolgten Kindern
und Jugendlichen aufgearbeitet haben. Aus beiden Projekten sind
Ausstellungen bzw. Buchpublikationen hervorgegangen. In ihren
Reflexionen über die Projektarbeit mit den jugendlichen SchülerInnen
stellen sowohl Bettina Ramp als auch Martin Krist heraus, dass der
Kontakt mit Originaldokumenten, mit Alltagsgegenständen von Betroffenen
aus der damaligen Zeit und mithin das unmittelbare Gespräch mit
Zeitzeugen für das historische Lernen ihrer SchülerInnen von zentraler
Bedeutung seien.

Irritierend ist dabei allerdings die „Betroffenheitssemantik“, so z. B.
wenn Bettina Ramp schreibt, dass man als Erwachsener nicht verlangen
könne, dass „die Jugend beim Thema ‚Holocaust’ automatisch
Betroffenheit“ zeige, sondern dass diese „Betroffenheit und vor allem
die Lehren aus dieser Geschichte“ erst erarbeitet werden müssten (S.
230). Hier stellt sich die Frage, was Betroffenheit eigentlich ist, wozu
sie im Kontext historischen Lernens dienen soll und ob sie Letzteres
nicht eher verhindert als befördert. Denn Betroffenheit ist nicht zu
verwechseln mit dem mühsamen Prozess der Entwicklung von Empathie und dem ebenso mühsamen Prozess rationaler Erkenntnis. Gleichwohl: In
Alltagsgegenständen, in Ego-Dokumenten und besonders im Gespräch mit
Zeitzeugen wird „Geschichte“ konkret, wird die „Verfolgung“ der
Millionen als individuelles Schicksal greifbar. Sie sind für historische
Forschung wie auch für historisches Lernen und mithin für
Erinnerungsarbeit von unersetzbarem Wert – davon ist man, sofern man es
nicht bereits vorher war, nach der Lektüre dieses Sammelbandes,
überzeugt.

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
PD Dr. Karin Priem

Erfassungsdatum: 22. 07. 2005