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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Goeing, Anja-Silvia
Rezensiertes Werk: Historisches Wörterbuch der Pädagogik / hrsg. von Dietrich Benner und Jürgen Oelkers. - Weinheim: Beltz, 2004. - 1127 S. ISBN 3-407-83153-6
Erscheinungsjahr: 2005
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Anja-Silvia Goeing
Institut für Pädagogik, Universität Zürich
E-mail: agoeing@paed.unizh.ch

Text der Rezension:

Die Ressourcen der Historischen Bildungsforschung werden zu wenig genutzt 

In diesem Handbuch werden für eine Auswahl von Grundbegriffen begriffs-
und konzeptgeschichtliche Traditionslinien aufgezeigt. Die Begriffe
tragen heute wissenschaftliches Denken um Pädagogik und
Erziehungswissenschaft. Mit diesem in die Gegenwart gerichteten Impetus
erweist es sich als Projekt der Systematischen Erziehungswissenschaft.
Die Unternehmung, Begriffstraditionen aufzuspüren, verweist dagegen in
den Bereich, der üblicher Weise von der Historischen Bildungsforschung
bearbeitet wird. Historische Bildungsforschung wird hier als
Sozialwissenschaft aufgefasst, zu welcher die intellektuellen
Denkprozesse in den einzelnen Jahrhunderten selbstverständlich
hinzugehören. Verschränkt sich diese historische Forschung mit
systematischer Forschung der Allgemeinen Pädagogik und geht dabei über
den generellen Rückblick der konzeptuellen Traditionsbildung hinaus in
die Details historisch gewordenen Denkens und Handelns, so kann ein
solches Vorgehen beiderseits fruchtbringend ausfallen: Die früheren
Werke von Jürgen Habermas, wie seine zur Publikation ausgearbeitete
Habilitationsschrift 1962 "Strukturwandel der Öffentlichkeit" (1),
bieten ein international hochgerühmtes Beispiel für diesen Ansatz. Das
Buch wurde nicht nur in systematischer Perspektive aufgenommen und
weitergeführt, sondern diente seither ebenso unzähligen historischen
Arbeiten zur Grundlage. Ich werde im Folgenden neben den Bruchstellen,
die ein solcher Ansatzmix mit sich bringt, den Wert und möglichen Nutzen
dieses Gemeinschaftsprojekts analysieren und einige Ideen für die
Weiterarbeit entwickeln.

1. Die Auswahl der Begriffe
Die Herausgeber konnten sich in einer, wie sie selbst schreiben,
insgesamt mehr als 15jährigen Denkarbeit auf eine Essenz von 52
ausgeführten Begriffen einigen. In alphabetischer Reihenfolge, die
folglich die Begriffszusammengehörigkeit nicht durch deren räumliche
Nähe abbilden kann, damit jedoch größere assoziative Offenheit zulässt,
werden verschiedene Sparten pädagogischen Denkens gestreift. Grob
zusammengefasst geht es den Herausgebern um die Darstellung
philosophischer bzw. historischer Epochen wie „Humanismus, humanistische Bildung“ (Jörg Ruhloff), pädagogische Ansätze wie
„Demokratie/demokratische Erziehung“ (Micha Brumlik), sozialer Felder
und Institutionen, in denen Pädagogik tätig wird, wie „Familie“ (Jürgen
Reyer) oder „Schule“ (Herwart Kemper), wissenschaftlicher Disziplinen
wie „Erziehungswissenschaft“ (Heinz-Elmar Tenorth) oder „Didaktik“
(Lothar Wigger) und schließlich um die Zeichnung derjenigen Begriffe,
die in verschiedenen Theorieansätzen und im allgemeinen Sprachgebrauch
verwendet werden, wie „Bildsamkeit/Bildung“ (Dietrich Benner/Friedhelm
Brüggen) oder „Bürger/bürgerlich“ (Stephanie Hellekamps). Das Besondere
gegenüber einem herkömmlichen Lexikon ist die Reduktion auf eine
repräsentative Auswahl von Begriffen für diese Felder, die dann in
gebührender Länge abgehandelt werden: So werden „Kind/Kindheit“ (Christa
Berg) und „Jugend“ (Jürgen Zinnecker) zu eigenen Kapiteln. Die Idee des
Erwachsenen jedoch wird nicht eigens, wohl aber implizit in
verschiedenen anderen Kapiteln besprochen: der wissenschaftlichen
Disziplin „Erwachsenenbildung“ (Christiane Schiersmann), dem sozialen
Feld „Familie“, dem Theoriebegriff „Mündigkeit“ (Dietrich
Benner/Friedhelm Brüggen) und den Allgemeinbegriffen „Mütterlichkeit“
(Sabina Larcher) und „Vaterbild und Männlichkeit“ (Sabine Andresen).
Dieses Beispiel macht deutlich, dass die Begriffsauswahl im Falle der
Lebensalter an der Idee der Erziehungsbedürftigkeit orientiert ist,
mithin ohne einen impliziten und formal gehaltenen Erziehungsbegriff der
Autoren nicht auskommt. Bei den Begriffen, die in unterschiedlichen
Theorieansätzen und im allgemeinen Sprachgebrauch verwendet werden,
fällt auf, dass sie einer ganzen Gruppe je spezifischer
Mutterdisziplinen zugehören, der Philosophie, den Geisteswissenschaften
allgemein und den Sozialwissenschaften, allesamt jedoch spezifisch
pädagogisch, d. h. auf Erziehung bezogen, ausgedeutet werden. Der
originellste und stichhaltig begründete pädagogische Fachbegriff ist der
von Klaus Prange erläuterte Begriff „Form“. Die unterschiedliche
Herkunft der Begriffsadaptionen aus Nachbardisziplinen, die in den
Traditionslinien deutlich beschrieben werden, weisen heutiger Pädagogik
als Wissenschaft methodisch wie inhaltlich einen selbstbewusst
eklektischen Charakter zu. Damit erhält sie einen Platz zwischen
Geistes- und Sozialwissenschaft wie die Geschichtswissenschaft; zwischen
philosophischem und historischem Erkenntnisinteresse wie die Soziologie;
zwischen pragmatischem und deskriptivem Erkenntnisinteresse wie
Anwendungswissenschaften allgemein; zwischen dogmatischem Festschreiben, transzendentalkritischer Analyse und hermeneutik- und empiriebasierter Offenheit.


2. Die Begriffstraditionen
Die Begriffssubstanz und ihre zugehörige Traditionsbestimmung ist von
der Auffassung des Begriffes entweder als Wort oder als inhaltliches
Konzept abhängig. Dies wird von den Autoren der Beiträge unterschiedlich
ausgedeutet. Die Arbeit mit dem Wort als Begriff ist die korrekte Art,
mit Begriffsgeschichte umzugehen. Für Friedhelm Brüggen etwa beginnt die
Beschäftigung mit Öffentlichkeit im Sinne des Handbuches dort, wo der
Begriff als Wort, substantiviert aus „öffentlich“, verwendet wird (S.
724). Der interessierte Leser freut sich jedoch, dass trotz vom Autor
selbst konstatierter Inkonsequenz auch noch die inhaltliche Idee des
Adjektivs „öffentlich“ in Antike und Früher Neuzeit abgehandelt wird (S.
724-738). Ein Beispiel für die andere Seite, die Auffassung eines
Begriffes ausschliesslich als inhaltliches Konzept, ist der Begriff
„Pädagogik“, wie ihn Winfried Böhm ausleuchtet. Seine Darstellung weist
Denken über Erziehung seit der Antike nach, ohne dabei die Entstehung
der universitären Wissenschaft als paradigmatischen Wandel im
Selbstverständnis des Faches zu empfinden. Eine sehr überzeugende
Abgrenzung von Pädagogik und `Pädagogik als Wissenschaft` wird unter
Verwendung analytisch-deskriptiven Instrumentariums dann sehr elaboriert
von Heinz-Elmar Tenorth besorgt, der den Begriff „Erziehungswissenschaft“ behandelt. Mit ganz besonderem Interesse kann in dieser zweiten Sparte dem Begriff „Lehrplan“ gefolgt werden, der nun
ganz inhaltlich die unterschiedlichen Lehrpläne von der Antike bis in
die Jetztzeit umfasst und damit eine Darstellung leistet, die weit über
das hinausgeht, was der Klassiker für diesen Bereich Josef Dolch (2)
vorgelegt hat. Andreas Dörpinghaus, Karl Helmer und Gaby Herchert
gebührt großer Dank für die Bereitstellung dieser wertvollen
Informationen, auch wenn diese Forscherarbeit weit über das Anliegen
einer herkömmlichen Begriffsgeschichte hinausgeht. Es ist die Sache der
Herausgeber, in einer zweiten Auflage diese Spannbreite methodischer
Zugänge entweder auf Grund des inhaltlichen Interesses so breit zu
lassen, wie sie ist, oder durch die Vorgabe einheitlicher
Verfahrensweisen zu standardisieren. Will man den inhaltlich basierten
Zugriff und damit den bereits in diesem Konzept angelegten reduktiv
enzyklopädischen Charakter weiter ausbauen, so wäre zu überlegen, etwa
den Begriff des „Erziehungssystems“ mit zu berücksichtigen. Der Begriff
selbst hat keine nennenswerte Tradition, ist eher einseitig mit dem Werk
Niklas Luhmanns verbunden, das inhaltliche Konzept der institutionellen
Vernetzung lässt sich jedoch bis in antike und mittelalterliche
Lehrpraxis zurückverfolgen.

Nach diesen grundlegenden Verständnisunterschieden lädt eine
vergleichende Betrachtung der Begriffe dazu ein, die verwendete
Referenzliteratur genauer zu betrachten. Es stellen sich die Fragen, ob
gleiche oder unterschiedliche Referenzautoren benannt werden, und wie
mit den Schriften der Autoren generell umgegangen wird. Ein erster
Befund ist sehr interessant: Egal in welcher theoretischen Schule die
Begriffe im 20. Jahrhundert verwendet werden, nennen etwa deren 63
Prozent Platon als Ahnvater. Seine Zitierhäufigkeit (88 Mal: s. Index S.
1123) wird nur noch übertroffen von Immanuel Kant (91 Mal: s. Index S.
1120) und Jean-Jacques Rousseau (117 Mal: s. Index S. 1124). Das
Referenzwesen zeigt sehr viel über die Fachidentität, die über bestimmte
(kanonische) Schriften ausgebildet wird. Es ist positiv zu vermerken,
dass die Rezeption der philosophischen Fachgrössen nicht selten zu einer
Neuinterpretation im größeren Rahmen führt, für die hier Käte
Meyer-Drawes Artikel „Leiblichkeit“ paradigmatisch genannt werden kann.
Darüber hinaus benennt jeder Artikel unbekanntes und daher für die
Fortentwicklung der Wissenschaft des Faches sehr wichtiges Detailwissen:
Eine Blumenwiese an unbekannten Autoren des 18. Jahrhundert findet sich
etwa in dem Artikel von Jürgen Oelkers zur „Aufklärung“.

3. Historische Sichtweise
Aus historischer Sicht fallen zwei verbesserungswürdige Tatbestände auf:
Zum einen wird zu stark problemgeschichtlich und zu wenig historisch
argumentiert. Der sozialgeschichtliche Kontext der Begriffe in den
einzelnen Jahrhunderten kann im Einzelfall lineare Traditionsbildungen
verhindern, indem er Verschiebungen von Wertigkeiten belegt. Eine so
geartete Forschung würde etwa das Konzept der rhetorischen Weisheit
(„sapientia“) mit einem sozialen Status in Verbindung bringen können.
Weiterhin würde sie aussagen können, dass dieses Konzept im Laufe des
16. Jahrhunderts in manchen theoretischen Schriften neuer sozialer
Gruppierungen durch einen anderen Begriff, denjenigen der
„intelligentia“, ersetzt wurde. (3) Diese Art Forschung dokumentiert
mithin die Wandlung der Erziehungsbegrifflichkeit und damit den Wert der
Begriffe in ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Zum anderen sollte überlegt
werden, Besonderheiten in der Begriffsbildung, die mit spezifisch
deutschen Entwicklungslinien zu tun haben, in jedem Fall in ihren
größeren europäischen Rahmen einzulassen. Das wichtigste Beispiel ist
die Aufnahme und Ausformulierung des Begriffes „Bildsamkeit/Bildung“
(Dietrich Benner/Friedhelm Brüggen) als pädagogisches Konzept. Es
handelt sich dabei um eine der tragenden Säulen deutschsprachiger
Pädagogik, deren europäischer Kontext nicht geklärt ist. Die
Herausforderung, sich gerade mit diesem Begriff dem europäischen
Vergleich zu stellen, bleibt als Anliegen der nächsten Auflage zu
wünschen.

4. Zusammenfassende Würdigung
Das Historische Wörterbuch der Pädagogik hat keine Vorläufer im
pädagogischen Schrifttum. Die Unausgewogenheiten, die sich
eingeschlichen haben, wie die verschiedenen Auffassungen über
Begriffsgeschichte, sind daher mehr als entschuldbar. Seine idealen
Leser sind der wagemutige Student, der sich durch das zusammengetragene Detailwissen nicht erschrecken lässt, und die Fachkollegin, die seit Jahren über ein ähnliches Thema brütet und nun, Schematismen nachweisend, in den Disput eintreten kann. Mehr noch als diese werden schließlich die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen des Faches, die sich mit anderen Disziplinen innerhalb der Pädagogik beschäftigen, das bereichernde Angebot an geballtem Kontextwissen schätzen können.


Anmerkungen

(1) Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen
zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied 1962.

(2) Dolch, Josef: Lehrplan des Abendlandes: zweieinhalb Jahrtausende
seiner Geschichte. (1959). 3. Aufl. Ratingen 1971.

(3) Goeing, Anja-Silvia: Schulausbildung im Kontext der Bibel: Heinrich
Bullingers Auslegung des Propheten Daniel (1565). 22 S. Erscheint 2005


Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
PD Dr. Karin Priem

Erfassungsdatum: 10. 10. 2005
Korrekturdatum: 10. 10. 2005