Text der Rezension: |
„Mein Leben für die
Schule“: Die besondere Beziehung zwischen Loki
Schmidt und all dem, was mit Schule zu tun hat, steht im Mittelpunkt des
vorliegenden Buches. Dadurch entsteht ein umfassendes Werk über
Schule
und Bildung, in dessen Zentrum die eigene Schulbiografie Loki Schmidts
und ihre Tätigkeit als Lehrerin steht. Von diesem historischen
Kontext
ausgehend, werden Überlegungen zu Bildungsfragen in einem
Gespräch
zwischen der engagierten Lehrerin Loki Schmidt und dem Hamburger
Pädagogen Reiner Lehberger erörtert. Dieses Gespräch
passt auch in die
heutige, aktuelle Debatte über Gesamtschulunterricht,
Werteerziehung,
selbständiges Lernen, die Gestaltung von Lernumgebungen und die
Lehrerbildung, wodurch das Buch eben nicht bei einer reinen Beschreibung
des Lebens Loki Schmidts „für die Schule“ stehen bleibt, sondern
auch
Loki Schmidts Auffassung zur heutigen Schuldebatte aufgreift.
Das Buch lässt sich in vier große zeitliche Epochen
unterteilen:
(1) Loki Schmidt als Schülerin
Loki Schmidt, geborene Glaser, stammt aus einer Arbeiterfamilie und
wächst in Hamburg mit drei weiteren Geschwistern in eher einfachen
Verhältnissen auf. Die Eltern sind sehr bildungsorientiert,
besuchen
Volkshochschulkurse und bieten den Kindern durch Gespräche und
Bücher
gewisse vorschulische und schulbegleitende intellektuelle Anregungen.
Die Eltern entscheiden sich – angeregt durch sozialdemokratische
Einflüsse und durch Kontakte zu reformerischen Lehrkräften
sowie zum
Leiter der Volkshochschule Kurt Adams - für eine Hamburger
Reformschule, so dass Loki und ihre Geschwister in die Schule
„Burgstraße“ eingeschult werden. 1925 beginnt dort der erste
Schulabschnitt der jungen Loki Glaser.
Von Reiner Lehberger erfährt der Leser Interessantes über die
Hamburger
Reformschulen: Sie entstanden dort nach der Novemberrevolution 1918 und
ihre Gründung war durch die Ablehnung der meist vorherrschenden
sog.
Buch- und Drillschulen motiviert. Es gab vier Versuchsschulen und acht
weitere Schulen, die sich das Ziel gesetzt hatten, ihren Schulalltag und
ihre Pädagogik neu zu gestalten. Dieser Kreis von Schulen nannte
sich
„Hamburger Schulengemeinschaft“. Hamburg galt wegen der Vielzahl an
Reformschulen als Zentrum der Reformpädagogik in der Weimarer
Republik.
Angelehnt an Rousseau und Pestalozzi, so erfährt man, stand in
diesen
Schulen das Kind im Mittelpunkt der pädagogischen Bemühungen,
die
sogenannte natürliche Erziehung stand im Vordergrund, was sich in
pädagogischen Konzepten wie Gesamtunterricht, Koedukation,
Landschulheime, der offenen Gestaltung des Schullebens und anderen
wichtigen Bereichen zeigte.
Das pädagogische Konzept der Schule „Burgstraße“ beinhaltete
ebenfalls
die Koedukation, den Verzicht auf die Prügelstrafe und das Sitzen
bleiben. Es zeichnete sich durch eine starke Schulgemeinschaft aus, in
der Schüler, Eltern und Lehrer intensiv zusammen arbeiteten und so
ein
wirkungsvolles Schulleben gestalten konnten. Auch Vater und Mutter
Glaser, so erfährt man von Loki Schmidt, brachten viel Zeit,
Energie und
Kraft für diese Schule auf. Als Unterrichtsprinzipien galten das
allseitige, selbständige und fächerübergreifende Lernen,
eine Betonung auf praktische
Unterrichtsfächer wie Technik, Kunst und Musik sowie auf die
sogenannten
Realienfächer. Außerschulisches Lernen wie Exkursionen,
Besichtigungen, Anlegen von Biotopen, Beobachtung von Vögeln usw.
wurde vor allem im Schullandheim praktiziert.
Die Zeit in der Schule „Burgstraße“ (Ostern 1925 bis Ostern 1929)
war –
so kann man es sicher im Nachhinein sehen – das Fundament der
schulischen Erfahrungen Loki Schmidts und der Grundstein ihrer eigenen
pädagogischen Arbeit.
In der Lichtwarkschule, der einzigen höheren Reformschule in
Hamburg,
hat Loki Glaser ihre Schullaufbahn fortgesetzt. Diese Schule wurde
1918/19 neu gegründet und bekam ihren Namen von Alfred Lichtwark,
einem
der bedeutendsten frühen Reformpädagogen aus der sogenannten
Kunsterziehungsbewegung. Erster Schulleiter war Peter Petersen, der
später in Jena seine berühmte Jena-Planschule gründete
und dort sein
pädagogisches Konzept umsetzte.
Auch hier galten wieder die pädagogischen Prinzipien eines
fächerübergreifenden Unterrichts, des selbständigen und
praktischen
Lernens sowie einer starken Konzentration auf den
musisch-ästhetischen
Unterricht. Neben der Jahresarbeit, bei der sich jeder Schüler
einem
eigenen, nach seinen Interessen ausgewähltem Thema widmen und
dieses
selbständig bearbeiten konnte, wurden auch hier vielfältige
außerschulische Lernorte aufgesucht und sowohl Schwimmen als auch
Turnen unterrichtet.
Die Lichtwarkschule war auch geprägt von einem guten
Verhältnis zwischen den Schülern und den Lehrern.
Wahrscheinlich war es
auch diesem guten Verhältnis zu verdanken, dass der Geist des
Nationalsozialismus in diese Schule nur langsam eindrang und kaum von
den Lernenden wahrgenommen wurde. Dies scheint wenig glaubhaft zu sein,
wenn man bedenkt, dass die Lichtwarkschule eine freigeistige, eher
sozialdemokratisch orientierte Schule war. Hier gehen wohl die
Blickrichtung der Schülerin Loki und die tatsächlichen
historischen
Ereignisse etwas auseinander. Reiner Lehberger ergänzt aber
gekonnt die
zum Teil doch sehr subjektiv gefärbten Einschätzungen Loki
Schmidts
anhand von Quellen, aus denen sich die sogenannte „Säuberung“ der
Lichtwarkschule durch die Nationalsozialisten rekonstruieren
lässt. So
musste auch Loki Schmidt die Schule kurz vor dem Abitur verlassen, da
diese geschlossen wurde und das Abitur an einer anderen Schule erwerben.
Außerdem wurde sie Mitglied im Orchester des BDM, was sie wohl vor
weiterer Einflussnahme durch die Nationalsozialisten bewahrte, da sie so
von den sonst üblichen BDM-Treffen befreit war.
Neben Loki Schmidt besuchte auch ihr späterer Mann -
Alt-Bundeskanzler
Helmut Schmidt - mit Begeisterung die Lichtwarkschule. In der Erinnerung
von Loki Schmidt schätzten sie beide das selbständige
Arbeiten, das
Entwickeln eines positiven Selbstbewusstseins, das Wecken von Neugierde
und Wissensdurst, das Gemeinschaftsleben und die Gestaltung des
Schullebens sowie die Erziehung zu Toleranz als wichtige Bildungsziele
der Lichtwarkschule und sehen diese Ziele auch für heutige Schulen
als
sinnvoll und notwendig an. Nicht zufällig betonen auch aktuelle
didaktische Theorien Ziele wie Selbstbestimmung, Mitbestimmung und
Solidaritätsfähigkeit, die erst durch Toleranz,
Selbstbewusstsein und
Gemeinschaftsleben entwickelt werden können. Außerdem
entsprechen die
von Loki und Helmut Schmidt genannten Aspekte auch gegenwärtigen
Überlegungen über Ansprüche an eine aktive, soziale,
situierte und
konstruktivistische Lernumgebung.
(2) Loki Schmidt als Lehramtsstudentin
Im Wintersemester 1938/39 nahm Loki Schmidt ihr Studium an der
Hochschule für Lehrerbildung auf. Die Ausbildung war sehr
verschult. Das
Studium war für die junge Frau trotzdem sehr attraktiv, da es kein
Geld
kostete und relativ kurz war. Außerdem war der Umgang mit Kindern
Loki
Schmidt von ihrer Mithilfe in der Schule „Burgstraße“ schon
vertraut.
Sie schätzte am Lehrerberuf vor allem das gegenseitige Nehmen und
Geben.
So empfand sie es als eine Bereicherung von den Kindern etwas zu lernen,
sich in ihr Denken hineinzuversetzen, was für sie ebenso wichtig
war,
wie ihr eigenes Wissen an die Kinder weiter zu geben.
Im Studium vorgegeben waren die Fächer Erziehungswissenschaft,
Charakter- und Jugendkunde, Vererbungslehre, Rassenkunde, Allgemeine und
Besondere Unterrichtslehre sowie zwei Praktika je Semester.
Letztere hält Loki Schmidt auch für die heutige
Lehrerausbildung für
unverzichtbar. Hier stimmt sie mit vielen Erziehungswissenschaftlerinnen
und Erziehungswissenschaftlern überein, die es ebenfalls als
notwendig
ansehen, dass zukünftige Lehrerinnen und Lehrer möglichst
früh an
Schulen gehen, um dort zu hospitieren, zu unterrichten, das Schulleben
aus der Perspektive der Lehrerrolle zu erfahren, um so rechtzeitig
erkennen zu können, ob der Beruf geeignet ist oder nicht.
Außerdem
werden hier erste wertvolle pädagogische Erfahrungen gesammelt.
(3) Loki Schmidt als Lehrerin
Als Lehrerin war Loki Schmidt an verschiedenen Volksschulen eingesetzt.
Sie unterrichtete nach reformpädagogischen Vorstellungen. So
führte sie
Ganztagesbetreuung ein, bezog viele außerschulische Lernorte in
den
Unterricht ein und betonte das praktische und selbständige
Arbeiten. Ein
Jahr lang war sie mit einer Gruppe von Mädchen bei der
Kinderlandverschickung, wo sie aber eher als Erzieherin denn als
Lehrerin tätig war.
Auch nach dem Krieg und ihrer „Entnazifizierung“ unterrichtete sie die
erste Klasse einer reformpädagogisch orientierten Grundschule. Sie
führte die Klasse bis zum vierten Schuljahr, um auch hier ein
Gemeinschaftsleben zu entwickeln. Gesamtunterrichtsthemen (z. B. der
Hamburger Hafen), Lehrspaziergänge, der Besuch von
Freiluftschulen, das
Lernen durch praktisches Tun und selbständige Arbeit sowie der
Einsatz
vielfältiger Sozialformen bildeten das pädagogische Programm
Loki
Schmidts. Dazu kam eine intensive Betreuung der Kinder sowie deren
Eltern durch viele Elterngespräche und deren Einbeziehung in das
Schulleben.
(4) Loki Schmidts Engagement für Schule und Bildung
Nach ihrer aktiven Zeit als Lehrerin besuchte Loki Schmidt Schulen im
Ausland, half beim Aufbau einer Schule in Brasilien, übernahm den
Vorsitz des Vereins der Freiluftschulen in Hamburg und arbeitete
intensiv mit dem Schulmuseum in Hamburg zusammen, wodurch sie auch mit
Reiner Lehberger in Kontakt kam.
Zentral war ihre Tätigkeit in der Jury des LERN-WERKS der
Zeit-Stiftung.
Dabei handelt es sich um ein Projekt, das sich um die Förderung von
schwächeren Hauptschülerinnen und Hauptschüler
kümmert und bei dem das praktische Lernen und die Arbeit in einem
Betrieb im Vordergrund
stehen.
Ergänzt werden die Erinnerungen Loki Schmidts durch
Hintergrundinformationen Reiner Lehbergers. Diese bleiben allerdings
überwiegend im Kontext der Schulbiografie Loki Schmidts und sind
deshalb
vor allem auf die damalige reformpädagogische Bewegung bezogen.
Wer das Buch „Mein Leben für die Schule“ liest, muss sich also
darüber
im Klaren sein, dass es sich um eine besondere Schulbiografie handelt,
die im Rahmen der reformpädagogischen Bewegung steht und deshalb
wahrscheinlich nicht mit anderen Schulbiografien dieser Zeit
vergleichbar ist. Aber genau das macht diese Biografie lesenswert, da
die Reformpädagogik immer noch auch für aktuelle Fragen der
Bildungsdiskussion eine Vorbildfunktion hat und viele ihrer Aspekte in
unser gegenwärtiges Schulsystem integriert werden sollen.
Entsprechende
Schulerfahrungen von Zeitzeugen bzw. deren biographische Reflektionen
über Erfahrungen mit frühen Reformschulen haben so durchaus
auch einen
Gegenwartsbezug.
Allerdings muss dabei auch bedacht werden, dass es sich um individuelle,
subjektiv geprägte und möglicherweise auch geglättete
Erfahrungen
handelt, die nicht immer verallgemeinerbar sind. Trotzdem halte ich die
Analyse von Schüler- und Lehrerbiografien für ein
interessantes
Forschungsgebiet, das auch für die weitere Entwicklung unseres
Schul-
und Bildungswesen von Nutzen ist.
Loki Schmidt jedenfalls hat auf die Frage, was für Schule,
Unterricht
und Lehrerbildung wichtig wäre, prompte Antworten zur Hand: Jede
Person,
die Lehrer/Lehrerin werden möchte, muss mit Kindern umgehen
können, die
Kinder ernst nehmen und ein natürliches Verhältnis zu ihnen
aufbauen.
Dies kann nur bedingt erlernt und muss als Fähigkeit deshalb schon
relativ früh festgestellt werden. Die zukünftigen
Lehrpersonen sollten
möglichst rasch mit Praktika beginnen, damit sie selbst entscheiden
können, ob sie für den Beruf geeignet sind. Dies gelingt aber
nur, wenn
die Praktika vor Ort durch erfahrene Lehrer und Hochschuldozenten so gut
betreut werden und damit die zukünftige Lehrperson auch danach
weiter
fachlich und methodisch fundiert ausgebildet werden kann. Hierzu
gehört
neben fachwissenschaftlichen Kenntnissen vor allem auch die Entwicklung
sozialer und methodischer Kompetenzen sowie die Fähigkeit
Lernumgebungen gestalten zu können. Außerdem hält Loki
Schmidt die von ihr zeitlebens praktizierten Unterrichtsprinzipien des
selbständigen, differenzierenden und individualisierenden Lernens
für ebenso notwenig wie eine intensive Elternarbeit mit dem Ziel
für alle am Schulleben Beteiligten Transparenz herzustellen.
„Mein Leben für die Schule“ ist der umfassende Erfahrungsbericht
dieser
pädagogischen Richtlinien. Bildungsforschern und –forscherinnen
können
es als Beispiel einer reformpädagogischen Schul- und
Lehrerbiografie
analysieren.
Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
Prof. Dr. Karin Priem
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