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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Bürkler, Sylvia
Rezensiertes Werk: Rother, Wolfgang: La maggiore felicità possibile : Untersuchungen zur Philosophie der Aufklärung in Nord- und Mittelitalien. - Basel: Schwabe, 2005. - 445 S. ISBN 3-7965-2106-1
Erscheinungsjahr: 2006
zusätzl. Angaben zum Rezensenten:
Sylvia Bürkler
Pädagogisches Institut, Universität Zürich
E-Mail: sbuerkler@paed.unizh.ch

Text der Rezension:


Im Vorwort der Beiträge zur Begriffsgeschichte der italienischen
Aufklärung im europäischen Kontext schreiben die Herausgeber (1), dass
die italienische Aufklärung begriffsgeschichtlich bisher wenig erforscht
wurde. Mit ihrem Band, der eine interdisziplinäre Tagung dokumentiert,
leisten sie einen ersten Beitrag zur Klärung. Jetzt, fünf Jahre später,
erscheint das Buch, das beabsichtigt, die Forschungslücke zu schließen,
die im Jahre 2000 angemahnt und in Ansätzen bearbeitet wurde. Wolfgang
Rother untersucht den bis jetzt von der Aufklärungsforschung kaum
beachteten Raum - das philosophische Denken in Nord- und Mittelitalien.
Ausgehend von je spezifischen Auffassungen von Philosophie und Philosoph
vergleicht Wolfgang Rother Aufklärungsbewegungen in Frankreich, England
und Deutschland mit den nord- und mittelitalienischen sowohl in ihrem
historischen Verlauf als auch an Figuren, Lebensformen und Stilen.
Rother beschränkt sich in seiner Untersuchung auf die historische
Definition der Epoche obgleich er anmerkt, dass das philosophische
Zeitalter der Aufklärung noch nicht zum Abschluss gekommen ist, weil es
seine Ziele noch nicht erreicht hat. Der Autor will nicht ein Handbuch
zur Philosophiegeschichte Italiens schreiben, sondern Italiens
Philosophie am Grundbegriff ,Glück` im aristotelischen Sinne von
,eudaimonia` analysieren und darstellen.
In der Einleitung werden die Forschungslücken damit erklärt, dass die
Auseinandersetzung um die italienische Aufklärung ausschließlich in
Italien selbst stattfand und international keine Bedeutung hatte. Damit
im Zusammenhang steht auch, dass die europäische Aufklärungsforschung
Italien keine eigenständige Aufklärungsbewegung zugesteht. Des Weiteren
wurde der philosophiehistorische Zugang, wenn überhaupt, nur für
Süditalien insbesondere für Neapel gesucht. Gerade weil die italienische
Aufklärung wenig Beachtung fand, berücksichtigt Rother in seiner
Untersuchung sowohl ihre Rezeption als auch ihre Originalität.
Im Folgenden werde ich Rothers Analyse von Glück in der nord- und
mittelitalienischen Aufklärung aus einer bildungshistorischen
Perspektive betrachten, auch wenn der Fokus seiner Untersuchung nicht
auf Erziehung und Bildung gelegt wurde und auch die italienischen
Aufklärungsdenker sich selbst primär als Philosophen verstanden.

Ein interessanter Aspekt ist die Erziehung der Mädchen und Frauen (S. 11
ff.). Hier entwickelten die nord- und mittelitalienischen
Aufklärungsphilosophen ein eigenständiges Profil. Im europäischen
Vergleich gingen die italienischen Philosophen von einem ``modernen``
Verständnis der Geschlechterrollen aus: Sie legten die emanzipatorischen
Ansätze weder schichtspezifisch aus, noch konzentrierten sie sich
ausschließlich auf die Bildung oder auf die private Rolle der Frauen,
sondern sie zielten auf eine vollumfängliche Gleichberechtigung der Frau
hin. Pietro Verris pädagogische Reflexionen und Ratschläge, die für
seine Tochter und nicht für eine Publikation bestimmt waren, sind ein
Beispiel für diesen Geschlechterdiskurs und das daraus resultierende
Bildungsverständnis. Nach Verri zeigte sich die Geschlechterdifferenz am
stärksten in der öffentlichen Meinung. (2) Er sah diese Differenz als
sozial bedingt an: Die Frau soll in der Öffentlichkeit dem Bild einer
Wohlerzogenen entsprechen; Frauen seien nicht von Natur aus bescheiden,
scheu, zurückhaltend, empfindsam und mitleidvoll, sondern würden mit
diesen Tugenden den gesellschaftlichen Erwartungen gehorchen. Während
der Mann durch seine Karriere im Militär, in der Kirche, in der
Wissenschaft oder im Staat einen gewissen gesellschaftlichen Rang
erhalte, erreiche die Frau nur durch ihre Tugendhaftigkeit Anerkennung.
Verris Absicht mit dem Manuskript an seine Tochter war, dass sie zu
einer wohlerzogenen Frau werde. Das Manuskript enthielt auch
Ermahnungen, die ausdrücklich an Frauen und Männer gerichtet waren.
Verri plädiert aus drei Gründen für eine frühzeitige Bildung der
Mädchen. Erstens sieht er in der Bildung der Frauen die grundlegende
Bedingung für ihr Glück. Zweitens wird die Frau wegen ihrer Bildung
nicht so schnell Opfer von Galanterie und drittens sollte die Frau
gewohnt werden, Dinge zu erforschen und lesen zu können für die Zeit
nach dem dreißigsten Altersjahr, in der ihre Funktion als Ehefrau nicht
mehr zentral ist.
Für Sebastiano Franci liegt die Lasterhaftigkeit der Frau nicht in ihrer
Natur, sondern in der fehlenden Chancengleichheit, weil ihr der Zugang
zum Studium der Wissenschaften und der schönen Künste verwehrt ist und
sie auch keine Ausbildung in den Tugenden erhält. Dieser neue
Bildungsansatz ist ein sozialpolitisches Reformkonzept. Wenn Franci gar
explizit von politischen, militärischen und ökonomischen
Führungsqualitäten der Frauen spricht, wird der Einfluss von Maria
Theresia als fortschrittliche Regentin des Herzogtums Mailand sichtbar.

Im Kapitel zur Moralphilosophie (S. 111 ff.) finden sich Ansätze, wie
die italienischen Philosophen die Erziehung zur Moral verstanden. Das
Ideal des ``Christiano Cavaliere`` in Gian Rinaldo Carlis Elementi morali
vereint christliche und bürgerliche Normen. Carli unterscheidet zwischen
Individual- und Sozialmoral. Glücklich wird das Individuum, wenn es den
moralischen Verboten befolgt. Dem zufolge bezeichnet Carli die
Individualmoral als ``Wissenschaft das Böse zu unterlassen``. Gemäss der
Moralkonzeption von Carli ist es notwendig, dass die Individualmoral mit
der Sozialmoral, der ``Wissenschaft das Gute zu tun`` verbunden wird. Das
Glück des Menschen hängt von sozialen Beziehungen ab, die auf Tugenden
wie Freundschaft, Achtung, Klugheit, Anstand und Großmut bauen. Diese
werden durch das richtige Anwenden des Wissens aus den beiden Ebenen
erreicht. Ähnlich wie Carli bestimmte Verri das Glück als Verhältnis von Vergnügen und Schmerz. Das bestehende Unglück zu reduzieren sei der Weg zum Glück.
Weil die richtige Anwendung der Vernunft zur Verminderung des Unglücks
beiträgt, soll nach Verri der Vernunftgebrauch früh eingeübt werden.
Erst mit Hilfe der Vernunft kann sich der Mensch von Wünschen befreien,
die der Vernunft widersprechen, und gleichzeitig sinnvolle Wünsche
erfüllen. Als tugendhaftes Handeln erweisen sich solche Handlungen, die
im Allgemeinen nützlich für die Menschen sind. Die utilitaristische
Moralkonzeption Verris baut auf das Glück der Individuen. Die Summe des
Glücks der Individuen wird zum allgemeinen oder öffentlichen Glück.
Sowohl Verri wie Carli sehen das Glück als Zusammenspiel von Individual-
und Sozialmoral.

Regierungskunst, Reform und Revolution implizieren Bildungskonzepte.
Rother beschreibt Verris Reflexionen zur praktischen Regierungskunst (S.
179 ff.). Verri geht davon aus, dass sich eine Reformpolitik nur
durchsetzen lässt, wenn sowohl die Regierung als auch die Öffentlichkeit
``aufgeklärt`` sind. Nachhaltige Aufklärung werde dadurch erreicht, dass
aufgeklärte Männer die Jugend in Finanz- und Staatswirtschaft
unterrichten. Die freie Einfuhr von Büchern, Presse- und
Diskussionsfreiheit sieht er als zusätzliche Voraussetzung um die
Öffentlichkeit für Reformen zu sensibilisieren. Bildung soll das Volk
über seine wahren Interessen aufklären, die denen der korrupten
Herrscher entgegenstehen. Die Menschen würden sich erst gegen
Ungerechtigkeiten auflehnen, wenn sie über ihre eigenen Rechte Kenntnis
hätten. Aufklärung könne mittels guter Bücher und durch Philosophen, die
Grundsteine legen würden, erreicht werden.

Aus der Vielfalt der bearbeiteten Themen in Rothers Untersuchungen
lassen sich noch weitere Problemstellungen für die Erziehungsphilosophie
ableiten. Rother leistet damit nicht nur einen beeindruckenden Beitrag
für die Philosophiegeschichte, sondern er lädt auch die historische
Bildungsforschung ein, sich mit Themen und Problemen der italienischen
Aufklärung zu befassen.
Für die Analyse der Vertreter der Mailänder Aufklärung (Cesare Beccaria,
Pietro Verri) konnte Rother auf neuere Ausgaben zurückgreifen (S. 19).
Der erleichterte Zugang zu diesen Werken ist in ihrer intensiveren
Rezeption innerhalb der Forschungsarbeit spürbar, schmälert aber
keineswegs die differenzierte und sorgfältige Arbeit. Der Autor hat ein
umfangreiches Quellenmaterial, das bislang wenig erforscht war, in ein
gut lesbares Werk eingearbeitet. Dabei hat Rother einen wichtigen
Beitrag zur Erforschung der ``illuministica italiana`` geleistet und
angeregt, die Forschungsarbeit fortzuführen sowie die Originalität der
italienischen Aufklärung im internationalen Kontext besser zu würdigen.



Diese Rezension wurde angeregt und betreut von:
Rita Casale, Universtiät Zürich, Pädagogigsches Institut
E-mail: rcasale@paed.unizh.ch

Erfassungsdatum: 15. 03. 2006
Korrekturdatum: 26. 06. 2006