Text des Beitrages: | Hermann Lange
Der Schulbau der frühen Neuzeit
als Ausdruck von politisch-gesellschaftlicher
Verfassung
und Schulleben
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1.
Einführung
1.1Zum
Forschungs- und Quellenhintergrund
Das
Material für den Vortrag
[1]
entnehme ich zwei Büchern: vor allem meiner
am
Anfang der 60er Jahre entstandenen Untersuchung zu "Schulbau und
Schulverfassung der frühen Neuzeit". Sie war 1965 abgeschlossen und ist
1967 erschienen. Ihr Untertitel lautet "Zur Entstehung und Problematik des
modernen Schulwesens". Es ist nicht unwichtig, diesen Untertitel zur Kenntnis
zu nehmen; denn in ihm kommt ein fortschritts-skeptischer Gesichtspunkt zum
Ausdruck. Dieser Blickwinkel war damals, als die
realistisch-ideologiekritischen Wenden der Pädagogik einsetzten und die
heiße Phase der Bildungsreform anlief, ganz unzeitgemäß. Die
Rezeption des Buches hat dies bestätigt. Es ist heute das zweite Mal,
daß ich öffentlich darüber berichte.
Das
zweite Buch, das ich herangezogen habe, ist Malcolm Seabornes Werk "The English
School. Its Architecture and Organization 1370 - 1870".
Es
ist 1971 erschienen und besticht nicht zuletzt durch seinen Grundriß- und
Abbildungsapparat. Seaborne bestätigt, was auch meine Erfahrung war: "that
the subject of school architecture and organization has been generally
neglected by educational writers" (S. 279). Das ist zwar vor 25 Jahren
geschrieben. Soweit es sich auf die frühe Neuzeit bezieht, gilt es, will
mir scheinen, aber auch heute noch
[2].
Vorgegangen
sind wir beide so, daß unendlich viele Einzelbeispiele und -nachrichten
gesichtet und geordnet wurden. Im Unterschied zu meiner Untersuchung
befaßt sich Malcolm Seaborne allerdings nur mit englischen Beispielen und
reflektiert die gesellschaftlichen Bezüge eher herkömmlich
eindimensional im Sinne immer weiter voranschreitenden Schulbesuches und der
Durchsetzung moderner Unterrichtsinhalte und Bauformen.
Sozialhistorische
Fragen
interessieren ihn nicht. Sie andererseits bilden
den
Hintergrund
meiner
Darstellung. Damit hängt zusammen, daß ich mich nicht auf deutsche
Verhältnisse beschränkt habe. Gerade die
vergleichende
Heranziehung vor allem englischer und dänischer Gegebenheiten in Schulbau
und Schulverfassung hat mir seinerzeit die Augen geöffnet.
1.2
Zum
Begriff "frühe Neuzeit" und zum theoretischen
Hintergrund
Als
ich vor dreißig Jahren des Ergebnis meiner Untersuchungen
zusammenfaßte, galt durchweg noch die Wende um 1500 als die große
Epochenscheide: der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Mir hatten
jedoch die Arbeiten und Vorlesungen des Historikers Otto Brunner
[3]
und des Politikwissenschaftlers Siegfried Landshut
[4]
den Blick dafür freigemacht, daß der eigentliche Umbruch zur Moderne
ins Zeitalter der Französischen Revolution zu legen sei. Inzwischen ist es
zum Allgemeingut geworden, von Alteuropa zu sprechen und dessen Gedankenwelt
und Verfassungswirklichkeit, sagen wir, mit der Auflösung des Alten
Reiches ausklingen zu lassen. In Frankreich wäre es das Ende des Ancien
Régime. England ist schwieriger zu handhaben, je nachdem, ob man auf die
industrielle Situation oder auf die politische Verfassung sieht. Das wird uns
im Schulbau wiederbegegnen.
Alteuropa
reicht also in manchem noch ins 19. Jahrhundert hinein. Andererseits kann man
mit guten Gründen auch sagen, daß sich die Neuzeit schon im hohen
Mittelalter ankündigt. Auf unser Thema bezogen, ließe sich durchaus
vertreten, sie kündige sich mit der Gründung der europäischen
Universitäten in Paris und Bologna an. Die Erfindung des Buchdrucks - ich
erinnere an die Veröffentlichungen von Michael Giesecke - geben dann den
entscheidenden Entwicklungsschub. Mit demselben Recht ließe sich - und
dieses Beispiel liegt mir als Berufspädagogen nahe - die
Ausdifferenzierung der Zünfte in den Städten des hohen Mittelalters
als ein Vorzeichen der Neuzeit werten.
So
kommt man dazu, nach dem Namen für ein Zeitalter zu suchen, das man als
die Inkubationszeit der Moderne in allmählich auslaufenden
alteuropäischen Verhältnissen kennzeichnen kann und das hier als
"frühe Neuzeit" angesprochen wird. Dieses Zeitalter ist bisher, soweit es
Schulbau und Schulverfassung betrifft, wenn überhaupt, dann nur unter dem
Gesichtspunkt der Heraufkunft der Moderne und ihrer Züge dargestellt
wurden. Diesen Gesichtspunkt habe ich in meiner Arbeit umgekehrt und nach den
Nachwirkungen Alteuropas gefragt. Nur so kann man dieser langen
Übergangszeit gerecht werden. Andererseits läßt sich das
Alteuropäische nur in jeweiliger Abhebung von den modernen Zügen
herausarbeiten.
In
meiner Arbeit bin ich Siegfried Landshut gefolgt. Kennzeichen der Moderne war
für mich die Heraufkunft des modernen Staates und der Denkweise des
rationalen Naturrechts. Während das ältere politische Denken seinen
Ausgang von Aristoteles nahm und vom Gemeinwesen her dachte, in dem der
Einzelne jeweils seinen Platz hatte, beginnt des moderne Denken philosophisch mit
Descartes
und politisch mit Denkern wie Hobbes und Rousseau. Für sie steht am Anfang
der singuläre, vorgesellschaftliche Mensch des sog. Naturstandes, und alle
politisch-gesellschaftliche Verfassung ist aus dieser vorsozialen Basis
abgeleitet. Vom profunden Marx-Kenner Landshut hatte ich auch gelernt,
daß man dem modernen Staat die moderne, am Markt orientierte Wirtschaft
an die Seite stellen müsse. Die Dichotomie von Staat und (Wirtschafts-)
Gesellschaft war für mich Kennzeichen der Moderne. Diese moderne, von der
Abstraktion des vorgesellschaftlichen Individuums ausgehende Sichtweise
mußte Zug um Zug der erfahrungsnahen Gedankenwelt und
Gesellschaftsverfassung des alten Europa abgetauscht werden: der ontologischen
Wahrnehmung im Sinne des Aristoteles, für die das Leben in Haus und
Gemeinwesen am Anfang steht.
Niklas
Luhmann
faßt
die hier angedeuteten Zusammenhänge inzwischen in einer evolutionistisch
und kommunikationstheoretisch konzipierten Gesellschaftstheorie. In den
Begriffen dieser funktional-vergleichenden Systemtherorie wird als Kennzeichen
Alteuropas die sedimentäre, also ständische Gliederung der
Gesellschaft gesehen. Kennzeichen der Moderne, die ab 1789 unumkehrbar wird,
ist demgegenüber die funktionale Gliederung der Gesellschaft. Im Zuge
dieses Umbruchs zur Weltgesellschaft zerlegt sich diese in eigenständige
Funktionssysteme, also in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Familienleben bzw.
Intimleben, Religion, Erziehung usw. Das menschliche Individuum wird im Verlauf
dieser Entwicklung in die Umwelt der gesellschaftlichen Funktionssysteme
versetzt. Es wird emanzipiert, ob es will oder nicht. Andere nennen das
"Entfremdung".
Auch
für Luhmann gibt es eine jahrhundertelange Übergangszeit aus der
alteuropäischen Welt in die funktional orientierte und gegliederte moderne
Gesellschaft. Im großen und ganzen sind das für ihn die drei ersten
der sog. neuzeitlichen Jahrhunderte. Er hat diesen jahrhundertelangen
Übergang in umfassend angelegten Studien untersucht und dargelegt, die in
vier Bänden erschienen sind, die er unter dem Gesamttitel
"Gesellschaftsstruktur und Semantik" zusammenfaßt. Das empirische
Material für diese Studien fand er vornehmlich in der Bibliothèque
Nationale in Paris. Es ist die zweit- und drittrangige Literatur jener drei
Jahrhunderte. Luhmann nimmt sie als Doku-mente zeigenössischer
Beobachtungen der Evolutionsschübe, die aus Alteuropa in die eigentliche
Moderne führen. Er unterwirft sie nun seinerseits - theoretisch orientiert
- einer soziologischen Beobachtung zweiter Ordnung.
Im
Rückblick muß ich feststellen, daß ich in meiner Arbeit mit
den theoretischen Mitteln Landshuts ähnliches versucht habe, wobei die
noch stehenden Schulbauten und die noch greifbaren Schulbaupläne und
Schulhausansichten mit zur "Semantik" gehören, über die ältere
Schulwirklichkeit erfaßt werden sollte. Dies möchte ich noch einmal
nachdrücklich betonen: gesellschaftliche Wirklichkeit, das sind für
mich demnach nicht "sozioökonomische Gegebenheiten" oder andere sozusagen
gesellschaftlich uninterpretierte Daten. Es geht mir immer um den
erwähnten Spannungsbogen von Gegebenheiten und Selbstinterpretation der
Gesellschaft. Die geisteswissenschaftlichen Pädagogen pflegten seit
Dilthey vom gesellschaftlich-geschichtlichen Zusammenhang oder seit
Schleiermacher von den einheimischen Begriffen zu reden. In meiner Arbeit nenne
ich das den Zusammenhang von Begriffs- und Verfassungsgeschichte, in den ich
die Schulbauentwicklung einzuordnen versuchte. Allerdings lege ich Wert auf
diesen Zusammhang: die einheimischen Begriffe allein reichen nicht zur
Interpretation. Man muß funktional vergleichen.
1.3 Anwendung
auf eine Geschichte von Schulbau und
Schulverfassung
der frühen Neuzeit
Mit
Hilfe der Abbildungen auf zwei zweier Folien möchte ich zunächst
einmal die geschichtliche Spannweite des Themas "Schulbau und Schulverfassung
der frühen Neuzeit" anzeigen. Am Beginn stehen Schulhäuser wie diese:
Folie 1: (in neuem Fenster)
a.Wismar (Ende 14. Jh.),
b.Stratford (1427),
Schulhäuser
also mit einem großen allgemeinen, möglichst zweiseitig
belichteten
Schulraum.
Am
Ausgang der Epoche aber haben wir Gebäude folgenden Typs:
Folie 2: (in neuem Fenster)
a. Hamburger Johanneum (1840),
b. München: Haidhausener Volksschulhaus (1875).
Sie
bringen den Gedanken der staatlichen Schulhoheit in eine architektonische Form.
Damit erweisen sich die Schulkasernen, gegen die sich zu Beginn unseres
Jahrhunderts die Reformpädagogen wenden, nicht etwa als Ausdruck der von
ihnen so genannten "alten Schule", sondern als erster konsequenter Ausdruck der
Moderne im Schulbau.
Bewußt
habe ich für diese Markierung meines Zeitrahmens eindeutige Bau-typen
gewählt. Aber für den modernen Typus konnte ich auch in Deutschland
kein früheres Beispiel als das Hamburger Johanneum von 1840 finden; und
für England nennt Seaborne sogar erst das Jahr 1870 als das Jahr, mit dem
"the large scale intervention of the Central Government in education" (S. 277)
begann. Erst seitdem könne man zentrale Schulbauanweisungen und
-pläne studieren; bis dahin aber müsse man die Gegebenheiten vor Ort
aufsuchen und aus ihnen die Entwicklungslinien gewinnen.
Wenn
ich im zweiten Abschnitt meiner Einführung, als ich den
politisch-gesellschaftlichen Gesamtrahmen meiner Interpretation ansprach, die
markante Zäsur zwischen dem Auslaufen Alteuropas und dem unumkehrbaren
Einsetzen der Moderne in die Zeit um 1800 legte - 1789, 1806 -, so sollten die
beiden letztgezeigten Beispiele deutlich machen, daß für die
Geschichte von Schulbau und Schulverfassung die alteuropäischen
Ausläufer durchaus auch noch ins 19. Jahrhundert gehen. Prononciert gilt
das für England, aber auch in Deutschland gibt es noch viele nachlaufende
Züge. Sie reichen bis in die Jahrzehnte vor dem Einsetzen der
Reformpädagogik. Das hat mich seinerzeit zu der These veranlaßt,
daß die Reformpädagogen mit der sog. "alten Schule" in Wahrheit an
alteuropäische Konzepte anknüpfen und den ersten Gipfel moderner, d.
h. staatlicher Schulpolitik bekämpfen.
Bei
genauer Betrachtung zeigt sich nämlich, daß die Schul- und
Erziehungs-konzepte der Reformpädagogen sich noch vielfach aus vormodernen
Vorstellungen speisen (um das Adjektiv alteuropäisch zu vermeiden). Man
kommt dahinter, wenn man - wie ich das umrissen habe - die
politisch-gesellschaftliche Semantik einbezieht. Die deutsche Pädagogik
nähert sich ja erst in den Wenden der 60er Jahre einer soziologischen
Sprache , und insofern könnte man sogar die These aufstellen, daß
das hier behandelte Übergangszeitalter erst in den 60er Jahren dieses
Jahrhunderts mit der realistisch-ideologiekritischen Wende der Pädagogik
zur Erziehungswissenschaft ganz endet.
Aber
für den Schulbau im engeren Sinne gilt das natürlich nicht, wohl aber
dann, wenn man die Schultheorie in ihrem politisch-gesellschaftlichen Rahmen
einbezieht. Wohlgemerkt: ich spreche von letzten Ausläufern der
Vormoderne. Was ich noch einmal herausstellen wollte, war dieses: es handelt
sich um eine lange Periode des Übergangs, in der die alte Schulverfassung
mit dem zugehörigen Denken allmählich und nur schrittweise
verschwindet. Während dieser langen Zeit "überlagern sich ... zwei
Denk- und Wirklichkeitsstrukturen"
(S.
14), schrieb ich damals. Das gilt es bei der Interpretation der Beispiele, die
ich nun präsentieren möchte, zu bedenken.
Ich
fasse das, was sich in Schulbau und Schulverfassung für lange Jahrhunderte
überlagert, wobei das Alteuropäische abnimmt und die Moderne zunimmt,
noch einmal anhand der Gegenüberstellung zweier Schulgrundrisse zusammen:
Folie 3: (in neuem Fenster)
Ashbourne (1585
- 1603)
und
das schon einmal gezeigte
Hamburger
Johanneum von 1840.
Oben
sehen Sie einen englischen Schulhausneubau aus den Jahren um 1600, der
übrigens bis 1909 als Schule benutzt wurde. Es kommt mir darauf an,
zwei
Grundzüge herauszustellen:
1. den
einen
großen Schulraum. Er wird gemeinsam benutzt von Master
und
Usher (so hießen in England die Gehilfen des Schulmeisters).
2. geht
es mir darum, das Schulhaus als
Haus
des Schulmeisters
zu
präsentieren.
Das
ist die alteuropäische Ausgangsposition in einer ständischen
Gesellschaft; und am Ende steht das, was sich uns im schon bekannten
Grundriß der Gelehrtenschule des Hamburger Johanneums präsentiert:
1. Die
Reihung von Klassenräumen und
2. die
Entfernung selbst der Direktorenwohnung aus dem Schulhaus. Nur
noch
der Hausmeister ("Custos") wohnt im Souterrain.
Deutlicher,
meine ich, kann man den Umstieg vom Schulhaus zur Unterrichtsanstalt nicht
ausdrücken, von ontologisch-ständischer zu funktionaler Sichtweise.
2. Zentrale
Beispiele
Anhand
ausgewählter Grundrisse und Abbildungen will ich nun versuchen, das
einleitend Umrissene zu entfalten. Ich habe dafür Folien mit Abbildungen
vorbereitet, deren Aussagen ich für repräsentativ halte. Geordnet
sind sie in fünf Reihen. Die ersten vier präsentieren in
systematischen Durchgängen die alteuropäischen Grundzüge von
Schulbau und Schulverfassung der frühen Neuzeit, nämlich
(1.) Haus
des Schulmeisters zu sein;
(2.) das
Fortbestehen des gemeinsamen Schulraumes bis ins 19. Jh.;
(3.) das
Schulgeschehen im Inneren der Schulhäuser und
(4.) das
Schulhaus als Lebensstätte der Lernenden.
Der
5. Abschnitt behandelt dann die Entwicklung der Schulhäuser zu
Unterrichtsanstalten des modernen Staates.
2.1 Die
Schule als Haus des Schulmeisters,
d.
h. als eigenständiges Glied des Gemeinwesens
Die
Folien des ersten Durchgangs bringen Beispiele vom späten 16. bis zum
frühen 19. Jahrhundert. Sie sollen zeigen, daß über diese
Zeitspanne hinweg Kolleg und Schulhaus samt Schulraum wie
selbstverständlich als das Haus des Professors oder des Schulmeisters
angesehen wurden. Für diese Gedankenwelt ist selbstverständlich,
daß zu einem Amt nicht nur der Amtsraum, sondern ein Haus gehört, in
dem der Amtsinhaber samt Hausangehörigen lebt. Der Amtsraum ist Teil
dieses Hauses; so eben auch der Schulraum. Und es war ein Selbstgänger,
"daß ein Haus nach dem Stande des Hausherrn einzurichten ist. Dabei ist
dieser Stand immer auch von öffentlicher Bedeutung; Mensch und
Staatsbürger werden noch nicht unterschieden. Es zerfiel das Dasein der
Menschen auch noch nicht in ein Privat- und ein Berufsleben; und ein Haus hatte
dem Hausherrn in allem, was er war, und allen seinen Hausgenossen zu dienen.
Otto Brunner hat den alteuropäischen Begriff des Hauses (oikos) in seiner
konstitutiven Bedeutung für die Verfassung des Gemeinwesens wieder
herausgestellt und das, was damit umgriffen ist, zur Unterscheidung vom
heutigen Verstande häuslichen, d. h. familiären, modern-privaten
Lebens das "ganze Haus" genannt. Das Haus als Gebäude diente diesem
"ganzen Hause", und von ihm und dem zugehörigen Verfassungsbegriff ist
auch für die vor-moderene Schule auszugehen: sie ist das Haus des
Schulmeisters"
(Lange
1967, S. 24).
Die
Beispiele reichen vom Unterrichtskolleg bis zum Landschulhaus, und ich kann auf
diese Weise zugleich die ständische Gliederung des Schulwesens an seinen
Schulhäusern aufzeigen.
Schließlich
verbinde ich mit diesem ersten Durchgang noch eine andere Absicht. Wo es
angebracht und möglich ist, werde ich auch auf die jeweilige
Stiftungsgrundlage
hinweisen. Das werde ich gelegentlich auch bei einschlägigen Beispielen
der späteren Durchgänge tun. Dies deckt eine der Absichten des 5.
Kapitels meines Buches ab, in dem ich dargelegt habe, daß zur vollen
Selbständigkeit einer älteren Schule neben dem eigenen Schulhaus auch
ihr selbständig fundiertes Einkommen gehörte. Auch dies ist ein
Grundzug frühneuzeitlicher Schulverfassung. Wo Kollegs und Schulen
öffentlichen Anspruch haben, handelt es sich um selbständige
Fundationen. So erst waren sie bürgerliche Einrichtungen im vollen Sinne:
selbständige Stiftungen. Nicht zufällig verlieren sie in Deutschland
diese Selbständigkeit im Zuge derselben Entwicklung, die das Alte Reich
auflöst und den Zünften ihren öffentlichen Charakter nimmt.
Seitdem hängen sie am Tropf eines öffentlichen Haushalts: Ausdruck
von Funktionalisierung.
Nun
zu den Folien mit den Abbildungen.
Folie 4: (in neuem Fenster)
bringt
drei Beispiele von Kolleggebäuden für
Universitäten:
zwei
Gründungen der Blütezeit vor dem Dreißigjährigen Kriege -
Altdorf
und
Helmstedt
-
und einen großzügigen Entwurf des Architekten
H.
C. Sturm
aus dem Jahre 1720. Gemeinsam zeigen sie das Kolleg als die für
angemessen erachtete Bauform: oben die offene
Dreiseitanlage,
in Sturms Entwurf das
geschlossene
Quadrat.
Beide
Universitätsgründungen - das Nürnbergische Altdorf (bekanntlich
hat Wallenstein dort studiert) und das Braunschweig-Lüneburgische
Helmstedt - sind aus älteren gymnasialen Stiftungen hervorgegangen und
haben deren Fundationen übernommen. Beide wurden in kleinere
Landstädte verlegt und dort jeweils am Rande des Orts, an der Stadtmauer
placiert. Beide wurden mit dem Alten Reich aufgelöst.
Die
Hausung
der Professoren möglichst im Kollegiengebäude verstand sich zumindest
für die Gründungszeit von selbst. Außerdem gehörte ein
Alumnat
für
Stipendiaten dazu. Man kann die Zweckbestimmung der drei Flügel in Altdorf
so zusammenfassen:
-
der
südliche
Mittelflügel
enthielt
die Auditorien, die Bibliothek,
eine Kunst- und Naturaliensammlung, Studentenwohnräume und das
Alumnat;
-
im
Westflügel
waren ebenerdig die Ökonomie (also der Küchen- und
Wirtschaftstrakt) und im Ober- und Dachgeschoß zwei geräumige
Professorenwohnungen untergebracht.
-
Die anderen Professoren wohnten im
Ostfügel,
der
nach Süden hin
auch das juristische Auditorium und ab 1650 das Anatomische Thea-
ter enthielt.
An
Sturms
Entwurf lassen sich gut die idealen Vorstellungen der späteren Zeit
ablesen, der Zeit
zwischen
Dreißig- und Siebenjährigem Krieg
.
Im Zentrum liegen die gemeinsamen Räume der Universität,
einschließlich Kirche und Konvikt (heutzutage Mensa). Darum herum wohnen
in einem äußeren Gebäudekranz die Professoren und
Universitätsbeamten. Jeder der Professoren hat in seinem Hause sein
"Privatauditorium". Dieser Gebäudekranz ist sozusagen eine
Aneinanderreihung von selbständigen Schulhäusern (vgl. Abb. 7c).
(Die
eingezeichneten Pfeile zeigen auf die Privatauditorien in diesen
Professorenhäusern).
Folie 5 (in neuem Fenster)
zeigt
die Außenansichten zweier
akademischer
Gymnasien
,
also jener Einrichtungen zwischen Gelehrtenschule und Universität, die vor
allem die philosophische Fakultät im alten Sinne umfaßte.
Die
obere Abbildung stellt das
Casimirianum
in
Coburg
dar, an dem noch Goethes Vater studiert hat: ein schöner Renaissancebau,
ebenfalls aus den Jahren vor dem Dreißigjährigen Krieg. Er steht
noch heute. Der Name weist auf eine Stiftung des thüringischen Landesherrn
hin. Das Raumprogramm umfaßt als Vorkehrungen für den Schulbetrieb
zwei Auditorien und eine Bibliothek; sodann eine
Direktorenwohnung,
eine Konsistorialstube für die Visitatoren; ein Alumnat mit Konvikt und
Unterbringung der Alumnen (Stipendiaten) im Dachgeschoß hinter den
Erkern; weiter die "Oekonomie" mit Wohnungen für den Ökonomen und den
Alumneninspektor (einen der Schulkollegen). Außerdem wurde bald eine
Vorklasse eingerichtet, das sogenannte Paedagogium. Es erhielt einen kleineren
Raum im 1. Stock.
Mit
solcher Ausweitung sind wir schon beim
Christianeum
in Altona,
das 1738/44 von einer Lateinschule zum
Akademischen
Gymnasium
erhoben wurde. Die Gebäude sind zwischen 1719 und 1742 entstanden. Man
sieht noch die Drei-Seit-Anlage als
kollegiates Zitat und Kern der Anlage.
20 Jahre später folgen die beiden Flügel. Das Christianeum hatte
seitdem als Gesamtstiftung eine Dreiteilung:
-
Vorbereitungs- und Bürgerschule;
-
Pädagogium (ab 12 Jahren etwa) und
-
Akademisches Gymnasium mit dem gesamten Spektrum universitärer
Fakultäten.
Also:
eine wirkliche
Gesamtschule!
Mit gewissen Abwandlungen haben wir immer noch dasselbe Raumprogramm wie in
Altdorf und Coburg. Auch hier wohnen die
Lehrenden
in den Schulgebäuden.
Folie 6 (in neuem Fenster)
Auch
das Breslauer Elisabethanum bestätigt die Aussage von der Schule als Haus
des Schulmeisters, hier in einer etwas anderen räumlichen Anordnung. Das
abgebildete Schulhaus wurde 1560 errichtet, als die mittelalterliche
Lateinschule zu einem Gymnasium aufgestockt wurde. Das eigentliche Schulhaus
enthält in drei Stockwerken links und rechts des Treppenhauses die
Schulräume. Es wurde in dieser Form bis 1829 benutzt.
Im
Dachgeschoß hinter den Erkern - vgl. Coburg - lagen Unterkünfte
für unbemittelte Schüler und Choralisten. Die Häuser der drei
obersten Lehrer liegen rechts von der Schule - in gehöriger
Größe, d. h. Rangabstufung von Rektor über Prorektor zum
Dritten Professor. Zugleich macht der Grundriß die Lage am
Elisabeth-Kirchhof und damit die Nähe dieses städtischen Gymnasi-ums
zur Kirchengemeinde deutlich. Die Schule war ins Kirchenregiment eingebunden.
Folie 7 (in neuem Fenster)
bringt
drei nicht-lateinische Schulen. Am interessantesten ist vielleicht der Entwurf,
den der Ulmer Stadtbaumeister
Josef
Furttenbach
1649
für ein "Teutsches Schulgebäw" vorgelegt hat. Furttenbach ist meines
Wissens der älteste deutsche Architekturtheoretiker und hatte viele
Anregungen aus Italien mitgebracht. Er wollte das Schulwesen für die
"modernen", "realistischen" bürgerlichen Berufe aufchließen. In sein
Entwurfsprogramm für Schulbauten hat er deswegen auch eine
deutsche
Schule
aufgenommen, und zwar als Doppelschule. Daran ist im Augenblick zweierlei von
Interesse:
1.
daß eine eigene Schule für
Mädchen
vorgesehen ist und
2.
daß den beiden Schulen je ein Schulmeister vorsteht und dieser jeweils
seine
Unterkunft
im Erdgeschoß
hat.
Die
beiden anderen Abbildungen zeigen Umsetzungen dieses Prinzips der parallelen
Zusammenordnung
von Schulhäusern
als
Haus des Schulmeisters
an zwei Beispielen aus der Zeit um 1800. Im Fall der
Kopenhagener
Freischule
liegen Jungen- und Mädchenschulhaus übereinander: die Wohnungen im
Vorderhaus, die Schulstuben im Hinterhaus, und zwar noch ganz im Stil des alten
gebäudefüllenden Schulraums.
In
Schwelm
finden wir für die
Bürgerschule
1806/08 das Reihenhausprinzip: Rektorat, Konrektorat, Mädchen-Schule -
jeweils Wohnung mit Schulstube. Das entspricht Sturms Konzept für ein
Universitätskolleg (Abb. 4c) in der bescheidenen Version.
Folie 8 (in neuem Fenster)
rundet das Bild von der Schule als Haus des Schulmeisters über alle
Gliederungen des Schulwesens hinweg mit drei Beispielen aus dem Landschulwesen
ab:
-
ein
Schulhaus-Musterriß
aus der Zeit des
ostpreußischen
Retablissements
unter Friedrich-Wilhelm I., dem Soldatenkönig. Der
Schulmeister geht aus seiner "kleinen Stube" in die "große Schul-
stube", und selbst der Stall liegt noch unter demselben Dach
(1736/37).
-
So war es ursprünglich auch bei dem
dänischen
Beispiel. Es handelt
sich um vom König (ab 1721) gestiftete "Reiterschulen" in bestimmten
Landdistrikten. Am Ende des Jahrhunderts wurde die Schulstube um
den rechts noch erkennbaren Stallteil erweitert.
-
Unten sieht man einen Entwurf des katholischen schlesischen Volks-
schulreformers
Abt
Felbiger
aus dem Jahre 1783. Dieser Entwurf ist
schon elaborierter,da er im Mansardengeschoß auch noch eine Schul-
gehilfenwohnung mit eigenem Schulraum vorsieht.
2.2
Fortbestand
und Weiterentwicklung des gemeinsamen
Schulraums
bis ins 19. Jahrhundert:
englische
und dänische Beispiele
In
einem kurzen zweiten Abschnitt folgen nun vier Folien mit englischen Beispielen
und einem aus Dänemark. Sie sollen zeigen, daß der große
gemeinsame Schulraum, dessen Leben und dessen Personen - Schulkollegen wie
Schülern - der Headmaster oder Rektor vorstand, in den großen
öffentlichen Schulen Englands wie Dänemarks bis ins 19. Jahrhundert
Bestand hatte, in England hier und da sogar bis an den Anfang unseres
Jahrhunderts.
Folie 9 (in neuem Fenster)
hat
den Erweiterungsbau der Public School
Harrow
zum Thema. Oben sehen Sie die Ansicht, unten einen Grundriß mit dem
gemeinsamen Schulraum. Erst der Erweiterungsbau von 1819 brachte wegen
gestiegener Schülerzahl Klassenräume und machte den Alten Schulraum
zum Domizil der Fourth Form. Auf die Möblierung gehe ich im nächsten
Abschnitt ein.
Vielleicht
noch ein Blick auf die Ansicht. Wenn Sie sich die rechte Hälfte des
Gesamtgebäudes, also den Erweiterungsbau, wegdenken, haben Sie das Alte
Schulhaus, das der Schule von 1615 bis 1819 diente. Es ist eben derselbe
Raumtyp, in diesem Falle von allen vier Seiten belichtet, den ich Ihnen auf der
ersten Folie mit den beiden mittelalterlichen Schulhäusern von
Wismar
und
Stratford-upon-Avon
vorgestellt habe.
Folie 10 (in neuem Fenster)
präsentiere
ich deshalb, um Ihnen zu zeigen, daß
in
England
selbst dann noch
der
große gemeinsame Schulraum
das
schulbauliche Leitbild abgab, als am Anfang des 19. Jahrhunderts das
Elementarschulwesen auf breiter Basis entwickelt wurde.Vorangegangen war eine
Gründungswelle von Charity Schools im 18. Jahrhundert, in Deutschland als
Frei- oder Armen-schulen bekannt. Schulgesellschaften stellten im 19.
Jahrhundert diese schulgeldfreie Elementarschulvorsorge auf eine breite Basis,
und verschiedene Konzepte von Schulen für viele Hunderte von Schülern
wurden entwickelt und auch faktisch umgesetzt. So entstanden z. B. die viel
nachgeahmten Bell- Lancaster-Schulen. Unsere
Folie
10
zeigt oben die Innenansicht einer Schule nach dem sog.
Madrassystem: 1810.
- Darunter können Sie einen Blick in die
Model
School
des
schottischen Elementar-Schulreformers
David Stow
werfen:
1836.
Ich
habe nicht Zeit, auf die Einzelheiten des Schullebens der Elementarschulen
einzugehen. Mir kommt es hier nur darauf an, zu zeigen, wie lange und in welche
Schulbereiche hinein
der
eine gemeinsame Schulraum
typ-
und stilbildend gewirkt hat. Wohlgemerkt: beides sind Neubauten des 19.
Jahrhunderts! Vielfach nachgebaut.
Folie 11 (in neuem Fenster)
zeigt
Grundriß und Innenansicht einer 1604 im Städtchen
Tiverton
in Devon
errichteten
Grammar School. Sie wurde von
Peter
Blundell
,
einem reichen Tuchhändler, gestiftet und mit einem Fundus für
Master,
Usher
und
150
Stipendiaten
versehen. Auch diese Schule erhielt den herkömmlichen, langgestreckten
Schulraum, nach oben nur durch die Dachkonstruktion begrenzt. Aber
bemerkenswerterweise waren
die
beiden Schulen des Masters
und
des Ushers
bis in Wandhöhe durch einen Quergang getrennt, das
"Interscholium"
.
Er
war durch hölzerne Stabgitterwände gebildet, die man
"screens"
nannte, wie den Lettner in Kirchen. Durch ihn hindurch und über ihn hinweg
blieb für den Blick die Einheit des gesamten Schulraums erhalten: siehe
untere Abbildung.
Hinweisen
möchte ich rückblickend noch einmal auf die beiden
Häuser für Master und Usher -
für damalige Verhältnisse großzügig angelegt und
vorblickend erwähne ich den ebenfalls großzügigen Wohnteil
für die Stipendiaten, den das rechte Ende des Grundrisses ausweist:
Library und Dining Room.
Daß
die am Beispiel von Blundell`s School in Tiverton vorgeführte
Screen-Unterteilung nicht nur in englischen Grammar Schools Usus war, lernen
wir aus
Folie 12 (in neuem Fenster)
Sie
bringt eines von vielen möglichen Beispielen für
dänische
Lateinschulen.
Wir sehen die Ansicht und zwei Grundrisse der 1763 erbauten
Kathedralschule
in Aarhus.
(Seit der Reformation war sie in einem säkularisierten Kloster
untergebracht gewesen - wofür wir aus Deutschland Dutzende von Beispielen
nennen könnten, das Hamburger Johanneum eingeschlossen). Der obere
Grundriß nun zeigt die Situation
vor
1805
.
Dort sehen Sie links mit dem Buchstaben
"a"
gekennzeichnet
die sog.
Meisterlektie
für Rektor und Konrektor, die dort abwechselnd unterrichteten oder
richtiger:
Schule
hielten.
Sie hatten im übrigen ihre gesonderten Häuser. -
"B"
bezeichnet
den gemeinsamen Schulraum der vier nachgeordneten Schulkollegen. Meisterlektie
und Schulraum waren durch eine
Fensterwand
mit breiter Glastür
getrennt:
vgl.
den
screen
von Blundell`s School in Tiverton.
1805
wurde von der dänischen Regierung für alle Lateinschulen des Landes
der Umbau in Klassenräume angeordnet. Es entstand jene neue Raumsituation,
die auf dem unteren Grundriß abgebildet ist. Wir kennen sie bereits aus
den eingangs von mir benutzten Folien 2 und 3 mit dem Grundriß der 1840
in Hamburg neugebauten Gelehrtenschule des
Johanneum.
Auch in Aarhus mußten 1805 die Wohnungen der vier Schulkollegen aus dem
Schulhaus weichen.
2.3 Blick
ins Schulrauminnere und auf das Schulgeschehen in
frühneuzeitlichen
Schulen
In
einem dritten Durchgang wende ich mich nun dem Geschehen im Schulraum zu, und
ich denke, daß inzwischen längst klar ist, daß nicht nur in
England und Dänemark, sondern auch im Deutschland der frühen Neuzeit
"trotz
Comenius"
nicht die Jahrgangsklasse und der Frontalunterricht die Regel war, sondern ein
sehr differenziertes
Zeige
- und Vorführ-, Lern- und Aufsage-,
Abhör-
und Korrektur-Geschehen
.
Der
Schulmeister hielt Schule
,
indem er dieses Geschehen leitete, in dessen Mittelpunkt das "Selbststudium"
der Schüler stand, überwacht im
Aufsagen
und Abhören.
Dort, wo es um
Schreiben
und Rechnen
geht, wird es noch durch
weitere Lern-, Übungs- und
Kontrollformen
differenziert.
Es
folgen einige Beispiele, die das Geschehen im Schulraum verdeut-
lichen.
Folie 13 (in neuem Fenster)
Nicht
zufällig beginne ich mit der
Abbildung
des Schulraums
aus dem >
Orbis
sensualium pictus
<
des
J.
A. Comenius.
Weithin gilt Comenius und gilt er wohl auch heute noch als derjenige, der die
Jahrgangs-klasse propagiert, wenn nicht gar eingeführt hat. Und mit ihr
den Frontal-unterricht. Das Schulraum-Bild der Origninalausgabe des >Orbis
pictus< von 1658 spricht eine andere Sprache. Und die bald hundert Jahre
jüngere Nürnberger Ausgabe hat zwar ein anderes Design, aber noch
dasselbe Konzept mit demselben Text.
Es
zeigt die vielfach beschäftigte
Schülerschaft
- in den Lateinschulen sprach man vom
Coetus
- des hinter seinem Katheder auf dem "Lehrstuhl" sitzenden Schulmeisters. Von
frontaler Ausrichtung keine Spur. Auch nicht von "Unterrichten"! Die meisten
Schüler sitzen auf
lehnenlosen
Bänken
und "lernen" aus aufgeschlagenen Büchern. Einige wenige sitzen an einem
Tisch und schreiben: entweder von der Tafel ab, wo ihnen vorgeschrieben worden
ist, oder nach sonstiger Vorlage oder Aufgabenstellung. Der Schulmeister sieht
die Vorlagen der Schreiber an seinem Pult durch und
verbessert
sie, oder er läßt Schüler einzeln oder gruppenweise vor sich
treten und hört sie ab. Reciting und rehearsel hieß das im Englischen.
Folie 14 (in neuem Fenster)
ergänzt in schöner Weise diese anhand des >Orbis pictus<-Bildes
gewonnenen Einsichten in die ältere Schule und ihr Kerngeschehen. Es
handelt sich um den Grundriß der
"Knabenschule
des Praezeptors Daniel"
um 1800. Dieser Präzeptor stand der tief gegliederten Elementarklasse im
Gymnasium illustre in
Burgsteinfurt
vor.
Da finden wir eine vielfache Unterteilung des Gesamt-Coetus vor, und zwar
immer nach "Bänken", wobei es sich, wie gesagt, um lehnenlose Bänke
handelt.
Das
englische Wort
für diese lehnenlosen Bänke des alten Schulraums lautet "form".
Daraus ist die moderne eng-lische Bezeichnung für die Schulklasse
erwachsen.
Als
einzige Ausnahme finden wir - den Orbis pictus bestätigend - zwei
Schreibtische vor. Sonst aber gibt es nur die sitzweise Gliederung nach
Bänken, zwei Wandtafeln und das Katheder des Schulmeisters in der Ecke.
Ich denke durchaus an englische Schulräume, auch der Kamin erinnert mich
daran.
Bei
den Bänken aber haben wir zunächst die Generalgliederung nach
Bauern-
und
Bürger-Bänken:
ein interessantes ständisches Phänomen im Schulraum. Sodann
können wir anhand der Bezeichnungen für die
Bürgerbänke
das gesamte Schulprogramm oder Lernpensum der Elementarschule des einen
Präzeptors durchlaufen: vom ABC bis zu den lateinischen
Anfangsgründen. Die Stellung der Schulmöbel in der
dänischen
Landschule
(vgl.
Fol. 8, Abb. b)
aus
derselben Zeit läßt auf analogen Schulbetrieb im kleinen
Maßstab schließen: einige frontal gestellte lehnenlose Bänke
und zwei seitlich stehende, beidseitig besetzte Schreibtische.
Folie 15 (in neuem Fenster)
führt
uns noch einmal nach England, und zwar lassen uns ihre Abbildungen in zwei
Schulräume englischer Grammar Schools des 19. Jahrhunderts blicken.
1816
erschien das Werk von
Ackermann
über
die Geschichte der großen englischen Public Schools
Winchester,
Eton
usw. Für unser Thema ist es wegen seiner großformatigen Abbildungen
interessant, die Blicke in die vom Schulleben erfüllten Schulräume
werfen lassen. Auffällig daran ist - und es hat mir seinerzeit die Augen
geöffnet -, daß alle diese englischen Spitzenstiftungen noch immer
nur das differenzierte Schul-geschehen in einem
gemeinsamen
großen Schulraum kannten.
Oben
auf der Folie sehen Sie als Beispiel den uns schon (vgl. Fol. 9, Abb. b) als
Grundriß mit Mobiliar bekannten großen Schulraum von
Harrow,
der erst nach den Zubauten von 1819 zum Raum der Fourth Form wurde. Die
Reproduktion ist leider recht dunkel ausgefallen. Aber wenn Sie genau hinsehen,
ist zumindest folgendes zu erkennen: sozusagen im Fonds des Schulraumes thront
der Headmaster und seitlich sitzen hinter ihrem Pult zwei Ushers oder
Assistants. Die Schüler sitzen zu beiden Seiten eines breiten, freien
Mittelganges und kehren diesem vielfach den Rücken zu. Sie blicken
einander an. Die "forms" sind ohne Lehnen und Tische. Ich habe schon
früher gezeigt, daß das Schulhaus von Harrow 1819 um
Klassenräume erweitert wurde, wodurch der große Schulraum zum
Klassenraum der Fourth Form wurde. Mir ist nicht bekannt, ob sich damit auch
der Schulablauf änderte. Ich möchte es bezweifeln.
Den
Grund für diese Zweifel zeigt die untere Abbildung auf der Folie. Sie gibt
das Schulrauminnere der
Grammar
School von Rotherham in Yorkshire
wieder, eine der älteren Stiftungsschulen. Seaborne bringt sie als
Beispiel dafür, daß die Schools Inquiry Commission 1868 zu Recht
monierte, daß die meisten der alten "endowed schools" (Stiftungsschulen)
sich durch einen "lack of classrooms" auszeichneten: "the forms were still
being taught by the ushers in the same room" (261).Wie gesagt, das Bild des
großen Schulraums von
Rotherham
aus den
1860er
Jahren
dient ihm zur Illustration; und ich sollte hinzufügen, daß es sich
bei diesem Schulraum um einen
Umbau
handelt, der
noch
1857 ausgeführt
wurde und in dem die Schule bis 1890 geblieben ist.
Ich
komme nun wieder zu deutschen Verhältnissen und lege zunächst zwei
Folien auf, die ich nicht im einzelnen interpretieren will. Sie dienen mir als
Beispiel dafür, daß auch in Deutschland die
Schulraum-Verhältnisse an nicht wenigen Stellen denen des englischen
großen Schulraums glichen. Ich könnte
viele
Beispiele
dafür
bringen, und zwar
bis
weit ins 18. Jahrhundert
hinein, daß auch in Deutschland mehrere Schulkollegen zugleich in einem
Raum unterrichteten, ohne Unterteilung - oder eben in der englischen bzw.
dänischen Weise - nur halbhoch geschieden.
Folie 16 (in neuem Fenster)
zeigt oben die Unterbringung des
Stendaler
Gymnasiums
in der Zeit von
1540
bis 1784,
nämlich im hohen Chor der Franziskanerkirche. Noch Winkelmann ist dort
hindurchgegangen. Die Verschläge zwischen den Klassen erinnern in manchem
an die englischen und dänischen
Screens
und wurden im kalten Winter z. T. entfernt.
An
den beiden Grundrissen des
Hamburger
Waisenhauses
von 1679/81 intreressiert hier der rechte, der das 1. Stockwerk wiedergibt. Es
geht mir nur um einen Blick auf den
Schulraum
("g");
von ihm ist nämlich ("h") ein
Klassenraum
für den Katecheten abgetrennt, die sog. "Lateinische Stube". Nach der
morgendlichen gemeinsamen Religionsstunde mit der Gesamt-Schülerschaft zog
der Katechet dorthin mit der Gruppe der Lateinschüler um.
Folie 17 (in neuem Fenster)
bringt
oben einen Ausschnitt aus dem uns schon bekannten Entwurf eines deutschen
Doppel-Schulhauses: 1649, von Josef Furttenbach. Es handelt sich um die
Schreibschule des deutschen Schulmeisters, der darin mit zwei Provisoren wirken
soll. Das ist sozusagen ein elaboriertes Beispiel einer deutschen Schreibschule
mit Schulmeister und zwei Schulkollegen in
einem
Schulraum. Das Lernprogramm geht vom ABC über das Schreiben und Rechnen
bis zur Buchhaltung. Es wird natürlich nicht von allen durchlaufen. Die
Leseanfänger sollen auf Schemeln zwischen den beiden Säulen sitzen.
Rechts unten sind bei "S - S" Plätze zum Aufstellen eingerichtet. Dort
sollen sich die Erstkläßler zum Aufsagen und Abfragen hinstellen.
Unten
auf
der
Folie
17
ist der Entwurf für eine Neueinrichtung des Alten Pädagogiums in
Stuttgart wiedergegeben. Sie ist wegen des eingezeichneten Schulmobiliars
interessant. Die Zeichnung stammt vom Landbaumeister und wurde nach
1797
angefertigt. Für alle Schüler sind
Tische
vorgesehen; doch sind sie zweiseitig besetzt mit lehnenlosen Bänken. Auch
hier kein Gedanke an frontale Ausrichtung aufs Katheder.
Diesen
Durchgang abschließend, möchte ich ein wenig länger bei der
Folie 18 (in neuem Fenster)
verweilen.
Der Grund ist, daß ich noch einmal zusammenfassend auf die Frage der
vormodernen Schulklasse zu sprechen kommen möchte, die offensichtlich
keine Jahrgangsklasse war. Was also war sie dann?
Wir
können das - nach den bisherigen Vorbereitungen - recht gut an dieser
Folie studieren, die die vier unteren Stockwerke des
Leipziger
Thomas-Schulhauses
mit der Einrichtung der Schulräume zeigt, die diese bei einem
Umbau
im Jahre
1732
erhielten
und die in dieser Form hundert Jahre Bestand hatte: bis 1829. (Das
darüberliegende Mezzanin- und das Dachgeschoß mit Erkern werde ich
im nächsten Durchgang behandeln, wo es um die Alumnate geht. Auch das
Erdgeschoß und der 2. Stock werden dann noch einmal zu besprechen sein).
Hier geht es also um die Schulräume im engeren Sinne. Man sieht, daß
sie in der Mitte des langgezogenen Schulhauses liegen, an dessen beiden
Giebelenden die beiden wichtigsten Lehrpersonen ihre Hausung haben:
rechts
der Rektor
und
links
der Kantor,
z. Zt. des Umbaus also noch Johann Sebastian Bach. Die Wohnung des Kantors ist
deutlich kleiner als die des Rektors.
Wie
nun sitzen die Klassen während der Schulzeit und wie ist ihre Gliederung?
Sexta
und
Quinta
haben
je einen Raum
im
1. Stock,
doch fehlen Sitzangaben. Die
Quarta
-
3. Stock
-
scheint besonders stark frequentiert gewesen zu sein. Ich nehme an, daß
hier viele Bürgersöhne verweilten, die nicht die Ab-sicht hatten, die
ganze Schule zu durchlaufen. Sie benutzten diese Klasse als
Bürgerschule,
und sie war deshalb in
Unterquarta
und
Oberquarta
-
je mit besonderem Schulraum - geteilt. Gelegentlich konnte eine
Fortgeschrittenengruppe der Quarta aber auch mit der schon kleineren
Tertia
kombiniert wer-den. Im Schulraum der Tertianer gibt es daher für sie
einen eigenen Sitzblock auf der Gegenseite. Eine ähnliche Vorkehrung
findet sich in der
Prima
im
Erdgeschoß:
"Bänke für die Sekundaner, wenn combinirt wurde".
Die
drei Bankreihen der Primaner waren ansteigend und wurden "Basteien" genannt.
Eine solche "Bastei", offensichtlich auch für Kombinationszwecke, findet
sich auch in der
Sekunda
im
1.
Stock
.
Im übrigen gibt es auch hier
drei
Bankreihen: Unter-, Mittel und Obersekundaner, wie analog bei den Primanern:
Unter-, Mittel- und Oberprimaner.
Aus
diesem Befund ergibt sich nun folgendes
Bild
für die vormoderne deutsche Schulklasse.
Sie
wurde nicht wie eine heutige Jahrgangsklasse zu einem bestimmten Termin
zusammengestellt und dann geschlossen vom Lehrer durchs Pensum geführt.
Vielmehr trat ein lernwilliger bzw. von seinen Eltern Geschickter in eine
Schule ein, zu beliebigen Zeitpunkten. Dort wurde er seinen Kenntnissen
entsprechend eingeordnet und durchlief das Pensum so schnell oder langsam und
so lange, wie er konnte bzw. wollte.
Auch
Seaborne berichtet aus Eton für die 1770er Jahre von sehr
unterschiedlichen Verweildauern in den einzelnen Forms. In die oberste, die
Sixth Form, gelangten überhaupt nur wenige: "more attention was given to
the stage reached by the pupils in the curriculum than to their chronological
age" (vgl. S. 82 - 84). Viele seien spät nach Eton gekommen und
hätten es früh verlassen.
Zurück
zu den deutschen Verhältnissen! Dort hatte sich im Laufe der Zeit eine
Klassengliederung in
drei
Promotionen
eingespielt. Ober-, Mittel- und Obersekundaner bzw. -primaner sind solche
Promotionen, und Halbjahresversetzungen aus einer in die andere Promotion waren
die anvisierte Regel, aber keineswegs verbindlich. Man wurde also zweimal nach
dem Lernstand in der Klasse versetzt und schließlich aus der obersten
Promotion in die unterste der folgenden Klasse.
Ich
habe nicht Zeit, dazu noch weitere Ausführungen zu machen. Nur noch dies:
diese gewissermaßen ruhende
Dreipromotionenklasse
als immerwäh-rende Klasse eines
Schule
haltenden "Schulmeisters" in seinem Schulraum
wurde
erst im Laufe des 19. Jahrhunderts in die moderne
Jahrgangsklasse
umgewandelt. Gelegentlich waren dabei sogenannte Fachklassen ein Übergang,
während man die neuen Jahrgangsklassen mit jahrweisem Versetzungstermin in
allen Fächern "Generalklassen" nannte. Als letztes Beispiel einer solchen
Umwandlung ist mir das
Gymnasium
Ernestinum in
Celle
bekannt. Dort wurde die alte, nach Promotionen gegliederte Prima in zwei
Jahrgangsklassen, Unterprima und Oberprima, überführt, als Hannover
an Preußen fiel, also 1866.
2.4 Die
Schule als Lebensstätte der Lernenden
Drei
charakteristische Merkmale vormoderner Schulhäuser habe ich an Beispielen
präsentiert:
-
Haus des Schulmeisters und selbständige Fundation;
-
langes Nachwirken des Vorbilds "gemeinsamer Schulraum" und
-
das Konzept der bleibenden Mehrgliederungsklasse, in der der Schul-
meister Schule hält.
Nun
gilt es dieses Bild in einem letzten Durchgang noch um den vierten Grundzug zu
vervollständigen: das Schulhaus als Lebensstätte der Lernenden. Ich
kann mich kurz fassen, da ich gelegentlich schon in den vorausgegangenen
Beispielen auf Stipendiatenunterbringung in Alumnaten hingewiesen habe.
Auch
kann ich vorweg schon einmal sagen: Vorkehrungen für das Wohnen und Leben
der Studierenden und Lernenden gehörten wie selbstverständlich zu den
Bauvorkehrungen aller größeren Schul- und Hochschulstiftungen. Die
Lernenden wurden damit zu Hausgenossen des Schulmeisters bzw. der Lehrenden.
Ein
erstes Beispiel bietet der Kollegienhof der schon einmal (Fol. 4, Abb. a)
vorgestellten Nürnbergischen Universität im Städtchen Altdorf:
Folie 19 (in neuem Fenster)
Ich
nutze eine Beschreibung der Universität aus dem Jahre 1795, um
beispielhaft zu erläutern, was an Vorkehrungen für Studenten- und
Stipendiatenunter-bringungen für nötig erachtet worden war. Der
südliche Mitteltrakt umfaßte in den beiden Obergeschossen jeweils
einen Langflur, an dem sieben "bequeme Stuben" mit ein oder zwei Zimmern lagen.
Hier handelte es sich um Stiftungen Nürnberger Familien, die die
Universität vermietete, wenn die Stifter sie nicht nutzten. Im
Dachgeschoß befand sich das Alumnat für zwölf Stipendiaten. Es
hatte eine eigene Fundation, die ins Mittealter zurückging. Das Wohn- und
Studierzimmer dieser Stipendiaten ist auf der unteren Abbildung der Folie
wiedergegeben:
Alumnat.
Links und im Hintergrund erkennt man die gut mannshoch abgeteilten
Studierzellen oder Kabinette, von denen jeder der zwölf Stipendiaten eine
hatte.
Diese
Alumnen hatten ihren gemeinsamen Freitisch im Konviktorium. Dieses Konviktorium
(vgl. die Angaben zu Fol. 4a),auch die Oekonomie genannt, lag im
Westflügel der Anlage. Dort konnten auch andere Studenten gegen Kost-geld
essen. Verantwortlich für alle Beköstigungsfragen war der Oekonom,
der dort ebenfalls seine Wohnung und Räumlichkeiten hatte, von der
Küche bis zu den Stallungen. Die zwölf Alumnen galten als
Hausgenossen des Oekonomen.
Auf
kleinerem Fuß finden wir dieselbe Regelung wie in Altdorf im Coburger
Casimirianum, dem 1604 fertiggestellten Akademischen Gymnasium, das ich schon
einmal gezeigt habe:
Folie
5.
Eton
College, das wir oben auf
Folie 20 (in neuem Fenster)
sehen, wurde 1440 in großem Fuße vom englischen König
gestiftet. Man erkennt die klösterliche Bauvorlage, und der
ursprüngliche Zweck dieser Stiftung war, theologischen Nachwuchs
heranzubilden. Deshalb ist es keineswegs weit hergeholt, die
nachreformatorischen Stiftungen verschiedener deutscher Landesherren mit
Gründungen wie Winchester und Eton zu vergleichen. Man spricht von
Landesschulen, Schulen nämlich für den geistlichen Nachwuchs eines
Landes. In Sachsen hießen sie auch Fürstenschulen; in
Württemberg sind die vier Klosterschulen - Denkendorf, Blaubeuren,
Bebenhausen und Maulbronn - besonders bekannt geworden, weil sie auf das
Tübinger Stift zuführten.
Dieser
Schultyp und seine Bauform durfte in diesem Durchgang nicht fehlen, weil er das
gemeinsame Leben von Lehrenden und Lernenden in besonders sinnfälliger und
eindringlicher Weise zeigt. Allerdings sind die Verhältnisse in
Deutschland bescheidener, baulich und von der Fundation her gab es kein Eton.
Wohl aber werden in der Reformation aufgelassene Klöster und ihre
Güter dazu verwendet.
Auf
Folie
20
unten
bringe ich von den drei sächsischen Landes- oder Fürstenschulen
Schulpforte, Meißen und Grimma als Beispiel den Grundriß der
letzteren. Ich erspare mir eine Erläuterung der Örtlichkeiten und
fasse so zusammen: angepaßt an die örtlichen Gegebenheiten finden
sich neben den Schul- auch alle Alumnatsvorkehrungen in diesem adaptierten
Klostergebäude wieder.
Damit
sind wir bei
Folie 21 (in neuem Fenster)
angelangt. Mit ihr wenden wir uns noch einmal der Thomasschule in Leipzig zu,
Zustand nach dem Umbau von 1732, bei dem auch aufgestockt worden war. Diesmal
geht es nicht um die Klassenräume, sondern um die Vorkehrungen für das
Alumnat.
Es wurde wegen des
Chors
für die Thomaskirche unterhalten, aus dem ja der heutige Thomanerchor
hervorgegangen ist. Zugleich bot ein solcher Chor die Möglichkeit für
Stipendien. Vor allem wird man den Chor der Thomasschule als
Nachwuchs-stätte für Kantorenstellen im Lande ansehen dürfen.
Untergebracht
war das
Alumnat
im obersten Mezzaningeschoß hinter den Erkern des Dachgeschosses
(genannt:
Unter-
und
Obertabulat.
) Es gab Studierzellen je für einen
Unter-
und
Oberburschen.
Auf dem freien Dachboden dazwischen waren an einer Mittelwand die Betten
aufgestellt. Vor zwei Erkern des Dachgeschosses wurden "die Abendarienproben
gehalten". Der eigentliche Musiksaal mit einem Flügel befand sich im 2.
Obergeschoß. Zu ihm hatte der Kantor unmittelbaren Zutritt aus seiner
Wohnung.
Gespeist
wurde gemeinsam im
Cönakel
im Erdgeschoß. Es entspricht dem
Konvikt
in Altdorf und Coburg. Da die Tabulate nicht geheizt waren, hielt man sich im
Winter auch zum Studieren im Cönakel auf, ganz wie in Coburg.
Den
Abschluß des vierten Durchgangs bildet
Folie 22 (in neuem Fenster)
, die
sich noch einmal Furttenbachs Entwurf für ein deutsches Doppelschulhaus
(1649) vornimmt. Diesmal geht es mir darum, zu zeigen, daß
Kostgänger
selbst in einer an-spruchsvollen Deutschen Schule als angemessen angesehen
wurden. Furttenbach will sie in der Schulmeisterwohnung unterbringen. Er folgt
damit einem vielfach geübten Brauch, die Wohnungen der Rektoren nicht
zuletzt deswegen großzügig zuzuschneiden, damit sie Kostgänger
halten konnten. Das erhöhte überdies das Einkommen. Furttenbach sieht
die Hälfte der Schul-meisterwohnung für zwölf Kostgänger
vor, unterzubringen in vier Dreier-kammern. Die Stube I soll die Studierstube
für Schulmeister und Kostgänger sein.
2.5 Die
Entwicklung zur Unterrichtsanstalt
In
einem schnellen letzten Durchgang möchte ich nun noch an einigen
Beispielen zeigen, wie sich schrittweise moderne Gesichtspunkte auch im
Schulbau durchsetzten. Am Ende dieser Entwicklung steht also das, was ich schon
in der Einleitung angerissen und gezeigt habe: die Funktionalisierung des
Schulhauses als Unterrichtsanstalt. Es verschwinden Wohnungen und Alumnate aus
den Schulhäusern, der gemeinsame Schulraum wird zur Flucht von
Klassenzimmern, und aus der "ruhenden" Mehrabteilungsklasse wird die
einheitlich voranschreitende Jahrgangsklasse. Ich kann hier nur einige
Beispiele auf diesem Wege anführen und diese auch nur mit pauschalen
Angaben kennzeichnen. Bedenken möchte ich Deutschland und England. Der
Umschwung in den dänischen Lateinschulen im Jahre 1805 wurde ja schon
gestreift (vgl. Fol. 12).
Als
ein wichtiger Schritt in Richtung Jahrgangsklasse sind zweifellos die Schulen
des Jesuitenordens anzuführen, wenngleich sie im prostestantischen Bereich
offenbar nicht beispielgebend gewirkt haben. Was Comenius in seiner Zeit
weitgehend vergeblich propagiert hat, hat die Gesellschaft Jesu im katholischen
Gelehrtenschulwesen umgesetzt, eben die Jahrgangsklasse.
Folie 23 (in neuem Fenster)
bringt
als Beispiel das Paderborner Jesuitenkolleg von 1612/14 mit dem an den
Kollegteil, also die Ordensklausur, angebauten Schülerfügel. Der
Grundriß zeigt allerdings den Zustand der Zeit vor 1850. Es ist
nämlich davon auszugehen, daß die dünnen Scheidewände
einschließlich der Gangwände ursprünglich nicht vorhanden
waren. Man betrat die Schulräume unmittelbar vom Hof bzw. über die
beiden Treppentürme. So präsentierte jeder der vier Schulräume
für sich genommen zumindest architektonisch noch die Situation des alten
zweiseitig belichteten Schulraums. Es gibt aber durchaus Beispiele der
Klassenzimmer-Reihung an einem Seiten- oder gar beidseitig an einem
Mittelkorridor. Hinzuweisen ist außerdem auf den Theatersaal, der zum
Bauprogramm jeder Jesuitenschule gehörte, und auf die gemeinsame Aula.
Folie 24 (in neuem Fenster)
zeigt das 1650 in Altdorf (zur Universität Altdorf vgl. Fol. 4 a und 19)
eingerichtete
Anatomische
Theater.
Ich habe es hier aus zwei Gründen aufgenommen:
-
einmal steht es stellvertretend für einen Bedarf an neuartigen
Schulräumen,
der in dem Augenblick entsteht, in dem die
Realien
und die
Naturwissen-
schaften
in die Schulen eindringen. Hier wären z. B. auch
Naturalien-
kabinette
zu nennen.
-
Zum anderen bereitet die
halbrund
aufsteigende
Sitzordnung
die
Frontalausrichtung der Schulklasse vor. Sie hängt mit dem demon-
strierenden Charakter des Unterrichts zusammen.
Folie 25 (in neuem Fenster)
steht
ebenfalls für ein neues Raumprogramm, auch hier zunächst noch in den
überlieferten Formen einer Kolleg-Anlage. Es handelt sich um das 1588/92 in
Tübingen
gegründete
Collegium
illustre
,
eine frühe Ritterakademie, gedacht als Studienstätte für den
Adel. Zum neuen Raumprogramm gehörte z. B. ein
Ballhaus.
L. C. Sturm, der Architekturtheoretiker (vgl. Fol. 4c), baut dieses Programm in
einem hier nicht gezeigten Entwurf einer Ritterakademie, 1720 dann noch weiter
aus. So erscheinen z. B. ein
Fechtboden,
ein
Marstall,
ein
Tanzsaal
und ein
Reithaus,
dazu ein
Kunst-
und Modell-Saal.
Aber das lag jenseits der Mittel, die der damaligen Zeit zur Verfügung
standen.
Ein
weiteres Beispiel der voranschreitenden Neuzeit finden Sie auf
Folie 26 (in neuem Fenster)
mit
der
Hohen
Karlsschule,
wie sie 1775 neben dem Residenzschloß in Stuttgart eingerichtet wurde und
aus Schillers Lebenslauf bekannt ist. Sie hat ganz und gar
militärischen
Charakter
.
Fast möchte man sagen, daß sie den Gedanken der Ritterdakademie
funktionalisiert
und "verstaatlicht"
.
Die beiden langen Gebäude in der Mitte enthalten Schlafsäle, an deren
beiden Enden sich jeweils Wasch- und Umkleideräume befinden. Die
Unterrichtsräume sind im rechten Flügel wie moderne Klassenräume
an einem Seitengang aufgereiht. Man denkt auch an das Schulraumprogramm
großer Jesuitenkollegs, zumal in Frankreich.
Eher
nachrichtlich weise ich mit
Folie 27 (in neuem Fenster)
auf
die Franckeschen Stiftungen in Halle hin. "Welch ein Bauen!" staunte selbst der
preußische König, und ich habe in meiner Arbeit von einem
"Schulstaat" gesprochen. Ich gehe nicht mehr auf Einzelheiten ein, sondern
verweise nur noch auf die Verbindung von streng religiöser Einstellung und
penibler Ökonomie, von Pietismus und Rationalismus.
Hat
man sich diese Zusammenhänge vergegenwärtigt, fällt es nicht
schwer, sie auch in England zu bemerken, wenn auch mehr als hundert Jahre
später.
Folie 28 (in neuem Fenster)
zeigt
das ganz funktional eingerichtete Schulgebäude für die Grammar School
der protestantischen Nonkonformisten mit ihrer streng religiösen
Ausrichtung. Ihr Schulhaus aber kennt nicht länger den großen
gemeinsamen Schulraum, vielmehr sind im rechten Flügel (siehe die Pfeile)
zu beiden Seiten eines Mittelganges fünf Klassenzimmer gereiht. Eines
davon hat doppelte Größe und heißt "Writing School", und auch
die anderen vier sind jeweils als "School" bezeichnet. Ganz frei ist man also
doch noch nicht von der älteren Semantik, unklar bleibt, ob das
ältere Schulleben überwunden ist.
Schließlich
noch eine letzte
Folie, Nr.29
(in neuem Fenster)
Sie gewährt noch einmal den Blick in zwei Großschulräume
englischer Elementarschulgesellschaften, datiert 1818. Ich habe sie deswegen an
den Schluß gestellt, um zu demonstrieren, daß es auch ohne die
Ausgliederung von Klassenzimmern einen Weg ins Funktionale gab: unmittelbar im
riesigen Schulraum selbst, in dem es in militärischer Ordnung zuging. Den
Vertretern des offenen Schulraums heute würden die Haare zu Berge stehen.
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