Text des Beitrages: | Die komplexen und konfliktreichen Zusammenhänge von Familie und institutionalisierter (öffentlicher) Erziehung standen thematisch im Mittelpunkt der diesjährigen Fachtagung des Arbeitskreises Historische Familienforschung (AHFF), die an der Justus-Liebig-Universität in Gießen stattfand. Die zahlreichen Tagungsbeiträge ermöglichten die Bildung von vier thematischen Schwerpunkten bzw. Foren.
Forum 1: Staat – Familie – Schule; Forum 2: Politik und Beratung; Forum 3: „Sorgenkinder“ und soziale Benachteiligung; Forum 4: Beziehungen und Konkurrenzen: Familie und Schule. Die Mehrzahl der Beiträge konzentrierte sich zeitlich auf das 19. und 20. Jahrhundert. Aber auch aktuelle Problemwahrnehmungen und Fragestellungen wurden vorgestellt. Damit entsprach die Tagung einem wichtigen Anliegen des Arbeitskreises Historische Familienforschung, die Historizität wie die Aktualität des interdisziplinären Forschungsfeldes Familie zu beachten. Auch in ihrem gemeinsamen Eröffnungsvortrag, in dem sie die Dimensionen des Tagungsthemas skizzierten, betonten Carola Groppe (Hamburg) und Hans Malmede (Düsseldorf) den Dialog der historischen mit den gegenwartbezogenen Forschungsperspektiven.
Ulrich G. Herrmann (Bochum) eröffnete mit seinem Beitrag über das Wechselverhältnis der Sozialisationsinstanzen Elternhaus und Schule im deutschen Bildungssystem des 19. Jahrhunderts den ersten Themenschwerpunkt der Tagung. Im Blick hatte Herrmann das (bildungs)bürgerliche Halbtagsschulsystem und dessen Klientel, im Vortrag vor allem das aufstiegsorientierte gewerbliche Bürgertum. Er beschrieb eine spannungsreiche Begegnungsgeschichte der beiden Sozialisationsinstanzen, in der Schulleitungen vielfach auf Eltern trafen, die Schullaufbahn und Schulerfolg ihrer Kinder (Söhne) eigenwillig mitbestimmten, indem sie diese abmeldeten, auf andere Schulen schickten und so das Angebot und die Leistungsbewertung der Schulen zu beeinflussen suchten. Außerdem thematisierte Herrmann die Vorstellungen von Familie in den zeitgenössischen schulpädagogischen Diskursen. In der Halbtagsschule als Unterrichtsanstalt hatte die Familie den subsidiären erzieherischen Part zugewiesen bekommen. Schulische Disziplinprobleme wurden auf entsprechende Defizite in den Familien zurückgeführt. Im Anschluss an die Einrichtung von Pensionen für auswärtige Schüler fanden in Form der Alumnate und (protestantischen) Familien-Alumnate mit ihren Haus-Vätern und Haus-Müttern halbtagsschulbezogene Familiensurrogate Verbreitung. Sie sollten – so der mit ihnen verbundene Anspruch – den ortsfremden Schülern das Familienleben ersetzen; im Idealfall ein auf Schule und Schulunterricht konzentriertes Familienleben.
Der anschließende, ebenfalls historische Beitrag bezog sich auf die Expansionsgeschichte von Friedrich Fröbels Kindergartenkonzept in den Vereinigten Staaten von Amerika in den Jahren von 1857 bis 1950. Kristen Nawrotzki (London) konzentrierte sich in ihrem Referat auf die politischen Legitimationsstrategien (Öffentlichkeitsarbeit) des von bürgerlichen Frauenvereinigungen in den USA propagierten, organisierten und professionalisierten öffentlichen Kindergartens. Seit 1909 waren dafür die National Kindergarten Association und auf bundesstaatlicher Ebene das US Federal Bureau of Education zuständig. Der propagierte Kindergarten als Vorschuleinrichtung sollte in diesem Zeitraum durchgängig zwei Aufgaben erfüllen, nämlich die Mütter in erzieherischer Hinsicht unterstützen und die Kinder vor dem Übergang in die Schule in ersten Schritten mit ihrer zukünftigen Aufgabe als citizens vertraut machen. Weitere Aufgaben kamen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinzu. Dazu zählten vor allem die Integration der Immigranten in die us-amerikanische Gesellschaft und die präventive Kriminalitätsbekämpfung. Der propagierte öffentliche Kindergarten war also weder als pädagogische Provinz noch als sozialpädagogische Familienersatzleistung gedacht, sondern sollte unter Einbeziehung der Familien und insbesondere der Mütter multifunktional der Sozialisation – auch der politischen Sozialisation – des Nachwuchses in die Gesellschaft der USA dienen.
Nicht historisch, sondern theoretisch ausgerichtet war der Beitrag von Daniel Scholl (Köln), mit dem das erste Forum abschloß. Scholl verfolgte aus einer strikt systemtheoretischen Perspektive im Anschluß an Niklas Luhmann die Frage nach der Austauschbarkeit von Zuständigkeiten und Leistungen von Familie und Schule im öffentlichen Schulsystem. Er charakterisierte die öffentliche Schule als bürokratisch organisierte und dem Unterrichtsbetrieb dienende Institution. Diese Charakterisierung schloß für ihn die Erfüllung familienbezogener (partikularistischer) Ansprüche im (universalistischen) schulorganisatorischen Handlungsrahmen der Institution Schule zwar nicht völlig aus, setzte diesen aber enge Grenzen.
Meike Baader (Hildesheim) eröffnete den zweiten thematischen Schwerpunkt (Politik und Beratung) mit einem Referat, das den Beitrag von Kristen Nawrotzki ergänzte. Baader fragte nach dem Verhältnis von Familie und institutioneller (öffentlicher) Kleinkindererziehung (Kindergarten) in Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika in der Zeit von 1857 bis 1933. Hierbei verfolgte sie in Orientierung an Hayden White die Thematisierung dieses Verhältnisses vergleichend in pädagogikgeschichtlichen ‚Erzählungen’ aus diesem Zeitraum. In den us-amerikanischen Erziehungsgeschichten fungierte Friedrich Fröbel durchweg als Identifikationsfigur mit der Idee einer familienfreundlichen und zugleich der jungen demokratischen Nation dienlichen öffentlichen Kleinkindererziehung. In deutschen Erziehungsgeschichten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert hingegen war Fröbel eine negative – zumal politisch belastete - Randfigur, die mit ihren pädagogischen Ideen und Praktiken die Familie als erste Erziehungsinstitution und als Fundament des Staates zu zerstören drohte. Der familienfreundliche Held in den zeitgenössischen deutschen Erziehungsgeschichten hieß naheliegend Johann Heinrich Pestalozzi.
Von den pädagogischen Geschichtserzählungen mit ihren politischen Werturteilen führte der Beitrag von Mark Jakob (Frankfurt/M.) zur Geschichte der bundesdeutschen Familienpolitik von ihren Anfängen in den 1950er Jahren bis zur Wiedervereinigung. Sein Erkenntnisinteresse richtete sich auf den Zusammenhang von staatlicher Familienpolitik und wissenschaftlicher Politikberatung unter den Bedingungen des demographischen und sozialstrukturellen Wandels. In den 1950er und frühen 1960er Jahren standen Familienpolitik und familienbezogene wissenschaftliche Politikberatung noch in gemeinsamer konservativer Front gegen alle gesellschaftlichen Einflüsse und Initiativen, die das wiederbelebte normative Modell der Kernfamilie erneut zu bedrohen schienen. Öffentliche Erziehung im Sinne dieser Familienpolitik hatte die Erziehungskraft der Familie im Vorfeld der Gesellschaft und notfalls gegen sie zu stärken. Im Verlauf der 1960er Jahre (Große Koalition) und in den 1970er Jahren (Sozial-liberale Koalition) fanden dann wissenschaftliche Positionen in der Familienpolitik Beachtung, die ein funktionales und gesellschaftsbezogenes Verständnis von Familie und Familienmitgliedern (z. B. berufstätige Mütter) beinhalteten und die rationale gesellschaftspolitische Steuerbarkeit der Familienentwicklung versprachen. Für Jakob schien das Vertrauen in die Steuerungskraft einer verwissenschaftlichten Familienpolitik aber bereits Ende der 1970er Jahre wieder weitgehend verflogen. Politische Werturteile standen wissenschaftlichem Wissen gegenüber, auch wenn sich konservative Familienleitbilder realpolitisch nicht mehr durchsetzen ließen.
Ausgehend von der aktuellen Einrichtung von Familienzentren als öffentliche Betreuungs- und Beratungsangebote für Eltern, Kinder, Jugendliche in Nordrhein-Westfalen thematisierte Sabine Andresen (Bielefeld) politische und professionelle (Sozialpädagogik/Sozialarbeit) Diskurse über die beratende „Erziehung“ von Familien in Deutschland um 1900. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stand die bürgerliche Sozialreform mit ihrem Anspruch auf sozialwissenschaftliche Fundierung von professionalisierter (weiblicher) Sozialarbeit und Sozialpolitik; das schloß den Problemfall Familie ein. Als Beispiel führte Andresen die nach dem Ersten Weltkrieg von Alice Salomon und Marie Baum angeregte Armutsforschung als Familienforschung im Dienst der Familien-, Kinder- und Jugendfürsorge an. Trotz der kontrollierend-normalisierenden Generalperspektive der bürgerlichen Sozialreform eröffneten die Ergebnisse der an die Sozialarbeit gebundenen Familienforschung zum Teil durchaus differenzierte Einblicke in die Innenwelten (Überlebensstrategien, Generationsbeziehungen, Autoritätsverhältnisse) der untersuchten armen Familien.
Miriam Gebhardt (Konstanz) verfolgte in ihrem auf die frühkindliche Sozialisation in der Familie in Deutschland im 20. Jahrhundert konzentrierten Beitrag die wachsende Einflußnahme von Expertenwissen auf den elterlichen Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern. Als Erkenntnisquellen dienten ihr Elterntagebücher, in denen moderne (bürgerliche) Eltern, Mütter und Väter, ihre alltäglichen Beobachtungen und Erziehungserfahrungen niederschrieben. Gebhardt stieß in den von ihr ausgewerteten Erziehungstagebüchern auf die mehr oder minder stete Präsenz des beratenden Experten, insbesondere in der Gestalt des Kinderarztes, als Kontrollinstanz des elterlichen Erziehungsverhaltens. Die mit entwicklungspsychologischen und pädiatrischen Expertenwissen verbundenen Normierungen und Werturteile wurden in diesen privaten Selbstzeugnissen elterlicher Praxistheorie vielfach akzeptiert und entsprechend wurde von den Müttern und Vätern gehandelt oder zu handeln versucht. Mit diesem hochinteressanten Referat endete der zweite Themenschwerpunkt.
Das dritte Forum („Sorgenkinder“ und soziale Benachteiligung) eröffnete Maria Wolf (Innsbruck) mit ihrem an Michel Foucaults Bio-Politik orientierten Beitrag über Elternschaft und Kindeswohl im Kontext einer eugenisierten reproduktiven Kultur im 20. Jahrhundert. Wolf konzentrierte sich auf den entsprechenden Diskurs über eugenisch rationalisierte Fortpflanzung und Selektion im Kaiserreich bzw. in der Republik Österreich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Hierbei machte sie auf die bio-politische Wortführerschaft sozialistischer und austromarxistischer Human- und Sozialwissenschaftler aufmerksam, die Frauenbildung und Frauenemanzipation in den Dienst der modernen rationalen Bevölkerungsproduktion und eugenischen Qualitätsauslese stellen wollten. Gabriele Kremer (Gießen) thematisierte in ihrem Beitrag die heilpädagogische Wahrnehmung von behinderten Kindern in ihren Familien in den als „Blütezeit“ der Heilpädagogik bezeichneten Jahren der Weimarer Republik. Während die „Sorgenkinder“ in fürsorglich-liebevollen Familien zum literarischen Motiv aufstiegen, was auch in von Hilfsschullehrern verfaßten Erziehungsratgebern der Fall war, betonten die führenden zeitgenössischen Heilpädagogen und Initiatoren einer humanwissenschaftlich fundierten Sonderpädagogik die Notwendigkeit konsequenter Anstaltsbehandlung, also die Trennung von der Familie, weil namentlich die Eltern („Elternfehler“) von den wissenschaftlichen Heilpädagogen für vielfältige Verhaltensschwierigkeiten („Kinderfehler“) verantwortlich gemacht wurden. Mit dem sozialen Problem der Kinderarmut im gegenwärtigen Deutschland im schulbezogenen öffentlichen Erziehungsdiskurs befaßte sich der Beitrag von Sabine Toppe (Marburg). Sie konzentrierte sich dabei im Anschluss an eine qualitativ-empirische Schulstudie auf Familienbilder in den auf Kinderarmut bezogenen Wahrnehmungen von Grundschullehrerinnen und -lehrern. Toppe konstatierte die Präsenz des bürgerlichen Familienideals und die damit korrespondierende negative Beurteilung der Eltern, insbesondere der Mütter, in den auf die Kinderarmut bezogenen Deutungsmustern der Lehrkräfte. Kinderarmut war (und ist) aus dieser Sicht gesehen vor allem die Folge instabiler Familienverhältnisse und versagender, weil alleinerziehender Mütter.
Sabine Reh (Berlin) und ihre Mitarbeiterinnen Bettina Fritzsche (Berlin) und Kerstin Rabenstein (Berlin) bestritten den vierten und letzten Themenschwerpunkt (Beziehungen und Konkurrenzen: Familie und Schule). Familienbezogene Argumentationsfiguren in reformpädagogischen Schulentwürfen und Schulreformdiskussionen in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgte Sabine Reh diskursanalytisch und mit Blick auf Ganztagschulkonzeptionen. Zuerst verwies sie auf die in reformpädagogischen und schulreformbezogenen Defizitdiagnosen in diesem Zeitraum kontinuierlich präsente Verfallsgeschichte der (großstädtischen) Familie. Darin steckten aber, worauf Reh anschließend aufmerksam machte, zugleich widersprüchliche Bezugnahmen auf Familie bzw. Eltern. Einerseits wurden Eltern als Objekte von schulbezogenen reformpädagogischen Erziehungsinitiativen begriffen, andererseits als Zeugen für das Versagen der herkömmlichen Schule aufgerufen und in die Arbeit von Reformschulen subaltern einbezogen. Anschließend führten Bettina Fritzsche und Kerstin Rabenstein in die Gegenwart des Problemkomplexes Ganztagschule-Familie. Mit Bezug auf Ergebnisse aus einem noch laufenden qualitativ-empirischen Forschungsprojekt zur Entwicklung von Ganztagsschulen in Rheinland-Pfalz und Brandenburg thematisierten sie das Verhältnis zwischen Familie und Schule in den schulinternen Legitimationsdiskursen der Lehrkräfte. Für Fritzsche und Rabenstein durchzogen ideale Bilder von Familie und Familienerziehung auch als Modelle ganztagschulischer Erziehung die schulinternen Diskurse. Daran gemessen, konnten die realen Familien und ihre Erziehung nur als defizitär erscheinen. Folglich hatte die gute Ganztagschule als familienähnliche Gemeinschaft zu fungieren, kompensatorische Erziehungs- und Bildungsleistungen zu erbringen und die Lehrerkollegien hatten sich gegenüber familiären Ansprüchen abzugrenzen.
Vielfältig und vielschichtig waren die Tagungsbeiträge, die sich aber immer wieder annäherten und ergänzten. Die Aktualität zahlreicher historischer Bezüge war nicht zu übersehen. Aufmerksam machten die Beiträge auf Kontinuitäten und Konjunkturen, insbesondere mit Blick auf die problembezogenen Deutungsmuster, die die spannungsreichen und zum Teil extrem widersprüchlichen Zusammenhänge von Familie und institutioneller (öffentlicher) Erziehung vom 19. bis in das beginnende 21. Jahrhundert begleitet haben. Sie sollen auf der nächsten Tagung des Arbeitskreises Historische Familienforschung (AHFF) im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Diese Tagung wird vom 24. 01. – 26. 01. 2008 an der Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg stattfinden. Zu danken gilt es den Referentinnen und Referenten für ihre anregungsreichen und mitunter provokanten Beiträge, zu danken ist vor allem aber auch Jutta Ecarius und ihrem Team. Sie sorgten in den stilvollen Räumlichkeiten des alten Rektoratsgebäudes der Universität Gießen für eine in jeder Hinsicht gelungene Tagung.
Hans Malmede (Düsseldorf)
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