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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Hofmeister, Andrea
Titel:
Bildungsgänge. Selbst- und Fremdbeschreibungen in der Frühen Neuzeit

12. Tagung der AVE, 11.-13. März 2009, Universität Bielefeld, Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZIF).
Erscheinungsjahr: 04/2009
zusätzl. Angaben zum Autor: E-Mail: ahofmei@gwdg.de
Text des Beitrages:

Mit einem kulturgeschichtlichen Einstieg, welcher die Aneignung von Bildung als individuellen Prozess in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses stellte, hatten die Veranstalter der diesjährigen AVE-Tagung die sonst üblichen institutionen-, sozial- und theoriegeschichtlichen Fragestellungen in die zweite Reihe verbannt. Ein durchwegs gelungener Versuch, der tatsächlichen kulturellen Differenzierung der frühneuzeitlichen Gesellschaft auf die Spur zu kommen, in welcher individuelle Bildung auch neben und auf anderen Wegen als innerhalb der durch Stand, Religion oder Geschlecht vorgeschriebenen Curricula möglich war. Gefragt wurde nicht nur nach der Fähigkeit frühneuzeitlicher Individuen, „ihr Selbst auf Wegen zu bilden, die von normalen Bildungswegen abwichen“, sondern auch nach den unterschiedlichen Perspektiven, die „Selbst- und Fremdbeschreibungen eines Bildungsgangs im Hinblick auf soziale Erwartungen und Zwänge bieten“; epochenspezifische Bildungsvorstellungen sollten ebenso wie die individuelle Aneignung von Kultur im Medium von Selbst- und Fremdbeschreibungen deutlich werden.

Das heuristische Konzept für diesen Ansatz, der ältere bildungshistorischen Vorstellungen von Modernität der Individualität ablösen soll, beleuchtet die „Seitenwege“ individueller Bildung und entstammt Willem Frijhoffs 1995 erschienener Biographie des Waisenknaben Evert Willemsz (1607-1647), die in der englischen Übersetzung (2007) eine breitere Rezeption erfuhr. Frijhoff focussiert diejenigen frühneuzeitlichen Bildungsgänge, „die unter Verwendung traditioneller Routen und Routinen der Identitätsbildung zum Erreichen einer bedeutungsvollen persönlichen Autonomie führten, ohne dass die Unbeweglichkeit existierender Muster und Strukturen der Identitätsbildung durchbrochen wurde“. Im direkten Anschluss an Frijhoffs Definition von „Seitenwegen“ fragten die Veranstalter der Tagung nach den unterschiedlichen Formen formeller und informeller Erziehung und Selbsterziehung, mit denen die angestrebte soziale Identität erreicht werden sollte. Sie forschten nach möglichen Spannungen zwischen den Bestrebungen des Individuums nach Autonomie und alternativen Formen der Selbsterziehung einerseits und den gemeinsam eingehaltenen Traditionen und Normen andererseits. Die Tagungsteilnehmer waren daher aufgefordert, „einen gründlicheren Blick auf individuelle Lebenszyklen in der frühneuzeitlichen Epoche“ zu werfen, um gegebenen Falls Unregelmäßigkeiten und dezidierte Bestrebungen selbst gewollter Erziehung und individueller Autonomie ersichtlich machen zu können.

Nach einer kurzen Einführung durch Jean-Luc Le Cam (Brest) erläuterte Willem Frijhoff (Amsterdam) unter dem Titel Détours de l´autonomie : l`éducation, ses voiès et ses modèles à l`époque moderne noch einmal den konzeptuellen Ansatz der Tagung. Er konfrontierte die Strategien des Erziehungsangebots im Sinne Foucaultscher „Disziplin“ mit den Taktiken der Aneignung in Form von Grenzüberschreitungen, stellte die Autonomisierung der Bildungsaneignung als einen Prozess von Wechselwirkungen zwischen dem institutionellen und individuellen Moment dar und beschrieb das Konzept der „Seitenwege“ (détours, byways) als Typus individuell selektierter Bildungswege, die einen aktiven Umgang mit dem Erziehungssystem kennzeichneten, die Benutzung des Systems für den Aufbau eigener Lebensprojekte ermöglichten und ganz allgemein die Fähigkeit des Individuums zeigten, unter Ausnutzung von Lücken auch von einem rigiden System zu profitieren und dabei Ziele zu erreichen, die mit bloßer Einordnung in das vorgegebene Bildungssystem nicht erreichbar gewesen wären. Als Anwendung seines Ansatzes auf die Praxis präsentierte Frijhoff mit dem Rhetoriker Theodorus Marcilius (1547-1617) und dem Rektor und Pastor Johannes Lomejer (1636-1699) zwei nicht nur konfessionell durchaus unterschiedliche, intellektuelle Bildungsgänge aus Zutphen, die ihr individuelles Berufsziel unter der Ausnutzung von „Seitenwegen“ realisierten. Die anschließende Diskussion zeugte von dem Bemühen, den beschriebenen Autonomiebegriff sozialgeschichtlich zu terminieren – so spielte die Frage nach den ökonomischen Motiven der Berufswahl ebenso eine Rolle wie Konditionierung durch familäre oder politische Vorgaben.

Französische Bildungsgänge und Bildungsinstitutionen eröffneten in der ersten Sektion „Frankreich“ die Tagung. Serge Tomamichel (Lyon) stellte anhand Les boursiers du collège de Savoie à Louvain de 1550 à 1614: dispositions règlementaires, trajectoires collectives et destin individuals das Schicksal zweier miteinander verbundener Bildungsstätten dar, die entgegen der Absichten ihres Stifters zum Zankapfel zwischen unterschiedlichen Entscheidungsträgern und ihren ursprünglichen konfessionellen Zielsetzungen entfremdet wurden. In der anschließenden Diskussion wurde unter anderem deutlich, dass die französischen Bildungsgänge der Frühen Neuzeit entschieden formalisierter erschienen als diejenigen auf der deutschen Seite, wo man offenbar eher auf individuelle Karrieremuster stößt.

Die Rezeption einer bekannten Institution französischer Mädchenbildung wurde von Dominique Picco (Bordeaux) vorgestellt: Die Schule von Saint-Cyr war von ihrer ebenso berühmten Gründerin Mme. Maintenon zur Ausbildung der Töchter aus adligen verarmten Offiziersfamilien bestimmt. In ihren Ausführungen (La perception de l`éducation recue à Saint-Cyr par les élèves, par leur famille, par les visiteurs) stützte Picco sich auf die Zeugnisse der Besucher, der zeitgenössischen Presse sowie der Aufnahmeanträge, die freilich allesamt kaum Aussagen über die Qualität des Unterrichts erlauben. Nach den letzteren Quellen wurde die Aufnahme in die Institution durchweg nicht aus qualitativen, sondern aus ökonomischen Gründen angestrebt; für die Genehmigung waren die Empfehlungen der Gründerin selbst bzw. die des Bischofs von Chartres ausschlaggebend. Positiv wirkte sich die Verwandtschaft zu ehemaligen Zöglingen aus. Die Erziehungsziele richteten sich gleichermaßen auf eine weltliche wie auf eine geistliche Laufbahn, welch letztere nach den Mitgiftregistern von den überlebenden Absolventinnen – die Sterblichkeitsrate war angesichts ungesunder Wohnverhältnisse hoch - in überwiegendem Maße eingeschlagen wurde. Dass Saint-Cyr keine Bildungsanstalt im eigentlichen Sinn, sondern eher eine Institution zur Lösung der Versorgungsprobleme verarmter adliger Mädchen gewesen sei, wurde in der anschließenden Diskussion nicht zu Unrecht resumiert.

Pascale Mormiche (Versailles – Saint Quentin en Yvelines) eröffnete mit ihren Ausführungen zu Le parcours éducatif d´un prince de sang très surveillé den Blick auf eine Reihe individueller Bildungsbiographien. Louis III de Bourbon-Condé (1668-1710), Prinz von königlichem Geblüt, wurde nach sehr differenziert formulierten großväterlichen und väterlichen Bildungsvorgaben zunächst von Jesuiten erzogen; ein Hauslehrer hatte auf die besonderen Anforderungen der Adelserziehung zu achten. In den Erziehungsanweisungen wird die Norm der zeitgenössischen Prinzenerziehung deutlich; freilich musste die im Einklang mit den Bildungsidealen des Versailler Hofs angestrebte gelehrte Erziehung angesichts der Persönlichkeit des Zöglings nach den Bedingungen einer militärischen Laufbahn modifiziert - und insofern individualisiert werden. Dieser letzte Vortrag innerhalb der Sektion „Frankreich“ leitete bereits zur zweiten Sektion der Tagung über, die sich den „Individualbiographien und Problemen ihrer Auswertung“ widmete.

Eine für den Focus der Fragestellung äußerst aussagefähige weibliche Bildungsbiographie stellte Michaela Bill-Mrziglod (Saarbrücken) mit dem Bildungsgang Luisa de Carvajals (1566-1614) vor. Die jesuitisch erzogene spanische Vollwaise verwirklichte als Semireligiose und selbst ernannte katholische Missionarin in England unter Ausnutzung aller disponiblen Bildungsmöglichkeiten einen erklärtermaßen durch Selbstbestimmung charakterisierten Lebens- und Bildungsweg, der u.a. durch Autodidaxe und die Konstruktion einer als dezidiert weiblich definierten Missionsaufgabe gekennzeichnet war. Die epochenspezifischen Vorstellungen und die tatsächlichen Möglichkeiten weiblicher Bildung wurden in dieser Biographie einander eindrucksvoll gegenübergestellt. Dieses Fazit konnte auch durch die Frage, ob katholische Missionstätigkeit einen Nachweis eigenständigen Denkens bilden könne und den Hinweis, dass Autodidaxe kein „Seitenweg“, sondern vielmehr ein Charakteristikum frühneuzeitlicher Bildung sei, nicht geschmälert werden.

Die beiden folgenden Vorträge beschäftigten sich auf theoretischer Ebene mit dem Quellenwert autobiographischer Texte für die Erforschung von Bildungsgängen. Eva Kormann (Karlsruhe) sprach über Frühneuzeitliche Inszenierungen der eigenen Bildungsgeschichte: Zwischen Selbstbehauptung und Selbstverleugnung. Sie stellte verschiedene Interpretationsansätze zur Autobiographik als fiktionale bzw. nichtfiktionale Gattung einander gegenüber, beschrieb die Erstellung von Autobiographien als Prozess zwischen Erfahrung und Konstruktion, welch letztere bereits den Wahrnehmungsprozess einbeziehe und erprobte die unterschiedlichen Fragestellungen an den Bildungsaussagen frühneuzeitlicher weiblicher Autobiographien. Der von Kormann gewählte Begriff der „Heterologie“ - als Kompromissformel für das Konstruktionsprinzip vor allem frühneuzeitlicher weiblicher Autobiographien zwischen „Autonomie“ und „Heteronomie“ - war anschließend Gegenstand durchaus kontroverser Diskussionen.

Hans Rudolf Velten (Berlin) schloß mit der Konstruktion von Bildungswegen in frühen autobiographischen Texten (1450-1600) methodische Überlegungen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive an. Er kritisierte dabei den Quellenbegriff der „Selbstzeugnisse“ ebenso wie den des „Ego-Dokuments“; beide suggerierten zu Unrecht eine Authentizität des Inhalts. In Anlehnung an James Amelang konfrontierte Velten polemisch stereotype Positionen der Literaturwissenschaft, die nach festen Definitionen suche und beim Gattungsbegriff Autobiographie zur Kontextvernachlässigung neige, mit ebenso stereotypen Unterstellungen an die Adresse der Historie, die nur Kontext und Individualität eines autobiographischen Textes sehe. Unbedingt bestimme aber die jeweilige Zweckorientierung einer autobiographischen Quelle auch ihre Verfasstheit, was an der Darstellung von Bildungsverläufen in verschiedenen autobiographischen Quellentypen demonstriert wurde. Konsequent sei die Annahme einer breiteren Perspektive der Wissenstradierung und Wissensaneignung in der Bildungsforschung, um Autobiographien als geeignete Quellen nutzen zu können.

Sektion III unter dem Titel „Schüler und Lehrer“ wurde von Juliane Jacobi (Potsdam) eröffnet, die sich mit dem Thema Geförderte Lebensläufe? Werdegänge Hallescher Waisenkinder (1695-1730) auf dem Wege serieller Quellenerhebungen den Bildungsgängen einer speziellen Schülergruppe widmete. Die „Personalhauptdatei“ ihrer Datenbank stützt sich auf die akribische Buchführung der Franckeschen Stiftungen und erfasst sämtliche Schüler, Schülerinnen sowie das Lehrpersonal nach regionaler und familiärer Herkunft, Eintrittsalter, besuchter Schule, Verweildauer und späterem Werdegang. Die gewählte Vorannahme, dass ein etwa von adligen oder fürstlichen Gönnerinnen geförderter bzw. finanzierter Eintritt in die Halleschen Waisenanstalten sichtbare Auswirkungen auf den späteren Lebensweg der Geförderten gehabt habe, bestätigte sich dabei grundsätzlich nicht, obwohl die fördernden Persönlichkeiten in der Regel durchaus pädagogische Absichten vertraten, die über den Horizont einer bloßen wohlfahrtspolizeilichen Maßnahme hinausgingen. Die meisten Waisenhauskinder beschritten – bis auf eine Ausnahme – bei der Entwicklung ihrer Bildungsbiographien keine „Seitenwege“.

Die Bildungsgänge und Seitenwege westfälischer Gymnasiallehrer 1600-1750 stellte Hans-Ulrich Musolff (Bielefeld) anhand eines Samples von Schulen in Steinfurt, Münster, Hamm, Dortmund und Soest vor. Dabei verband er die Untersuchung der Lehrenden innerhalb der drei Konfessionen nach Herkunft, Ausbildung bzw. Studienort, Anteil von Haupt- und Nebentätigkeiten an der Lebensarbeitszeit mit jeweils einem exemplarischen Lebenslauf. Die Kombination der einzelnen Untersuchungsmerkmale führte zu einer Reihe von Ergebnissen; so waren unter den Hauptberuflern bei den Lehrern die wenigsten Akademiker anzutreffen. Bei den akademisch Gebildeten wiederum machte die schulische Lehrtätigkeit in der Regel nur einen Anteil ihrer Lebenszeittätigkeit aus. Die Krise in der Professionalisierung des Lehrerstands ging bei den reformierten Schulen mit einem Sinken der Schülerzahlen und der bevorstehenden Säkularisierung einher; bei den lutherischen und katholischen Schulen sank das Niveau des Unterrichts ebenso wie die Schülerzahlen, die an die nahe gelegenen Universitäten abwanderten. In Soest sanken überdies die Einwohnerzahlen insgesamt infolge einer starken Abwanderungsbewegung in die Niederlande.

Die vierte Sektion mit dem Thema „Mädchen und Frauen“ eröffnete Ulrike Gleixner (Wolfenbüttel) mit einem Referat über Die lesende Fürstin. Büchersammlungen hochadeliger Frauen als lebenslange Bildungspraxis. Der weibliche Hochadel verfügte über eine Vielfalt nicht normierter Bildungswege. Die lebenslange Bildungspraxis vieler Fürstinnen realisierte sich u.a. in der Anlegung von Büchersammlungen, die zeitgenössischen und individuellen Interessen folgten, Bildungsgänge und Erziehungskonzepte spiegelten, Rezeptionswege, Korrespondenzen und Beziehungsnetze belegten. Anhand von zehn Fürstinnen aus dem Hause Braunschweig-Lüneburg konnte Gleixner belegen, wie Buchbesitz den individuellen Aneignungsprozess von Bildung dokumentiert. Das Buch war ebenso Arbeitsmittel im Selbstfindungsprozess wie Kommunikationsmedium. Die kosmopolitische Fürstin hatte ein mindestens ebenso weitgespanntes Lektürespektrum wie ihr männliches Pendant und fungierte oft als kulturelle Vermittlerin mit politischem Einfluss.

Eine andere Quellenart stand im Mittelpunkt der Bildungsbeschreibungen einer weiteren Gruppe von Frauen, die Katja Lißmann (Halle a.d.Saale) unter dem Titel Subjektkonstitution im pietistischen Brief – Frauen aus dem Umkreis des Halleschen Pietismus in ihren Korrespondenzen vorstellte. Zwei Korrespondentinnen August Hermann Franckes nutzten den Brief als „subjektivierende Praktik“: Sophia Maria von Stammer, die ihre Briefe an Francke in Form meditativer religiöser Übungen verfasste, und Anna Magdalena von Wurm, spätere Ehefrau Franckes, die sich im Medium des Briefwechsels mit Francke von den Maßstäben ihrer Herkunft löste und in die pietistische Gemeinschaft förmlich „einschrieb“. Der Bildungsprozess stellt sich hier als Subjektbildung dar, im Vollzug des Schreibens vollzog sich auch der Aneignungsprozess pietistischer Gehalte.

In der fünften Sektion „Serielle Quellen“ referierte Jean-Luc Le Cam (Brest) über Reproduktion, Ausdifferenzierung und Aufstieg: Bildungsgänge in Bürger- und Kaufmannsfamilien im Spiegel von Leichenpredigten (1520-1720). Sein Interesse richtete sich dabei auf die Curricula vor der Normierung und Standardisierung der Bildungsgänge, die zugrunde liegende erzieherischen Strategien sowie den Wert von Leichenpredigten als serielle Quelle im Hinblick auf diese Fragestellung. Im Ergebnis ließ sich festhalten, dass dieser Quellentyp über die frühen Stadien des Bildungserwerbs wie Schule, häuslicher Unterricht u.ä. weniger aussagekräftig ist, desto mehr jedoch über die Phasen der akademischen und beruflichen Bildung sowie über Bildungserfahrungen außerhalb der regulären Curricula (z.B. Reisen). Im Braunschweiger Bürgertum des untersuchten Zeitraums hielten sich gelehrte und berufliche Bildung in etwa die Waage, als bestimmend für den Bildungsgang blieben Familie und Tradition sowie die ökonomischen Ressourcen entscheidende Faktoren.

Eine auf den ersten Blick durchaus verwandte Quellenform präsentierte Pia Schmid (Halle a.d. Saale), als sie die Bildungsgänge im Spiegel der Herrenhuter Lebensläufe unter der Perspektive der Eigentätigkeit auswertete. Etwa 30.000 Lebensläufe wurden ab 1750 von den Herrenhuter Gemeindemitgliedern als Beschreibung der individuellen Glaubensgeschichte verfasst, nach dem Ableben mit einer Sterbebeschreibung versehen und im Rahmen der Beerdigungsliturgie verlesen. Sie schildern sowohl die individuelle Einübung und Praktizierung eines frommen Ichs als auch den Umgang mit Kindern und Jugendlichen in der Brüdergemeinde insgesamt. Die Genese von Individualität im Medium religiöser Integration, die diese Lebensläufe zeigen, stellt einen oft genutzten „Seitenweg“ frühneuzeitlicher Bildung dar.

Sektion VI „Adel und Eliten“ wurde von Jill Bepler (Wolfenbüttel) eingeleitet. Unter dem Titel Für den Notfall ausgebildet – Zum Spannungsverhältnis der Bildungsgänge jüngerer Fürstensöhne im 17. Jahrhundert untersuchte sie die Auswirkungen der Primogenitur auf die Erziehungskonzepte jüngerer Fürstensöhne und die teils prototypischen, teils individuellen kompensatorischen Konstruktionen von Identität, zu denen diese im Prozess ihrer Selbstbildung fanden und die oftmals in eine Flucht in die kulturelle Selbststilisierung mündeten.

Mit dem Lehrpersonal adliger Zöglinge hingegen beschäftigte sich Martin Holý (Prag), der Die Bildungsgänge der Präzeptoren des böhmischen und mährischen Adels (1500-1620) untersuchte. Bei seinem Sample von 318 Adelspräzeptoren stammte der überwiegende Teil aus Böhmen und Schlesien; soweit die muttersprachliche Zugehörigkeit erfasst werden konnte, dominierte die tschechische und deutsche Sprache. Reformierte ausländische Erzieher stammten durchwegs aus der Schweiz; auch sonst wurden – selbst beim katholischen Adel - vorwiegend Nichtkatholiken angestellt. Nächst Graduierten der Prager Universität handelte es sich in der Regel um Absolventen deutscher Universitäten; im Rahmen des Bildungscurriculums ermöglichte eine Präzeptorenstelle Auslandsaufenthalte und Weiterqualifikationen an Universitäten, stellte innerhalb einer beruflichen Laufbahn jedoch nur eine Zwischenstation vor anderen Positionen in Adelsdiensten oder Universitätsprofessuren dar.

Mit seinem Bericht über Die Flucht der Sängerknaben des Klosters Heiligenkreuz (Niederösterreich) 1683 stellte Harald Tersch (Wien) die Bildungsbedingungen einer speziellen Schülerelite, der Sängerknaben, ebenso vor wie den protoptypischen Bildungsgang des Autors der Fluchtgeschichte, Balthasar Kleinschroth, der vom Sängerknaben über das Studium am Jesuitenkolleg in Wien und die Priesterweihe schließlich selbst zum Sängerknabenpräfekten avancierte, bevor ihn die Flucht vor der Türkeninvasion 1683 vorübergehend in eine Anstellung als Kapellmeister am Damenstift in Hall beförderte. Generell endete das prototypische Sängerknaben-Karrieremuster im Beitritt zum Konvent bzw. im Hofdienst; bei der Rekrutierung spielten familiale Netzwerke in Gestalt des klassischen Nepotismus die Hauptrolle. Eindrucksvoll vermochte der Referent darzustellen, inwiefern der Fluchtbericht - allen genrebedingten Versatzstücken zum Trotz – im Rahmen der geschilderten Überlebensstrategien die erzieherischen Prinzipien der Klosterdisziplin und den religiös strukturierten Tageslauf der Klosterschüler widerspiegelte.

Die Abschlussdiskussion bewertete das Konzept der „Seitenwege“ als fruchtbaren Interpretationsansatz bei der Analyse frühneuzeitlicher Bildungsbiographien; nachdrücklich wurde noch einmal darauf hingewiesen, dass in dieser Epoche noch keine „allgemeingültigen“ Bildungsnormen existierten. Im Nebeneinander von seriellen Quellen und qualitativen Auswertungen bestimme der jeweilige Forschungsansatz das Ergebnis: Während sich die literaturwissenschaftliche Fragestellung mit der Subjektbildung auseinander setzte, thematisiere die Auswertung serieller Quellen vor allem typische Bildungsgänge. Quantitative Erhebungen seien zweifellos weniger geeignet, „Seitenwege“ der Bildungsbiographien zu erfassen. Auch erschwere ein diachronischer Ansatz die Vergleichbarkeit von „Hauptweg“ und „Seitenweg“ innerhalb der Curricula mehr als ein synchroner Zugriff.

Mit einem Epilog Serge Tomamichels (Lyon), der die letztgenannten Überlegungen formulierte, soll die geplante Veröffentlichung der Tagungsbeiträge abgeschlossen werden.

weitere Angaben:
Wissenschaftliche Leitung der Tagung: Prof.in Dr. Juliane Jacobi, (Universität Potsdam) Maitre des Conférences Dr. Jean-Luc Le Cam (Université de Bretagne occidentale), PD Dr. Hans-Ulrich Musolff (Universität Bielefeld)
Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Mittelalter; Neuzeit; Bildungsgang; Bildungsangebot; Bildungsnachfrage; Biographie; Biographische Methode
Eingetragen von: barkowski@dipf.de
Erfassungsdatum: 21. 04. 2009
Korrekturdatum: 21. 04. 2009