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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Gippert, Wolfgang
Titel: 8. Forum junger Bildungshistoriker/innen: Bericht zur Nachwuchstagung der Sektion Historische Bildungsforschung in der DGfE am 17./ 18. September 2010 in Berlin
Erscheinungsjahr: 09/2010
zusätzl. Angaben zum Autor:
Dr. Wolfgang Gippert

Universität zu Köln

Humanwissenschaftliche Fakultät

Institut für Vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften

E-Mail: wgippert@uni-koeln.de
Text des Beitrages:
Zum mittlerweile achten Mal trafen sich am 17. und 18. September junge Bildungshistorikerinnen und Bildungshistoriker in den Räumen der Bibliothek für Bildungshistorische Forschung (BBF) in Berlin, um Einblicke in ihre Dissertationsarbeiten zu geben und diese zu diskutieren. Inhaltlich wurde ein breites thematisches Spektrum geboten, das sich zeitlich von der Antike bis in die jüngste Gegenwart erstreckte.

Nach den Grußworten der Organisatoren und des Vorstandes der Sektion Historische Bildungsforschung eröffnete Christian Fron (Stuttgart) den Reigen der insgesamt zehn Vorträge mit seinem Beitrag „Paideia in der Ferne. Zum Konnex von Bildung und Reisen in der frühen und hohen Kaiserzeit.“ Der Vortrag spiegelte einen Teil des Promotionsvorhabens wider, das sich mit der Bedeutung des Reisens für den Erwerb von Bildung griechischer Gelehrter im ersten bis vierten Jahrhundert n. Chr. befasst. Den Besuchen und die persönliche Kenntnis geschichtsträchtiger Orte, Bauten und Persönlichkeiten wurden im griechischen Kulturkreis ein hoher Stellenwert für die Ausbildung der eigenen „paideia“ beigemessen – ein Schlüsselbegriff, der in der anschließenden Diskussion Nachfragen hinsichtlich der verschiedenen Bedeutungsfacetten aufwarf. Offensichtlich handelt es sich dabei um ein sehr vielschichtiges antikes Konzept, das Erziehung als Prozess und Bildung als deren Ziel gleichermaßen umfasst. Da eine einfache sprachliche Übersetzung in das erziehungswissenschaftliche Begriffsrepertoire diesem Konzept anscheinend nicht gerecht werden kann, ist eine eingehende Klärung von „paideia“ im Kontext der Studie angeregt worden.

Mit einer „einzigartige[n] bildungshistorischen Quelle“, dem Besucherbuch der märkischen Modellschule Reckahn, beschäftigt sich derzeit Johanna Goldbeck (Potsdam). Im Rahmen einer Netzwerkanalyse will sie die „Wirkkraft“ der Pädagogik des aufgeklärten preußischen Adeligen Friedrich Eberhard von Rochow aufspüren, der im Jahre 1773 jene Dorfschule gründete, um die Lebensverhältnisse der Bewohner seiner Gutsherrschaft zu verbessern. Bald über die Grenzen Brandenburgs hinaus bekannt wurde die philanthrophische Mustereinrichtung in den Folgejahren das Reiseziel zahlreicher Interessierter – eine Art Fortbildungstourismus, der sich anhand der Besucherlisten rekonstruieren lässt. In der Diskussion wurde lebhaft der Frage nachgegangen, ob sich alleine auf Grundlage der Visitationseinträge personelle, institutionelle und regionale Verknüpfungen im Sinne einer Netzwerkanalyse aufzeigen lassen und ob für den Nachweis von Rezeptions- und Adaptionsprozessen der Rochowschen Pädagogik zusätzliche Quellen einzubeziehen sind.

Einen Sprung in die Gegenwart bot der Vortrag „Weiße Grenzen“ von Z. Ece Kaya (Frankfurt). Ihre Dissertation will am konkreten Beispiel bildungsinstitutioneller Aufklärungsarbeit zur Flüchtlingsproblematik aufzeigen, welche Kontinuitäten und Brüche in den ‚weißen’ Überlegenheitsdiskursen im Verhältnis von Europa zu Afrika vorliegen. Dafür ist ein umfassendes Programm vorgesehen: Neben einer Klärung der historischen Konstruktionen und Zusammenhänge zur Entstehung des „Hautfarbenrassismus“ im Kontext des deutschen Kolonialismus sollen auf der Grundlage von Publikationen der Bundeszentrale für Politische Bildung und der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl, von Schulbüchern sowie einzelnen Medienereignissen ausgewählte Diskursfragmente zur Flüchtlingsthematik einer qualitativen Textanalyse unterzogen werden. Auf dieser Basis soll schließlich eine pädagogische Konzeption für antirassistische Arbeit in Schulen und der öffentlich-politischen Bildung entwickelt werden. Im Plenum herrschte einhellig die Meinung vor, dass das Vorhaben in dieser Form viel zu breit angelegt sei. Empfehlend wurde ausgesprochen, das Thema nicht zuletzt über eine Konkretisierung der Quellen einzugrenzen.

In die Epoche des Deutschen Kaiserreichs führte der Vortrag von Johanna Lauff (Hamburg). Sie befasst sich in ihrer Dissertation mit der Rolle des Körpers in der Erziehung. Ausgehend von der These, dass sich das theoretische Verständnis von Erziehung zunehmend „entkörpert“ habe, untersucht Sie u.a. auf der Basis von pädagogischen und medizinischen Publikationen sowie verschiedenen Quellen der preußischen Direktorenkonferenzen und Unterlagen zum höheren Schulwesen sowohl das „Sprechen“ über Erziehung und Körper als auch das erzieherische Handeln in Bezug auf den Körper. Als Fallbeispiel dient das humanistische Gymnasium Johanneum in Hamburg. Ziele der Arbeit sind u.a. die Erweiterung der bildungshistorischen Debatten zum Kaiserreich im Hinblick auf das Spannungsverhältnis von Disziplinierung und Liberalisierung sowie eine Klärung des Verhältnisses von Diskursebene und praktischer Ebene zur Rolle von Erziehung und Körper. In der Diskussion zeigte sich, dass die Arbeit in konzeptueller und methodischer Hinsicht weit ausgereift ist; die Methodenkombination von kontextbasierter Hermeneutik und wissenssoziologischer Diskursanalyse fand breite Zustimmung. In den inhaltlich anregenden Austausch waren Hinweise zu weiteren Quellenmöglichkeiten ingeschlossen.

Mit dem Theologen und Pädagogen Herrmann Schafft stellte Lukas Möller (Kassel) einen Erwachsenenbildner vor, der in Deutschland vier politische Systeme erlebt hat und währenddessen u.a. an der Front des Ersten Weltkriegs stand, in die Jugendbewegung der Weimarer Republik involviert war, den Aufbau der Pädagogischen Akademie in Kassel unterstützte, seine Anstellung in der NS-Diktatur verlor und bei der Neugründung des Schulwesens und der Erwachsenenbildung nach 1945 aktiv war. Das Promotionsvorhaben versucht sich dem „Mann aus der zweiten Reihe“, seinen maßgeblichen Denk- und Handlungsmaximen auf der Grundlage einer Analyse von Schaffts Publikationen in der Zeitschrift „Neuwerk“ sowie verschiedenen Ego-Dokumenten biographisch anzunähern. Erkenntnis leitend wird nach der Bedeutung jugendbewegter und religiöser Lebensführung für das individuell-persönliche Engagement in den beruflichen und privaten Wirkungsfeldern gefragt. Diskutiert im Plenum wurden vor allem die Frage, ob man in der Lebensgeschichte Schaffts von einer Wandlung eines Theologen zum Pädagogen sprechen könne und welche zusätzlichen methodologischen Möglichkeiten denkbar sind, um biographische Konstruktionen sowie generationstypische Kontinuitäten in den Wahrnehmungsmustern und Handlungsorientierungen über Epochengrenzen hinweg ausloten zu können.

Karen Werner (Chemnitz) eröffnete den zweiten Tagungstag mit einem Vortrag zur Rezeption mittelalterlicher Literatur im Deutschunterricht des 20. Jahrhunderts. Die Heldendichtung des Mittelalters, so die These, scheint besonders gut geeignet gewesen zu sein, um über die Herausstellung und Vermittlung vermeintlich deutscher Tugenden ideologisch motivierte Erziehungsvorstellungen und Staatsinteressen im Schulunterricht zu verankern. Auf der Basis einer Lesebuch- und Lehrplanrecherche aus über 70 Jahren Zeitgeschichte geht das Forschungsvorhaben der Frage nach, unter welchen Gesichtspunkten die Literatur des Mittelalters in Lehrbüchern und Deutschunterricht Eingang fand und inwiefern sich Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der schulischen Rezeption nachweisen lassen. Unklarheiten wurden in der Diskussion über die anvisierte Ebene der Rezipienten geäußert, da es sich hier gleichermaßen um Didaktiker, Lehrer und/oder Schüler handeln könne. Auch wurden der theoretische Background und die methodische Herangehensweise kritisch diskutiert.

Ein methodisch ausgefeiltes Promotionsprojekt stellte Matthias Busch (Hamburg) vor, in dem die „Genese“ der Didaktik im Bereich der politischen Bildung in der Weimarer Republik rekonstruiert werden soll. Ausgangslage ist ein in der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik weit verbreitetes Vorurteil, das der zeitgenössischen Theorieentwicklung und Praxis der politischen Bildung zumeist ein „Scheitern“ oder „Versagen“ unterstellt. Dem steht ein umfassender Quellenkorpus von pädagogischen Fachzeitschriften gegenüber, in dem breite Diskurse zur Konzeption einer demokratischen staatsbürgerlicher Erziehung und Bildung abgebildet sind. Der Forschungszugang einer Diskursanalyse mit Methodentriangulation fand im Vortrag beispielhaft am Diskursstrang „Zeitung im Unterricht“ Anwendung. Im Kontext der Nachfragen wurde u.a. der Begriff „Demokratiedidaktik“ erörtert sowie die Phaseneinteilung innerhalb der Didaktikentwicklung näher erläutert.

Katharina Schneider (Zürich) forscht zum Zusammenhang von Demokratisierung und Pädagogik in den Debatten während des Vormärz und der deutschen Revolution von 1848/49. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die bislang wenig beachtete Feststellung, dass die vielfältigen Debatten um Demokratie, mithin um Bildung und Erziehung im untersuchten Zeitraum weniger an institutionalisierten Orten geführt wurden, sondern in Salons und Kneipen und damit in informellen, oppositionellen Intellektuellen-Zirkeln stattfanden. Diese Debatten sollen anhand von philosophisch-politischen Publikationen rekonstruiert werden, die im Umkreis des Literarischen Comptoirs in Zürich und Winterthur entstanden sind – zwischen 1840 und 1845 ein Zufluchtsort für demokratisch gesinnte Aktivisten des deutschen Bundes. Methodisch wurde in der Diskussion auf Quentin Skinners Sprechakttheorie verwiesen, wobei die damit einhergehende Kontextproblematik als ungelöst erscheint. Auch wurde angeregt, sich innerhalb der Diskursanalyse auf Bildungskonzepte zu beschränken.

Die beiden abschließenden Projektvorstellungen bezogen sich jeweils auf den Themenkomplex „1968“. Morvarid Dehnavi (Hamburg) beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit Sozialisationserfahrungen von Frauen, die zwischen 1965 und 1975 an der Universität in Frankfurt studierten und Mitglieder im Frankfurter Weiberrat waren. Auf der Grundlage von narrativen Interviews wird danach gefragt, wie es dazu kam, dass sich Studentinnen in einer eigenständigen Frauengruppe zusammenschlossen, politische Aktivitäten entwickelten und das Thema Geschlecht und herrschende Geschlechterverhältnisse zu einem Politikum machten. Insbesondere liegt der Fokus auf der Universität als Ort politischer Sozialisation. Die Diskussionsrunde bot Gelegenheit, das Verfahren der narrativen Interviews sowie deren Auswertung näher zu erläutern, das zugrunde gelegte Sozialisationsverständnis zu klären sowie erste Typiken als Zwischenergebnisse vorzustellen. Angeregt wurde eine zusätzliche Einbeziehung von Fragen nach der geschlechtsspezifischen Sozialisation sowie weiterer ‚Orte’ zur Entwicklung des politischen Bewusstseins – etwa die seinerzeit weit verbreiteten Wohngemeinschaften.

Andrea Wienhaus schließlich nimmt in ihrer Dissertation ebenfalls eine konkrete 68-Gruppierung in den Blick: die Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) der Freien Universität Berlin. Ihre Ausgangslage ist die weit verbreitete, bislang aber kaum überprüfte Behauptung, die protestierenden Studierenden entstammten vorrangig „privilegierten“, bürgerlichen Elternhäusern, in denen sie eine liberale Erziehung genossen und mithin eine moralische Sensibilisierung erfahren hätten. Prüfstein dieser Hypothese sind die Immatrikulationsakten der SDS-Mitglieder, die u.a. ausführliche, selbst verfasste Lebensläufe enthalten. Aufgrund der statistischen Daten lassen sich die tatsächlichen Herkunftsverhältnisse von Studierenden, die sich der Protestbewegung zurechnen lassen, rekonstruieren. Darüber hinaus sollen die Lebensläufe qualitativ ausgewertet und im Rahmen einer Kollektivbiographieanalyse auf typische Sozialisationserfahrungen hin befragt werden. Im Plenum wurde anschließend über die Quellengattung diskutiert und angeregt, mögliche methodologische Probleme mitzureflektieren. In der Frage nach den Sozialisationsverläufen kann es aufschlussreich sein, weitere Quellen in die Analyse mit einzubeziehen.

Das 8. Forum junger Bildungshistoriker/innen verdeutlichte einmal mehr, dass die Qualifizierungsarbeiten der Nachwuchwissenschaftler/innen der bildungsgeschichtlichen Forschung wichtige inhaltliche Impulse geben können. Besonders erfreulich war das hohe Maß an theoretisch-methodischer Reflexion, die eine Leitlinie in den offenen Diskussionen bildete. Hier scheint es zusätzlichen Fortbildungsbedarf zu geben, dem beispielsweise mit Workshops auf künftigen Tagungen der Sektion begegnet werden könnte. Neben allen Referentinnen und Referenten gilt der Dank auch Christian Ritzi (Berlin), der abermals die Räume und Technik der Bibliothek für Bildungshistorische Forschung für die Ausrichtung der Tagung zur Verfügung stellte. An erster Stelle ist Petra Götte (Augsburg) und Jörg-W. Link (Potsdam) zu danken, die durch ihre tadellose Organisation für einen reibungslosen Ablauf der Tagung und in ihren kompetenten Moderationen für ein freundlichkonstruktives Diskussionsklima sorgten.
Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Nachwuchsförderung; Tagung
Eingetragen von: barkowski@dipf.de
Erfassungsdatum: 01. 10. 2010
Korrekturdatum: 01. 10. 2010