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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Naas, Marcel
Rezensiertes Werk: Reents, Christine; Melchior, Christoph: Die Geschichte der Kinder- und Schulbibel : evangelisch - katholisch - jüdisch ; mit einer CD-ROM. - Göttingen : V & R unipress, 2011. - 676 S. + 1 CD-ROM ; (Arbeiten zur Religionspädagogik ; 48) ; ISBN 978-3-89971-837-9 ; 3-89971-837-2
Erscheinungsjahr: 04/2012
zusätzl. Angaben zum Rezensenten: Historisches Seminar, Universität Basel
Email: marcel.naas@unibas.ch
Text der Rezension:

„Es ist vollbracht!“, möchte der geneigte Leser freudig ausrufen, wenn er das umfangreiche Werk zum ersten Mal in den Händen hält. Auf fast 700 Seiten wird jene Forschungslücke geschlossen, die vielen Kinderbibelforschenden seit Jahren ins Auge stach. Endlich liegt ein Werk vor, das die Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Schulbibeln ausführlich nachzeichnet. Bisher war die Forschungslage so, dass hauptsächlich Monographien zu einzelnen historischen Kinderbibelautoren oder deren Werken vorlagen.[1] Es fanden sich auch einzelne Beiträge in Sammelbänden[2], aber neben den Darstellungen von Ruth Bottigheimer[3] und Sybille Peter-Perret[4] konsultierten historisch interessierte Kinderbibelforschende bislang vor allem die einzelnen Bände des Handbuches der Kinder- und Jugendliteratur[5], welche sich dieser eher randständigen Gattung der Kinderliteratur sehr gründlich widmen.

Dass Kinder- und Schulbibeln zu den frühesten explizit an Kinder adressierten Büchern gehören, wird häufig übersehen, und die hier besprochene Geschichte der Kinder- und Schulbibel ist deshalb mehr als ein Nachschlagewerk für historisch forschende Religionspädagogen oder Theologen. Vielmehr wird ein breiteres Publikum – vom Pädagogen über den Historiker bis zum Literaturwissenschaftler – angesprochen, womit die außerordentlich gut recherchierte Darstellung in ihrer Art einzigartig ist. Dass ausgerechnet Christine Reents, die mit Christoph Melchior offensichtlich einen wertvollen Co-Autoren gefunden hat, die historische Kinderbibelforschung auf ein neues Level hebt, ist kein Zufall: Schließlich war sie es, die 1984 mit Ihrer Monographie zu Johann Hübner[6] einen ersten Meilenstein in der Disziplin der historischen Kinderbibelforschung setzte.

Inhaltlich bietet die Geschichte der Kinder- und Schulbibel eine Zeitreise von den ersten Kinderbibeln, die je nach Definition schon vor Luther angesiedelt werden können (Kapitel 1), über die große Vielfalt von Bibelangeboten für Kinder und Laien während Humanismus, Reformation und katholischer Reform (Kapitel 2) zu den Kinderbibeln im konfessionellen Zeitalter, welche sich der Bibeltreue als Leitmotiv verschrieben hatten (Kapitel 3). Der Wandel vom heiligen Buch der Spätorthodoxie hin zur biblischen Erzählung für Kinder in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts bestimmt das vierte Kapitel, die Rückkehr zum heiligen Buch im Spannungsfeld zwischen Rationalismus und Erweckung wird im fünften Kapitel beschrieben. Kapitel 6 und 7 beleuchten die Entwicklung der Schul- und Kinderbibeln im 20. Jahrhundert bis hin zur Gegenwart, was das Buch zu einem außergewöhnlich gut aufgearbeiteten historischen Übersichtswerk werden lässt. Eine Besonderheit stellt auch das achte Kapitel dar, welches eine ausführliche und übersichtliche historische Gesamtschau jüdischer Kinderbibeln bietet. Erwähnenswert sind zudem das ausführliche Namensregister sowie die auf einer CD-ROM beigefügte, umfassende Bibliographie, welche für weitere historische Forschung im Bereich Kinder- und Schulbibeln einen großen Mehrwert darstellt.

So wie der Aufbau des Gesamtwerkes stimmig und klar ist, sind auch die einzelnen Kapitel sehr übersichtlich gegliedert. Exemplarisch ausgewählte Kinder- und Schulbibeln werden einzelnen Gattungen zugewiesen und epochenweise zusammengefasst und beschrieben. So wird beispielsweise im vierten Kapitel die Epoche von der Spätorthodoxie über den Pietismus bis zur Aufklärung im 18. Jahrhundert analysiert, indem nach einer einleitenden Beschreibung des historischen Kontextes in Bezug auf Gesellschaft und Erziehung, Einzelanalysen zu Kinder- und Schulbibeln folgen. Diese Kinderbibel-Klassiker und innovativen Kinderbibeln von sogenannten „Querdenkern“ (S. 22), welche auf durchschnittlich zwei bis drei Seiten treffend charakterisiert werden, sind vier Hauptgattungen zugeordnet. Reents und Melchior unterscheiden Biblische Spruchbücher, bibelnahe Paraphrasen oder Biblische Historien, Freie Erzählungen oder biblische Exempel, Bilderbibeln und illustrierte Bibeln. Die Analysen basieren unter anderem auf Quellenzitaten und bieten viele Illustrationen, was die jeweiligen Kinder- und Schulbibeln trotz der Kürze der Beschreibung anschaulich werden lässt. Den Autoren gelingt es einerseits, in ihrer Charakterisierung der Werke präzise und prägnant zu sein, ohne dass der Eindruck eines lexikalischen Schreibstils entsteht. Anderseits findet sich gerade in den kurzen Einzelanalysen einer der wenigen Kritikpunkte. Die Quadratur des Kreises, einerseits ein chronologisch lesbares Buch – eine Geschichte – zu schreiben und anderseits auch eine Art Nachschlagewerk zu verfassen, gelingt nicht vollständig. Die einleitenden Texte der einzelnen Kapitel zu politisch-gesellschaftlichen und kirchlichen Veränderungen oder auch zum Wandel in der Erziehung lesen sich gewinnbringend als historische Längsschnitte und Überblicke, wogegen man sich bei den exemplarischen Analysen der einzelnen Kinder- und Schulbibeln daran stören kann, dass nach der Charakterisierung eines Werkes – wie es in einem Lexikon üblich ist – die Beschreibung der nächsten Kinder- oder Schulbibel folgt, ohne dass dem Lesenden in gleicher Weise ein roter Faden geboten wird, der die ausgewählten Werke untereinander verbindet. Insofern gleicht die Geschichte der Kinder- und Schulbibel im Aufbau dem oben erwähnten Handbuch der Kinder- und Jugendliteratur, das ebenfalls epochenweise gegliedert ist und den Einzeldarstellungen eine kontextuelle Einordnung in Form von ausführlichen Einleitungstexten voranstellt. Allerdings wollen und können Reents und Melchior die in einem Handbuch zu erwartende inhaltliche Breite nicht erreichen. Die exemplarische Auswahl soll hier nicht kritisiert werden – dies ist bei der Fülle der existierenden Schul- und Kinderbibeln sicherlich der einzig gangbare Weg. Aber eine Einarbeitung der einzelnen Titel in die thematischen Längsschnitt-Kapitel wäre wohl konsequenter gewesen als einzelne Titel exemplarisch wie in einem Handbuch darzustellen. Dass sich die Autoren dieser Problematik bewusst waren, zeigt sich in der Einleitung, wo relativierend bemerkt wird, dass sich bei dem doppelten Ansatz nach Epochen und Gattungen zeitliche Sprünge nicht vermeiden ließen (S. 24). Hilfreich für die Einordnung der Einzelanalysen – und damit die Kritik relativierend – sind die kompakten Zwischenbilanzen, welche jedes Kapitel abschließen. Auch das neunte Kapitel „Rückblick – Gegenwart – Ausblick“ führt den Lesenden wieder zurück zum Fokus aufs Ganze, wie er in einer Geschichte – im Gegensatz zu einem Lexikon oder anderen Nachschlagewerken – nicht fehlen darf.

Abgesehen von der genannten Kritik und der Tatsache, dass „die“ Geschichte (wie es im Titel ja heißt) nie erzählt werden kann, da sie immer nur „eine“ Geschichte beziehungsweise die Rekonstruktion derselben anhand von ausgewählten Quellen ist, gibt es am Werk von Reents und Melchior nichts zu bemängeln: Die sprachliche Form, die illustrativ überzeugenden Darstellungen wie auch die systematische Gliederung des Buches, welche evangelische, katholische und jüdische Traditionslinien gleichermaßen berücksichtigt, überzeugen. Die vorliegende Darstellung der Geschichte der Kinder- und Schulbibeln stellt aufgrund ihres breiten Erkenntnishorizonts einen Meilenstein in der bisherigen Kinderbibelforschung dar. Es gelingt den beiden Autoren in hervorragender Weise, trotz oder gerade wegen der detailgenauen Einzelanalysen den Fokus auf die gleichermaßen geschichtliche wie pädagogische Gesamtschau aufrechtzuerhalten. Damit liegt der Kinderbibelforschung künftig ein Standardwerk vor.

Anmerkungen:
[1] Vgl. beispielsweise: Katja Eichler, Biblische Geschichten bei Rudolph Christoph Lossius und Kaspar Friedrich Lossius. Eine Analyse zu Kinderbibeln in der Aufklärungszeit, Göttingen 2011.

[2] Vgl. beispielsweise: Gottfried Adam, Kinderbibeln von Martin Luther bis Johan Hübner. Beobachtungen zu exemplarischen Beispielen, in: Gottfried Adam / Rainer Lachmann / Regine Schindler (Hrsg.), Die Inhalte von Kinderbibeln. Kriterien ihrer Auswahl, Göttingen 2008, S. 13-44.

[3] Ruth Bottigheimer, The Bible for Children. From the Age of Gutenberg to the Present, New Haven / London 1996. [4] Sybille Peter-Perret, Biblische Geschichte für die Jugend erzählt. Eine Studie zur religiösen Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhundert, Essen 1991.

[5] Vgl. beispielsweise: Theodor Brüggemann / Hans-Heino Ewers (Hrsg.), Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1750-1800, Stuttgart 1982.

[6] Christine Reents, Die Bibel als Schul- und Hausbuch für Kinder. Johann Hübner, Zweymal zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien zum Besten abgefasset…, Göttingen 1984.

Fussnote:

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von Michael Geiss.

© 11.04.2012 by HBO, alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Rezension; Religiöse Erziehung; Kinderbibel ; Geschichtsschreibung
Eingetragen von: barkowski@dipf.de
Erfassungsdatum: 17. 04. 2012
Korrekturdatum: 17. 04. 2012