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HBO Datenbank - Rezension

Rezensent(in): Blum, Matthias
Rezensiertes Werk: Ortmeyer, Benjamin: Indoktrination : Rassismus und Antisemitismus in der Nazi-Schülerzeitschrift "Hilf mit!" (1933-1944) ; Analysen und Dokumente. - Weinheim [u.a.] : Beltz Juventa, 2013. - 153 S. ; ISBN: 978-3-7799-2889-8 = 3-7799-2889-2
Erscheinungsjahr: 05/2013
zusätzl. Angaben zum Rezensenten: Freie Universität Berlin, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften
E-Mail: matthias.blum@fu-berlin.de
Text der Rezension:

Die vorliegende Analyse der Schülerzeitung des NS-Lehrerbundes bereichert zweifelsohne die bildungsgeschichtliche Erforschung des Nationalsozialismus und die einschlägige Forschung über die entsprechenden Erziehungsverhältnisse[1], Zeitschriften[2] sowie über Antisemitismus in Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien.[3] Die Schülerzeitung des NS-Lehrerbundes "Hilf mit!" mit dem Untertitel "Illustrierte deutsche Schülerzeitung"[4] galt mit einer Auflage von mehr als fünf Millionen Exemplaren pro Ausgabe als größte Schülerzeitschrift in der NS-Zeit und erreichte nach Benjamin Ortmeyer nahezu die gesamte deutsche Schülerinnen- und Schülerschaft ab der 5. Klasse (S. 7, 39). Die zeichnerisch und photographisch anschaulich illustrierte Zeitung erschien ab Oktober 1933 bis 1939 monatlich in einem Umfang von 32 Seiten; danach verringerten sich Umfang und Erscheinungsweise bis zum letzten Heft im Jahr 1944 (S. 40). Die Schülerzeitung reihte sich inhaltlich und gestalterisch in die nationalsozialistische Erziehungsideologie und ihre mediale Aufbereitung, wie sie etwa aus den NS-Unterrichtsfilmen bekannt ist, ein.

Die Analyse der Zeitschrift wird zunächst in einen weiteren Kontext eingeordnet. Dazu gehören Annotationen zu Antisemitismus und Rassismus als zentrale Kategorien der Erziehungsideologie des NS-Systems (S. 11ff.), die Vorstellung und Darbietung der Durchführungsordnung "Vererbungslehre und Rassenkunde im Unterricht" (S. 16ff.) sowie weiterer Erlasse, die sich gegen einen Teil der Schülerinnen- und Schülerschaft richteten (S. 24ff.). Dass sich zwischen den Anforderungen dieser Erlasse und Richtlinien an den Unterricht und der Ausrichtung der Zeitschriftenartikel eine große Übereinstimmung feststellen lässt, wird an den Themen "Ahnentafel" und "Ahnenpass" sowie der sogenannten "Erbgesundheit" aufgezeigt (S. 30f.). In der weiteren Untersuchung werden drei Arten von Artikeln und Abbildungen unterschieden, die den Charakter der Zeitschrift verdeutlichen: "Deutliche NS-Propaganda-Artikel", "Eindeutig ideologisch geprägte NS-Artikel ohne direkte NS-Symbole" sowie "Bewusst 'unpolitisch' gehaltene Artikel, die Jugendliche ansprechen" (S. 41). Der Überblick über die einzelnen Jahrgänge zeigt sodann, dass die offensichtliche NS-Propaganda nicht überwog, sondern naturwissenschaftliche, sportliche und andere Themen vorherrschten (S. 46-67). Die Analyse der Titelbilder, die im Rahmen ausgewählter Jahrgänge auch abgebildet werden (S. 48ff.), verweist auf den Einsatz "konsequent idyllische[r], Harmonie vermittelnde[r] Bilder" wie etwa die idyllische Landschaft, Tierwelt oder Kindheit, so dass aufseiten der Leserinnen und Leser auch entsprechende Empfindungen evoziert werden konnten und deshalb "die Aufhetzung und NS-Propaganda innerhalb der Hefte" umso wirksamer gewesen sei (S. 45). Die Analyse der Schülerzeitschrift umfasst ebenfalls eine Zusammenstellung bekannter antisemitischer und rassistischer Denkfiguren in Text und Abbildung der Schülerzeitung (S. 67-100).

Fünf Artikel, die vollständig abgedruckt und kommentiert sind, werden einer gesonderten Einzelfallanalyse unterzogen (S. 101-142), wobei für die letzten drei Artikel jeweils zusammenfassend die Frage nach dem Gebrauch der "psychologisch-pädagogischen Mechanismen" gestellt wird (S. 122f; 131; 140f.). Ortmeyer stellt zunächst zwei Artikel zur NS-Rassentheorie vor (aus Heft 1, Oktober 1933 und aus Heft 6, März 1935), sodann einen Artikel, der sich mit den Grundzügen der NS-Eugenetik befasst (aus Heft 3, Dezember 1938), ferner einen Artikel, in dem es um Bücher jüdischer Schriftsteller geht, die als "Gift im Bücherschrank" bezeichnet wurden (aus Heft 2, November 1936) und einen Artikel, in dem es um die Frage der sogenannten "Reinrassigkeit" sowie um einen "sauberen" Stammbaum geht (aus Heft 1, Oktober 1935). Am Beispiel des vierten Artikels über die sogenannten "Judenbücher" wird deutlich, dass Antisemitismus als in der deutschen Gesellschaft selbstverständlich Vorhandenes vorausgesetzt werden sollte, so dass die "Reinigung" des Bücherschranks in dieser Logik nur konsequent erscheinen sollte (S. 123-131). In dem zuletzt vorgestellten Artikel wird anhand der Diskreditierung eines Jungen, dem unterstellt wird, er habe keinen "arischen Stammbaum", deutlich, wie die Infragestellung der sogenannten "Reinrassigkeit" bei den jungen Leserinnen und Lesern unterschwellig geschürte Ängste auslösen sollte und konnte (S. 132-141).

Dass die Frage nach "Wirkung und Auswirkung der Indoktrination" durch die Schülerzeitung "Hilf mit!" nicht präzise zu beantworten sei, wird im abschließenden Kapitel herausgestellt. Hier wird die Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden aus dem Schulalltag zusätzlich durch Erfahrungsberichte der jeweils Betroffenen erhellt (S. 142-148). Benjamin Ortmeyer geht es schlussendlich in seiner Auseinandersetzung mit den "hochwirksamen Formen der NS-Indoktrination" in Hinblick auf den pädagogischen Bereich auch darum, aktuelle Formen von Rassismus und Judenfeindschaft besser wahrzunehmen und einen entsprechenden Beitrag zur "Aufklärung über diese menschenverachtenden Ideologien" zu leisten (S. 148).

Die Gleichzeitigkeit von vermeintlich schönem Schein und menschenverachtender Ideologie und Praxis, deren scheinbare Selbstverständlichkeit und unhinterfragte Normalität ist auch für die Schülerzeitschrift "Hilf mit!" charakteristisch. Da nicht alle Schulfächer unmittelbar ideologisch zu beeinflussen waren, bot sich eine illustrativ ansprechende und nicht zuletzt durch inhaltliche Heterogenität facettenreich gestaltete Schülerzeitschrift als geeignetes Medium für die zusätzliche Verbreitung der NS-Ideologie in der Schule offenbar an.

Die vorliegende Publikation, die im Rahmen des Forschungsprojektes "Rassismus und Antisemitismus in erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Zeitschriften 1933 - 1944/45 / Über die Konstruktion von Feindbildern und positivem Selbstbildnis" an der Goethe-Universität Frankfurt am Main entstanden ist, bietet Lehrenden und Lernenden an Schule und Hochschule eine Fülle von Anregungen für die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und der NS-Ideologie. Da die Untersuchung sich auf die eigentliche Analyse der Zeitschrift und ihrer kompletten Jahrgänge konzentriert, bleibt allerdings die Frage, ob und wie Einsatz und Rezeption dieser Schülerzeitschrift im wissenschaftlichen Diskurs bisher überhaupt berücksichtigt worden sind, offen. Das Literaturverzeichnis ist leider recht knapp gehalten, zumal die in den Anmerkungen angeführten Literaturverweise hier nicht nochmals aufgenommen worden sind (S. 149-152).

Für die bildungshistorische und erziehungswissenschaftliche Forschung ergibt sich eine Reihe von Anschlussmöglichkeiten. Dass es für Lehrkräfte entsprechende Begleithefte und entsprechendes Begleitmaterial gab, wie Benjamin Ortmeyer herausstellt (S. 7, 39), bietet Gelegenheit, die pädagogischen und didaktischen Empfehlungen, die den Einsatz und die Lektüre dieser Schülerzeitschrift fördern und begleiten sollten, weiter zu untersuchen. Die in der Erziehungswissenschaft grundsätzlich aufgeworfenen Fragen, wie die Wirkungen des Zeitschrifteneinsatzes sowie der Zeitschriftenlektüre einerseits und die Effekte sowie gegebenenfalls auch Grenzen der Indoktrination andererseits einzuschätzen sind, bleiben indes offen. In diesem Zusammenhang und vor dem Hintergrund ihrer großen Auflage wäre es wünschenswert, über den eingangs zitierten Schriftsteller Günter Grass (S. 10) hinaus noch weitere Zeitzeugenberichte hinsichtlich des Einsatzes und der Rezeption der Schülerzeitung des NS-Lehrerbundes "Hilf mit!" zu erschließen.

Anmerkungen:
[1] Klaus-Peter Horn / Jörg-W. Link (Hrsg.), Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011.

[2] Andreas Hoffmann-Ocon, "Die Deutsche Schule" im Nationalsozialismus, Münster 2009.

[3] Matthias Schwerendt, "Trau keinem Fuchs auf grüner Heid, und keinem Jud bei seinem Eid" Antisemitismus in nationalsozialistischen Schulbüchern und Unterrichtsmaterialien, Berlin 2009.

[4] Die Begriffe "Schülerzeitung" und "Schülerzeitschrift" werden in der Rezension synonym verwandt. Während der Untertitel den Begriff "Schülerzeitung" führt, wird in der vorliegenden Publikation der Begriff "Zeitschrift" verwandt; sicherlich nicht zuletzt deshalb, weil die illustrierten Hefte die Charakteristik einer Zeitschrift aufweisen.

Fussnote:

Diese Rezension wurde redaktionell betreut von Wolfgang Gippert.

© 24.05.2013 by HBO, alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Rezension; Deutschland; Nationalsozialismus; Ideologie; Propaganda; Schülerzeitschrift
Eingetragen von: barkowski@dipf.de
Erfassungsdatum: 24. 05. 2013
Korrekturdatum: 24. 05. 2013