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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Stübig, Heinz
Titel: Preußen und Preußen-Forschung
Erscheinungsjahr: 1999
Text des Beitrages:

 
Die Tagung der Arbeitsgemeinschaft zur preußischen Geschichte wich insofern von dem sonst üblichen Verlauf ab, als die Arbeitsgemeinschaft ihr 25jähriges Bestehen beging und dieses Ereignis zum Anlaß einer Zwischenbilanz der Preußen-Forschung während der vergangenen Jahrzehnte nutzte.
Die Fachvorträge beschäftigten sich mit Themen und Perspektiven der Forschungen zur preußischen Geschichte. Als erster Referent sprach Prof. Dr. Peter Baumgart (Würzburg) über das Thema Das ‚alte Preußen` im Spiegel der neueren und neuesten Historiographie. Ausgehend von der Feststellung, daß die Preußen-Forschung während der letzten Jahrzehnte, ungeachtet ihrer Randposition in der "organisierten Geschichtswissenschaft", beachtliche Ergebnisse gerade auch für das Ancien Regime erbracht habe, zeigte der Referent - durchaus in revisionistischer Absicht - an Hand neuerer Arbeiten gegenwärtige Forschungstrends und -tendenzen auf Dabei befaßte er sich zunächst kritisch mit der Dominanz des "Primats der Innenpolitik" und der damit verbundenen Konzentration auf die inneren Strukturen des frühneuzeitlichen Preußen, die in Anlehnung an die ältere borussische Tradition der Schmoller-Schule insbesondere von der Gesellschaftsgeschichte Bielefelder Provenienz favorisiert wird. Dieser Forschungsansatz, der sich deutlich von Ranke und Droysen mit ihrem "Primat der Außenpolitik", aber auch von der Interdependenz äußerer und innerer Faktoren bei Hintze abgrenzt, habe zu einem radikalen "Paradigmawechsel" geführt, der durch die unterschiedlichen Preußenbilder im geteilten Deutschland seit 1949 noch verstärkt wurde.
Demgegenüber zeichne sich in der jüngsten Preußen-Forschung eine Relativierung dieses Ansatzes, wenn nicht sogar eine Trendwende ab. So läßt sich nach Meinung des Referenten in den neuesten Arbeiten eine Abkehr von der Dominanz der Innenpolitik und damit verbunden eine Wiederentdeckung der Außenpolitik nachweisen, was insgesamt zu einer vorsichtigen Rückkehr zur Interdependenz der inneren und äußeren Antriebskräfte in der preußischen Geschichte führt. Diese teilweise in der deutschen Geschichtswissenschaft feststellbare Entwicklung (J. Kunisch) gilt in größerem Umfang für die Arbeiten englischer Historiker der Cambridge-Schule über Preußen im 18. Jahrhundert. Das methodische Fazit dieser Historiker - so wie es von Brendan Simms 1997 formuliert wurde - lautet: "The historian of the preindustrial age has more to learn from Ranke and Otto Hintze than from Marx".
Parallel zum außenpolitischen Revisionismus ergeben sich vergleichbare Neuansätze in der Erforschung des preußischen Heerwesens unter dem Absolutismus. So seien die neueren Arbeiten durch eine Abkehr von den bloßen Militarisierungstendenzen der Sozialhistoriker im Anschluß an O. Büsch gekennzeichnet; ebenso würden die Thesen von der Sozialmilitarisierung zumindest für Teilregionen durch die Edition von J. Klosterhuis "Bauern, Bürger und Soldaten" (1992) relativiert. Revisionistische Tendenzen zur Historiographie des Alten Preußen fänden sich weiterhin in den Bereichen der Bildungs- und Schulgeschichte, wo namentlich die Monographie W. Neugebauers (mit Editionsband 1992) zur Schulwirklichkeit im absolutistischen Staat pädagogikgeschichtliche Klischees von der "Untertanenschule" als "Herrschaftsinstrument" in Preußen einer grundlegenden Kritik unterzogen habe. Und schließlich habe die vieldiskutierte Ständeproblematik seit dem Berliner Symposion "Ständetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen" (1980) zu weiteren Vertiefungen und Differenzierungen des damaligen Ansatzes geführt, wobei unter anderem die Bedeutung des "Regionalismus" stärker akzentuiert worden sei. Der Referent schloß mit der Frage nach einer neuen Synthese der historischen Erforschung des Alten Preußen auf der Basis der neueren Arbeiten. Diese kann seiner Meinung nach nicht als Gesellschaftsgeschichte konzipiert werden, sondern scheint nur dann möglich, wenn sie an Positionen Otto Hintzes anknüpft, ohne sich allerdings auf die Problemstellung einer Dynastiegeschichte zu beschränken.
In der Diskussion wurden insbesondere folgende Themen angesprochen: die Leistungen und Grenzen neuer methodischer Ansätze in der Geschichtswissenschaft, das Problem des Revisionismus in der Geschichte des frühneuzeitlichen Preußen, die Abgrenzung der Mikrohistorie von den traditionellen Regionalstudien.
Das zweite Referat hielt Prof. Dr. Karl Heinrich Kaufhold (Göttingen). Er befaßte sich mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Preußens im 19. Jahrhundert. Wesentlich stärker als die anderen deutschen Staaten war die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in Preußen zwischen dem Wiener Kongreß und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs das Ergebnis unterschiedlicher Abläufe in den einzelnen Provinzen, Diese Unterschiede wurden im Laufe des Jahrhunderts nur zögernd und nur zu einem Teil ausgeglichen. Zieht man dennoch eine Summe für den gesamten Staat, so ist festzustellen, daß die wirtschaftliche Entwicklung zum einen vom wirtschaftlichen Wachstum, zum anderen vom Wandel der Wirtschaftsstruktur bestimmt wurde. Wichtigste Träger des Wachstums waren, vor allem nach 1850, das Gewerbe und in ihm die Industrie. Im gesamten Zeitraum blieb die Grundtendenz der Wirtschaftspolitik liberal, freilich mit Akzentverschiebungen im Ausmaß des Staatseinflusses auf die Wirtschaft, der jedoch entgegen der verbreiteten Auffassung niemals ganz fehlte. Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, daß Wirtschaftspolitik im Sinne einer Steuerung des Wirtschaftsprozesses durch den Staat unbekannt war.
Die sozialen Verhältnisse wurden im Laufe des Jahrhunderts von drei bedeutenden Einflußgrößen bestimmt: dem anhaltend starken Bevölkerungswachstum, den Wirkungen des wirtschaftlichen Strukturwandels und der Widerstandskraft wichtiger Elemente der traditionellen ständisch orientierten Sozialstruktur. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entstand als Folge der Industrialisierung eine umfangreiche Arbeiter- und später auch Angestelltenschaft. Im Bürgertum schied sich das durch Besitz und/oder Bildung definierte Großbürgertum zunehmend vom Kleinbürgertum in Handwerk und Detailhandel. Dieses bildete trotz teilweiser Wandlungen ebenso wie die ländliche Gesellschaft ein beharrendes Element. Das galt für die Bauern, aber auch für den gutsbesitzenden Adel besonders im Osten der Monarchie. Im übrigen war der Gutsbesitz bis zum Ende des Jahrhunderts zu zwei Dritteln in bürgerliche Hände übergegangen, ohne daß sich von einer "Verbürgerlichung" des Adels oder von einer "Feudalisierung" der bürgerlichen Besitzer generell sprechen ließe.
Preußen betrieb als Nachwirkung des wohlfahrtsstaatlich orientierten Kameralismus des 18. Jahrhunderts auch im 19. Jahrhundert stets eine staatliche Sozialpolitik, allerdings in unterschiedlicher Intensität. Seit den 1880er Jahren bestimmte Preußen als Hegemonialmacht des Reiches dessen Sozialpolitik maßgeblich mit. Diese Sozialpolitik, die in einigen Bereichen, vor allem in der Sozialversicherung, vorbildlich war, markierte den "deutschen Weg" zur Entschärfung sozialer Probleme. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Preußens fügte sich in die der anderen großen europäischen Industriestaaten durchaus ein. Selbstverständlich ging Preußen dabei einen "Sonderweg", doch war seine Entwicklung in den Grundzügen mit denen der anderen europäischen Wirtschaftsmächte vergleichbar und unterschied sich nicht signifikant von dem "europäischen Industrialisierungsmuster" des Jahrhunderts.
In der Aussprache ging es im wesentlichen um die Beziehungen zwischen der preußischen und der deutschen Wirtschaftsentwicklung und damit um eine eigenständige preußische Wirtschaftsgeschichte, um Möglichkeiten und Grenzen der Wirtschaftsförderung, in Preußen im 19. Jahrhundert, um das Verhältnis des Gesamtstaates zu den Provinzen sowie um die Integrationskraft des preußischen Staates.
In dem abschließenden Vortrag über Preußen 1806-1866 / 70 / 71. Vom alten Reich zum neudeutschen Staat konzentrierte sich Prof. Dr. Heide Barmeyer-Hartlieb (Hannover) auf drei Themenkomplexe: die preußische Reformzeit, die Verfassungsproblematik und die Reichsgründung. Dabei charakterisierte sie die Eigenart des Reformprozesses nach 1806 folgendermaßen: Die preußischen Reformen bildeten im Unterschied zu den Vorläuferreformen im Alten Preußen eine konzeptionelle Einheit, eine zusammenhängende Reform "an Haupt und Gliedern". Die Gründe dafür resultierten aus dem Überwiegen der Gemeinsamkeiten und der Stärke des Reformwillens im Vergleich mit der Zeit vor 1806 bzw. nach 1822. Darüber hinaus waren Stein und Hardenberg trotz unübersehbarer Unterschiede nicht Antipoden, sondern in der Diagnose des Notwendigen weitgehend einer Meinung. Die reformbereiten Mitarbeiter in Bürokratie und Heeresverwaltung sorgten für eine Reformkontinuität über den personellen Wechsel hinaus und beeinflußten die Reformtätigkeit im Alltag so lange, bis die reformgünstige Großwetterlage 1819 umschlug. Zu den Besonderheiten der preußischen Reformzeit gehört schließlich auch, daß die Vorreformen auf dem Gebiet der Justiz, der Agrarverfassung und der Verwaltung eine explosive Situation wie im vorrevolutionären Frankreich verhindert und zugleich eine Modernisierungsbereitschaft geweckt hatten.
Danach beschäftigte sich die Referentin in einem Längsschnitt durch die preußische Geschichte des 19. Jahrhunderts mit der Verfassungsproblematik. In diesem Zusammenhang betonte sie den für die preußisch-deutsche Entwicklung charakteristischen Schwebezustand zwischen monarchischem System und Volkssouveränität, den sie aus der spezifischen historisch-politischen Entwicklung begründete. Die konstitutionelle Monarchie mit monarchischem Prinzip und Lückentheorie war keine Erfindung Bismarcks, sondern konnte auf eine lange staatsrechtliche Tradition zurückblicken. Sie basiert auf dem älteren, vorrevolutionären Verfassungsverständnis, das Herrschaft nicht allein aus der Verfassung legitimiert, sondern aus dem historischen Verfassungsoktroi des Monarchen das Fortbestehen vorkonstitutioneller monarchischer Herrschaftslegitimation ableitet und daraus die Konsequenz monarchischer Souveränität für den entscheidenden Konfliktfall in Verfassungsfragen zieht. Die darauf bezogene Verfassungssicht eines eigenständigen, leistungsfähigen preußisch-deutschen Weges (Huber) war weit verbreitet und wurde Kernbestand einer deutschen Ideologie. Nach den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts erfuhr diese Interpretation von Vertretern der sogenannten "kritischen Geschichtswissenschaft" eine Wiederaufnahme und negative Umdeutung.
In ihren Schlußbemerkungen skizzierte die Referentin die aktuellen Kontroversen über die Verfassungswirklichkeit des Kaiserreichs. Am Beispiel der einschlägigen Arbeiten von Hans-Ulrich Wehler und Thomas Nipperdey stellte sie die wichtigsten Positionen in dieser Debatte dar und erläuterte dabei sowohl den strukturgeschichtlichen Ansatz einer Geschichtswissenschaft, die sich als historische Sozialwissenschaft versteht, als auch die stärker historisch-personalistisch arbeitende Geschichtswissenschaft, die trotz der Kritik am Historismus an dessen methodischen Verdiensten festhält und das Objektivitätspostulat als regulative Idee verteidigt.
Die folgende Debatte konzentrierte sich auf die Funktion Preußens als liberaler Kulturstaat, das Problem der Verfassung in Preußen und die Idee der Volkssouveränität, die Notwendigkeit einer differenzierten Betrachtung der Reformen in den Rheinbundstaaten sowie Fragen der Periodisierung der preußischen Geschichte im 19. Jahrhundert.
Den Abschluß der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion, in der Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft zur preußischen Geschichte auf der Grundlage ihrer Arbeitsgebiete weitere Forschungsperspektiven entwickelten und dabei auf Desiderate der Forschung hinwiesen. Im Mittelpunkt stand zunächst die neuzeitliche Kommunikationsgeschichte (PD Dr. Esther-Beate Körber). Die Themen, die in diesem Zusammenhang genannt wurden, bezogen sich auf die Bedeutung der internen Nachrichtenverbindungen für die Gestaltung der Politik, die tatsächliche Verbreitung von Informationen, die Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen "privater" und "öffentlicher" Sphäre sowie auf das Problem der Vielsprachigkeit des preußischen Staatenverbandes. Ergänzt wurden diese Ausführungen durch Prof. Dr. Ernst Opgenoorth, der mit Blick auf die innere Vielfalt Preußens die Dynastie bzw. den Gesamtstaat im Verhältnis zu den Territorien / Provinzen als ein nach wie vor bedeutsames Forschungsgebiet zur Sprache brachte. Ferner plädierte er unter dem Aspekt "Staatsapparat und Gesellschaft" für eine stärkere Beschäftigung mit der Sozial-, Bildungs- und Mentalitätsgeschichte der Beamtenschaft, für Arbeiten zur regionalen Verwaltung (Kammern und Vorbehörden, das Verhältnis zu den Ständen) und schließlich für eine vertiefte Beschäftigung mit dem Thema Militär und Gesellschaft in der frühen Neuzeit.
Ein weiterer Schwerpunkt der Diskussion beschäftigte sich mit dem Nachleben Preußens. Dabei wurde sowohl der Beitrag Preußens zur Entwicklung freiheitlicher Vorstellungen in Deutschland angesprochen (Prof. Dr. Wolfgang Stribrny) als auch das "lange Ende Preußens" während des "Dritten Reiches" (PD Dr. Wilhelm Kreutz) sowie das Nachleben Preußens nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, einschließlich seiner politischen Instrumentalisierung. Für die Zeit zwischen 1933 und 1945 läßt sich feststellen, daß trotz der seit zwei Jahrzehnten andauernden Konjunktur regional- und lokalhistorischer Studien zur Herrschafts- und Verwaltungspraxis der NS-Diktatur oder zum nationalsozialistischen Alltag die preußischen Provinzen ungeachtet ihres quantitativen Übergewichts unterrepräsentiert geblieben sind. In diesem Kontext erweist sich das Verhältnis von "gesetzlichem Zentralismus" und "praktischem Partikularismus" als ein wichtiges, bisher allerdings nur in Ansätzen erforschtes Gebiet.

Heinz Stübig

Erfassungsdatum: 13. 07. 1999
Korrekturdatum: 02. 04. 2004