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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Lersch, Edgar
Titel: 1968 und die Folgen
Erscheinungsjahr: 1999
zusätzl. Angaben zum Autor: Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels
Text des Beitrages:

 
1998 wurde auf zahlreichen Veranstaltungen und wissenschaftlichen Konferenzen auf dreißig Jahre "Studentenbewegung", auf dreißig Jahre seit 1968 zurückgeschaut, also auf das Jahr, in dem die studentischen Proteste ihrem Höhepunkt zustrebten. Als das Marbacher Projekt "Protest. Literatur um 1968" den Historischen Kommissionen des Börsenvereins des deutschen Buchhandels und der ARD bekannt wurde, griffen diese die Thematik der Marbacher Jahresausstellung auf. Sie vereinbarten, das in der Folge ihrer Tagungen über die Wechselbeziehungen zwischen Buchhandel und Rundfunk seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs "anstehende" Symposium über die sechziger Jahre auf die zweite Hälfte des Jahrzehnts und die Folgen der Ereignisse um 1968 für beide Medien zu konzentrieren. Dank der Gastfreundschaft des Marbacher Archivs gelang es auch, diese Tagung in der ersten Novemberwoche 1998, also noch während der Öffnung der Ausstellung, durchzuführen. Referenten und Besucher nutzten die Gelegenheit zu einem Besuch dieser hochinteressanten Präsentation aus den Marbacher Beständen, über die man sich mit dem hervorragenden Katalog ein vollständiges Bild machen kann. In einzelnen Vorträgen und den Diskussionen wurde auch immer wieder Bezug auf das dort Vorgestellte genommen.
Gegenstand der Tagung war - und dies legte ja auch die gemeinsame Betrachtung von Buchhandel und Rundfunk nahe - nicht das aktuelle Geschehen und die Berichterstattung über die spektakulären, öffentlich gewordenen Ereignisse des Studentenprotests in der Tages- und Wochenpresse sowie den aktuellen Sendungen von Hörfunk und Fernsehen. Vielmehr ging es einerseits um die längerfristig wirkenden mentalen bzw. kulturellen Strömungen in der Jahren vor "1968" und in erster Linie um die Folgen von "1968" für den kulturellen bzw. medialen Diskurs, wie er sich in Literaturproduktion und Buchveröffentlichungen, im Hörfunk und vor allem in dem in dieser Zeit zum Leitmedium aufgestiegenen Fernsehen niederschlug und wie er diese zwar nicht schlagartig, aber dennoch nachhaltig veränderte.
Es erwies sich erneut als ein glücklicher Umstand, daß das Medium Buch und die elektronischen Medien, konzentriert auf ihre nicht aktuellen Gattungen, gemeinsam behandelt wurden, und dies nicht einmal unbedingt wegen der wie auch auf den ersten Tagungen thematisierten Wechselbeziehungen. Diese liegen für diese Jahre nicht von vornherein auf der Hand bzw. ist die vielfache mediale Auswertung von Texten und Stoffen bereits eine Selbstverständlichkeit geworden, die kaum noch der besonderen Erwähnung bedarf. Mindestens ebenso bedeutsam war etwas anderes: Es gehörte zu den häufig angesprochenen und kaum widersprochenen Feststellungen der Tagung, daß der Mediengebrauch der studentischen Akteure des Protestes in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre noch vom Text und von der Lektüre geprägt war; vielfach bezweifelt wurden dagegen, daß vor allem die Aktivisten das aktuelle Fernsehen gezielt für ihre Zwecke instrumentalisierten. Es spricht einiges dafür, daß theatralisch inszenierter Protest - der entsprach dem Selbstverständnis eines Teils der Bewegung, die Nähe zu Happenings und anderen Aktionen der "Bildenden Künstler" ist unübersehbar - dem Bedarf nach spektakulären Bildern seitens der beiden öffentlich-rechtlichen Fernsehmonopolisten entgegenkam. Auf einen selbstverständlichen Umgang mit dem Fernsehen, die intimere Kenntnis seiner Herstellungsbedingungen und Wirkungsmechanismen kann die relativ umfangreiche Berichterstattung nicht zurückgeführt werden. Von einer Fernsehkindheit bzw. -jugend konnte bei der Mehrzahl der "1968" tragenden Bürgersöhne und -töchter noch nicht die Rede sein. Es war damals weder üblich, auf den Studentenbuden ein Gerät zu haben, noch hatten die Aktivisten Zeit "für die Glotze". Interessanterweise setzte die intensivere Auseinandersetzung vor allem mit den elektronischen Medien und der von ihr verbreiteten "Massenkultur" erst Anfang der siebziger Jahre ein: Hans Magnus Enzensbergers "Baukasten zu einer Theorie der Medien" erschien 1970 und reflektiert bereits erste Erfahrungen mit den Öffentlichkeit herstellenden Instanzen und eine, wie der Autor mehrfach betont, unzureichenden Auseinandersetzung mit den Medien der öffentlichen Kommunikation.
In mehreren Vorträgen wurde darauf hingewiesen, daß es innerhalb der Studentenbewegung in guter alter Manier eine starke Orientierung am geschriebenen Wort gegeben habe, die späten sechziger und frühen siebziger Jahre eine Hochphase der Textproduktion bzw. -vervielfältigung und der Lektüre darstellten, vom typographisch ungelenken Flugblatt über Wandzeitungen bis hin zu den marxistischen Klassikern und einer in ihrer Folge erscheinenden umfangreichen vor soziologischen, politökonomischen und psychologischen bzw. psychoanalytischen Literatur in der Edition Suhrkamp, der Reihe Hanser und dem Luchterhand-Verlag, über dessen über 1968 zurückreichendes Engagement für Soziologica und marxistische Klassiker Gunther Nickel vom Literaturarchiv Marbach berichtete. Von der umfänglichen Textproduktion auch außerhalb des etablierten Verlagswesens, ermöglicht durch eine sich zu diesem Zeitpunkt gerade enorm verbilligende Reproduktionstechnik, d.h. über Raubdrucke und Klein- bzw. Alternativverlage berichtete der Freiburger Spezialist Albrecht Götz von Olenhusen.
Die Tagung konnte trotz mancher Neuerscheinung im Gedenkjahr zu "68" nur eine vorläufige Bestandsaufnahme, für den Bereich Buch und Rundfunk eine erste Strukturierung der Themen vornehmen und auf ihre gegenseitige Verschränkung eingehen. Zu den wichtigen Aussagen gehört u.a., daß "1968 und die Folgen" sich selbstverständlich nicht allein auf die Studentenrevolte reduzieren lassen. Dieses eine Jahr und eine zentrale Trägergruppe von Opposition, Protest und Widerstand stellt vielfach eine Chiffre und einen Kristallisationskern dar für gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozesse seit Beginn der sechziger Jahre, die sich bis weit in die siebziger hinzogen. In der Zeit zwischen 1967 und 1969 / 70 überschnitten und überkreuzten sich viele Entwicklungen. Sie brachten, wie der Hamburger Sozialhistoriker Axel Schildt zusammenfassend formulierte, am Ende der Wiederaufbauphase und der Stillung dringendster materieller Bedürfnisse neue Fragen auf die Tagesordnung. Auch eine neue Generationen - z.B. unter den Hochschullehrem - drängte in dieser Zeit in Führungspositionen, ebenfalls mit anderen Vorstellungen als die Aufbaugeneration. Wohlstand, Forschrittsoptimismus, erhöhte Mobilität (Motorisierung) eröffnete Freiräume für erste Ansätze dessen, was später "Erlebnisgesellschaft" genannt wurde. "Individualisierung" bedeutete Lösung von Zwängen, eröffnete Fragen nach neuen Zusammenhängen, neuen Interpretationen, die auch in den Theorieangeboten der neuen Linken gefunden wurden.
Was z.B. den Generationswechsel angeht, so ging im Verlagswesen die Epoche der Verleger-"Patriarchen" zu Ende: Nicht nur Verlagsmitarbeiter, sondern auch die Autoren fragten nach ihrer Stellung in den nach einer ersten Konzentrationswelle vergrößerten Unternehmen und griffen dabei z.T. auf radikale Konzepte der "kollektiven Mitwirkung" zurück. Gleichzeitig sahen sich Redakteure in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten veranlaßt, über ihre Rechte gegenüber den nach Parteienproporz besetzten Gremien und dem von diesen einerseits abhängigen, andererseits als allmächtig erscheinenden Intendanten nachzudenken. Dietrich Schwarzkopf analysierte die Folgerungen, die aus der Frage danach gezogen wurden, ob in welchem Verhältnis eine "äußere" zur sogenannten "inneren" Rundfunkfreiheit stehe, die auch Tabuisiertes, dem "mainstream" nicht Entsprechendes in den Sendungen zuließe. Über Details dieser Prozesse berichteten Gerhard Lampe (über "Panorama") und Jürgen Kritz (über das 1968 beginnende Kulturmagazin: "Titel - Thesen - Temperamente"). Den rasanten Wandel der (straf- bzw. jugendschutzrechtlichen) Bewertung sexueller Tabus stellte Achim Barsch anhand zweier exemplarischer Beispiele vor. Welche Unterschiede zwischen den Rundfunkanstalten in Sachen Toleranz damals bestanden, darüber gab auch das Zeitzeugengespräch am Abend des ersten Tages, an dem Peter Merseburger (damals bei "Panorama"), Hannes Schwenger, Otto Wilfert (damals beim ZDF) und K. D. Wolff teilnahmen Auskunft.
Karl Prümm vor allem und auch Peter Zimmermann machten in ihren Vorträgen über neue literarische Formen bzw. den Dokumentarfilm deutlich, daß eine prinzipiell durchaus offene Situation nach dem Ende der "Gruppe 47" bei der Suche nach neuen Antworten für den Zusammenhang von Text bzw. Abbild und Wirklichkeit einerseits noch einmal zur Selbstthematisierung der ästhetischen Verfahren führte (das lag auch in der surrealistischen Komponente der "Revolte"), andererseits habe sich teilweise das Spektrum rasch verengt und dogmatisiert, haben sich ästhetische Konzepte nicht zuletzt in der Wiederanknüpfung an die linksintellektuelle Kultur der Weimarer Republik den "Verismus" der Weimarer Republik, als neuer "Dokumentarismus" etabliert, dessen Krise in den siebziger Jahren rasch zutage getreten sei. Dies führte im Fernsehspiel nach dem Ausklingen einer ersten Phase der Literaturadaption und einem kurzen Zwischenspiel sozialkritischer Fernsehspiele zu einem neuen Höhepunkt von Literaturvermittlung durch das Fernsehen, jetzt aber filmischen Charakters: dies war ein überraschender, gleichwohl interessanter von Knut Hickthier vorgetragener Beleg für den transitorischen Charakter von "1968". Überraschenderweise erhielt jedoch - wie Stefan Bodo Würffel berichtete - das schon vor 1968 ‚erfundene` "Neue Hörspiel" einen starken Auftrieb durch die Aufbruch- und Umbruchstimmung am Ende des Jahrzehnts und erfuhr als avantgardistische Kunstform (mit Collage aus O-Ton-Material und Montagetechniken) erst jetzt seinen Durchbruch.
Daß die materiellen Bedingungen der sechziger Jahre Basis für eine eigene Jugendkultur legten, skizzierte Detlef Siegfried: Im Spannungsverhältnis zum Beitrag von Reinhold Viehoff und Kathrin Fahlenbrach über den "Beat-Club" wurde deutlich, daß eine schlichte Gleichsetzung von innovativer Fernsehästhetik im Bereich der Musiksendungen, von (amerikanisierter und als kommerzialisiert denunzierter) Popmusik und (Studenten-) Protest keineswegs vollständig aufgeht. Die Große Masse der Jugendlichen politisierte sich - wenn überhaupt - erst allmählich. Auch hier wurde deutlich, daß bei dem Sichüberkreuzen verschiedener Entwick-lungstendenzen vorschnelle Gleichsetzungen nicht angebracht sind.
Vergleichbares kann auf einem ganz anderen Sektor beobachtet werden: Hans Altenhein, damals beim S. Fischer Verlag beschäftigt, berichtete über den Beginn des Funkkollegs als Ausfluß der Krise des Hochschulunterrichts und der Überfüllung der Universitäten (als mögliche Antworten galten Fernstudium und der Einsatz der Medien) und der Krise des klassischen Bildungsfunks: profitiert habe jedoch von der Neuentwicklung in erster Linie das "alte" Medium Buch: die Textabdrucke der ersten Funkkollegs wurden zu Bestsellern.
Die Vorträge des Symposiums werden als Band 3 der "Mediengeschichtlichen Veröffentlichungen" voraussichtlich Ende 1999 publiziert werden.

Edgar Lersch

Erfassungsdatum: 13. 07. 1999
Korrekturdatum: 02. 04. 2004