Die Seiten werden nicht mehr aktualisiert – hier finden Sie nur archivierte Beiträge.
Logo BBF ---
grün und orangener Balken 1   grün und orangener Balken 3

HBO Datenbank - Bericht

Autor: Freund, Susanne
Titel: Archive und historische Ausstellungen
Erscheinungsjahr: 1999
zusätzl. Angaben zum Autor: Verein deutscher Archivare / Stadtarchiv Münster
Text des Beitrages:

 
Im Franz-Hitze-Haus in Münster fand vom 10. bis 12. Dezember 1998 eine Fortbildungsveranstaltung für Archivare und Archivarinnen sowie für andere historisch Interessierte zu dem derzeit aktuellen Thema "Archive und historische Ausstellungen" statt.
Nach der Begrüßung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen durch den Vorsitzenden des Vereins deutscher Archivare, Dr. Norbert Reimann, die Kulturdezernentin der Stadt Münster, Helga Boldt, und den Leiter des Franz-Hitze-Hauses, Dr. Thomas Sternberg, führte der Leiter des Stadtarchivs Münster, Prof. Dr. Franz-Josef Jakobi, mit seinem Vortrag "Archive und historische Ausstellungen - von der Notwendigkeit einer Funktionsbestimmung" in die Tagungsthematik ein. Jakobi forderte in seinen Ausführungen vor allem, daß sich Archivare und Archivarinnen in Zukunft aktiv in die interdisziplinäre Diskussion über Geschichtskultur und über die "lieux de mémoire" einbringen bzw. diese überhaupt erst einmal zur Kenntnis nehmen. Er verwies zum einen auf die theoretische Auseinandersetzung um die Funktion und Bedeutung von Geschichte, um Geschichtsbewußtsein und historisches Selbstverständnis, und zum anderen auf die Desiderata in der praktischen Umsetzung historischer Ausstellungen, die an erster Stelle im Archivbereich zu verzeichnen seien, der sich als Fachdisziplin an der Diskussion um Geschichtskultur kaum beteilige.
Jakobi formulierte sechs Leitfragen, die als Grundlage für die Tagungsdiskussion und für den am Nachmittag vorgesehenen Besuch der 26. Europaratsausstellung "Krieg und Frieden in Europa" dienen sollten: 1. Läßt bzw. wie läßt sich Textüberlieferung ausstellen? 2. Gibt es den spezifischen Typus "Archiv- oder Archivalienausstellung" und wodurch wäre er gegebenenfalls charakterisierbar? 3. Sollten Archive bei eigenen Ausstellungen mit anderen Institutionen kooperieren, wenn ja, mit welchen und unter welchen Rahmenbedingungen? 4. Wie ist aus archivarischer Sicht das Problem "Objektpurismus - begehbares Lehrbuch" zu beurteilen und gegebenenfalls zu lösen? 5. Wie ist das Verhältnis "Ausstellung - Dokumentation - Präsentation im virtuellen Raum" aus archivarischer Sicht zu beurteilen? 6. Gibt es einen spezifischen Beitrag der Archive zum historischen Ausstellungswesen insgesamt und worin könnte er bestehen? 
Zu Beginn der ersten Tagungssektion, unter der Leitung von Dr. Norbert Reimann, gab der geschäftsführende Direktor des Instituts für Didaktik der Geschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Prof. Dr. Wolfgang Jacobmeyer, einen Überblick über die konstitutiven Elemente der neuen Wissenschaftsdisziplin "Geschichtsdidaktik", wie sie sich seit den 1970er Jahren herausgebildet hat. In seinem Referat mit dem Thema "Geschichtsdidaktik als Reflexionsinstanz, Forschungsdisziplin und Handlungswissenschaft" machte er zunächst deutlich, daß die Geschichtsdidaktik nichts esoterisch Akademisches sei, sondern überhaupt erst Anhalt zu reflektierenden Deutungen in der Gesellschaft zu Geschichtsbewußtsein überhaupt gebe. Jacobmeyer betonte in diesem Zusammenhang vor allem den historischen Wert von Schülerarbeiten im Rahmen des nach fachdidaktischen Prämissen konstruierten Schülerwettbewerbs "Deutsche Geschichte" um den Preis des Bundespräsidenten, in denen schon Mitte der achtziger Jahre Oral History zu finden war und die somit entgegen den Erwartungen der Fachwissenschaft wichtige historische Erkenntnisse gewonnen hätten. Die geschichtsdidaktische Beschränkung auf die Schule allein jedoch sei zu bieder und träfe den Memorialbedarf unserer Gesellschaft nicht länger. Im Gegenteil: Museen, Gedenkstätten, Archive stünden unter neuen Anforderungen geschichtsdidaktischer Natur und müßten sich deshalb auch mit geschichtsdidaktischen Fragen bei der Konzeption historischer Ausstellungen auseinandersetzen.
Im zweiten Teil dieser Sektion präsentierte Dr. Manfred Treml vom Haus der Bayerischen Geschichte in Augsburg eine praxisbezogene Betrachtung "historischer Ausstellungen als ein komplexes Produkt aus Wissenschaft, Didaktik, Ästhetik und Marketing". Treml ging in seinem Vortrag speziell auf die einzelnen Besuchergruppen historischer Ausstellungen ein: das Stammpublikum, das themenspezifisch interessierte Publikum und das sogenannte touristische Segment. Denn in seinem Bemühen um eine zielgruppenorientierte Vermittlung historischer Zusammenhänge befinde sich das Ausstellungswesen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Publikum und versuche so eine Verbindung von Lernen und Unterhaltung, Wissen und Erleben herzustellen. Historische Ausstellungen bildeten damit sogleich eine Brücke zwischen Universitäten, Museen, Archiven, Bibliotheken etc. und der breiten Bevölkerung, ohne die deren Forschungsergebnisse und Bestände zum reinen Selbstzweck würden. In seinen Ausführungen zu den verschiedenen Elementen der Ausstellungsarbeit hob Treml insbesondere visuelle Lernangebote mittels der neuen Medien wie zum Beispiel Internet und CD-ROM hervor und verwies damit bereits auf die Einbeziehung neuer Präsentationsformen historischer Dokumente in Archiven und Museen, die am zweiten Tagungstag noch ausführlicher diskutiert werden sollten. [...]
Am Vormittag des folgenden Tages moderierte Roswitha Link (Stadtarchiv Münster) die folgenden Beiträge. Zunächst stellte Prof. Dr Klaus Backhaus, Direktor des Instituts für Anlagen- und Systemtechnologien der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, die Ergebnisse einer in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Münster im vergangenen Jahr durchgeführten zweiphasigen Bürgerbefragung zum Jubiläum "350 Jahre Westfälischer Friede" vor, die auf anschauliche Weise das unterschiedliche Interesse an Geschichte allgemein sowie den erheblich variierenden Kenntnisstand einzelner Bevölkerungsgruppen in Münster zu Beginn und während des Jubiläumsjahres über die historischen Ereignisse Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friedensschluß 1648 demonstrierten.
Dieser ausführlichen Darstellung empirischer Daten, der sich eine rege Diskussion über die Evaluationsmöglichkeiten von Geschichte, insbesondere über die Frage, ob der immense Aufwand für das gesamte Jubiläumsprogramm mit entsprechender Resonanz von der Bevölkerung honoriert wurde, anschloß, folgten zwei Tagungsbeiträge zur praktischen Umsetzung und Gestaltung historischer Ausstellungen.
Rainer Weichelt, Leiter des Stadtarchivs Gladbeck, berichtete über eine im Jahre 1997 vom Stadtarchiv und Stadtmuseum Gladbeck veranstaltete Fotoausstellung mit dem Thema "Rätselhaftes Gladbeck. Die etwas andere Stadtgeschichtsausstellung". Weichelt stellte vor allem heraus, daß die Besucher und Besucherinnen unmittelbar in die Ausstellung miteinbezogen wurden, indem sie aufgefordert waren, bei der Kommentierung, teilweise auch bei der Identifizierung großformatiger unbeschrifteter Fotos aktiv mitzuwirken. Diese mit relativ geringem Kostenaufwand organisierte Präsentation historischer Dokumente erreichte Weichelt zufolge auch Bevölkerungsgruppen, die in der Regel als weniger geschichtsinteressiert gelten. Er belegte anhand dieses Beispiels, daß durchaus mit den knapp bemessenen Finanzbudgets kleinerer Kommunalarchive öffentlichkeitswirksame Ausstellungen möglich sind, die u.a. mit dazu beitragen, die Transparenz archivarischer Aufgabenbereiche zu erhöhen.
Auf welche Weise das Bewußtsein für historische Zusammenhänge auch bei Kindern und Jugendlichen sensibilisiert werden kann, führte im Anschluß daran die Leiterin des Jugendmuseums Schöneberg (Berlin), Petra Zwaka, in ihrem Vortrag "Experimentelle Formen der Geschichtsvermittlung oder: Muss Geschichte langweilig sein? Ein Erfahrungsbericht des Jugendmuseums Schöneberg (Berlin)" aus. Das 1995 gegründete Museum lädt junge Menschen im Alter von 8 bis 14 Jahren zum Experimentieren ein, um sich der Geschichte ihrer Stadt zu nähern und die eigene Umgebung aus historischer Perspektive anders wahrzunehmen. Denn eines der zentralen Anliegen des Jugendmuseums ist es, Geschichte nicht nur auszustellen, sondern den Prozeß der Geschichtsproduktion, durch eigene aktive Teilnahme transparent werden zu lassen. Zwaka dokumentierte anhand ausgewählter Dias die von Museums- und Theaterpädagogen konzipierten Stationen der sogenannten Wunderkammern-Wunderkisten, die die Phantasie und den Forschergeist der Kinder bei der historischen Spurensuche herausfordern, den aktiven Lernprozeß und die unmittelbare Auseinandersetzung mit Geschichte forcieren, aber auch unter sozialpädagogischen Aspekten Kontakte unterschiedlicher Kulturen und ihrer Geschichte durch den Austausch der Kinder und Jugendlichen beim gemeinsamen Entdecken und Forschen fördern sollen.
Die letzte Tagungssektion am Nachmittag wurde von Dr. Susanne Freund (Stadtarchiv Münster) moderiert. Diese Sektion war dem Thema gewidmet, wie das Verhältnis von "Ausstellung - Dokumentation - Präsentation im virtuellen Raum" aus archivarischer Sicht zu beurteilen ist. Der Leiter des Stadtarchivs Karlsruhe, Dr. Ernst Otto Bräunche, ging anhand der vom Stadtarchiv Karlsruhe produzierten CD-ROM "Für Freiheit und Demokratie. Badische Parlamentsgeschichte 1818-1933 - zur demokratischen Bewegung seit 1818" der Frage nach, wie Historiker und Historikerinnen mit CD-ROMs umgehen können bzw. was dieses Medium grundsätzlich für Chancen bietet. Bräunche erläuterte in seinem Vortrag zunächst die Vorgeschichte, Rahmenbedingungen und Produktion des Informationssystems der Erinnerungsstätte Ständehaus Karlsruhe und führte schließlich die verschiedenen Ebenen vor, die ein historischer Rundgang im virtuellen Raum ermöglicht. Von dem Abruf einzelner Biographien historischer Personen über Filmsequenzen, Toneinspielungen bis hin zur Darstellung von Pressetexten oder Kartenmaterial sollen die Besucher und Besucherinnen über sogenannte Links aufgefordert werden, sich auf die Angebote historischer Informationen einzulassen, mitzuwirken, auszuwählen, über Art und Umfang der Zusatzinformationen zu entscheiden und sich so selbständig Wissen über historische Themen anzueignen.
Prof. Dr. Volker Schockenhoff, derzeit Dekan des Fachbereichs "Archiv, Bibliothek, Dokumentation" der Fachhochschule Potsdam, stellte zum Abschluß die Verbindung der Bereiche Archiv, Dokumentation, Bibliothek und Museum her, die vor allem hinsichtlich der in vielen Archiven momentan neu entstehenden Arbeitsfelder "Stadtgeschichtliche Dokumentation" relevant ist. Es ging Schockenhoff darum darzustellen, wie angesichts der stetig anwachsenden Informationsflut, die auf die Archive einströmt, unter Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnologien neue bürgerorientierte Dokumentationssysteme in und durch Archive aufgebaut werden können. Schockenhoff machte noch einmal die unterschiedlichen Positionen zu dieser Problematik deutlich und lieferte einen umfassenden Überblick des aktuellen Diskussionsstandes. [...]
Allgemeiner Konsens war die aktuelle Einbeziehung der neuen Medien, die zwar keinen Ausstellungsbesuch ersetzen, aber die intensive Auseinandersetzung mit historischen Themen auch bei denjenigen forcieren, die nicht zu den üblichen Ausstellungsbesuchern und -besucherinnen zählen. Denn historische Ausstellungen sollten Fragen aller gesellschaftlichen Gruppen an die Geschichte bedienen - Fachwissenschaftler, allgemein historisch Interessierte oder auch Kinder und Jugendliche. Diese unterschiedlichen Ebenen erforderten dringend die systematische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex sowie die Entwicklung neuer Ideen für innovative Konzeptionen und Umsetzungsmöglichkeiten der methodischen und didaktischen Gestaltung historischer Ausstellungen. Dieser Weg setze an erster Stelle den Zusammenschluß in interdisziplinären Arbeitskreisen voraus - wie sie inzwischen im Bereich der Historischen Bildungsarbeit anzutreffen seien -, um sich auszutauschen, miteinander ins Gespräch zu kommen und neue Konzepte zu entwerfen.
Die Tagungsbeiträge werden in Kürze gemeinsam mit den auf dem Deutschen Archivtag vom 29. September bis 2. Oktober in Münster gehaltenen Referaten in einem Tagungsband veröffentlicht.
Susanne Freund
Kontaktadressen:
Verein deutscher Archivare, c/o Westfälisches Archivamt Münster, Jahnstraße 26, 48147 Münster, Tel.: (0251) 591 3886, Fax: (0251) 591 269; Stadtarchiv Münster, Hörsterstraße 28, 48143 Münster, Tel.: (0251) 492 4701 oder 2 23 78, Fax: Telefax: (0251) 492 7727 oder 2 23 78; E-mail: archiv@stadt-muenster.de

Erfassungsdatum: 13. 07. 1999
Korrekturdatum: 02. 04. 2004