Zur Genese des Archivs
Der Aufbau eines Schularchivs
wurde in Marienau im Herbst 1987 in Angriff genommen, zunächst als
ein
Projekt, als eine nur über
längere Zeiträume zu realisierende Zielvorstellung. Konkrete
Anstöße für ein
solches Vorhaben sind seit
Mitte der 80er Jahre zu erkennen, die eine solche Einrichtung aus mehreren
Gründen zu einem Desiderat
machten. Alle Hintergründe und Zusammenhänge für diese
Herausforderung, mehr als
siebzig Jahre nach Gründung der Schule ein Archiv aufzubauen, können
hier
nicht im Detail dargelegt
und erörtert werden. Da aber die ganz unterschiedlichen Impulse für
die späteren
Planungen und auch die Prioritäten
in der Realisierungsphase eine nicht unerhebliche Rolle spielten, seien
sie zum allgemeinen Verständnis
hier wenigstens kurz skizziert.
1. Der erste und besonders
nachhaltige Anstoß ging von der Pädagogischen Arbeitsstelle
der "Vereinigung
der Deutschen Landerziehungsheime"
aus. Hier plante man seit ca. 1985 im Rahmen von
Öffentlichkeitsarbeit
und Lehrerfortbildung die systematische Erforschung der jeweils eigenen
Geschichte
der ihr angehörenden
Schulen. Diese Initiative stand wohl in unmittelbarem Zusammenhang mit
einer
allgemeinen Wiederentdeckung
der Reformpädagogik in den 80er Jahren, die in den Schulen der
Reformpädagogik einen
Schub historischer Selbstvergewisserung auslöste. Oberste Priorität
hatte zunächst
die Aufarbeitung der Geschichte
der Landerziehungsheime während des Nationalsozialismus.
Voraussetzung für solche
Forschungsarbeit war das Studium der einschlägigen Quellen, die in
Marienau
schon deshalb nicht aufzufinden
waren, weil sie vermutlich gar nicht (mehr) vorhanden waren. Das hing
nicht zuletzt auch mit der
Geschichte Marienaus während dieser Zeit zusammen, da die Anlässe
für
vorsorgliche Beseitigung
oder "Filzung" aus politischen Gründen ja gleich mehrfach gegeben
waren: (a) So
beispielweise beim politisch
erzwungenen "Geschäftswechsel" im April 1937, als die Konzession für
den
jüdischen Schulleiter
Max Bondy aufgehoben wurde und die Schulbehörde alles unternahm, damit
der
pädagogische oder auch
sonstige Einfluß des Schulgründers möglichst vollständig
eliminiert wurde. Aus
späterer Wahrnehmung
scheint die damals intendierte "Spurenbeseitigung" fast perfekt gelungen.
Als
weitere Einschnitte für
die vorsorgliche Beseitigung von möglicherweise politisch belastendem
Material
kommen weiterhin in Betracht
die (b) SS-Inspektion (ab 1942), die (c) Verhaftung von Angelika
Knoop-Probst, der Frau des
Schulleiters, wegen Verdachts der Mitwisserschaft bei den Aktionen der
"Weißen Rose" (Juni
1943) und auch noch die (d) Zeit nach 1945.
2. Die weiteren Anstöße
für die Realisierung eines Archivs in Marienau stehen im Zusammenhang
mit den
zahlreichen schulinternen
Umbrüchen und Veränderungen Mitte der 80er Jahre. Aus historischer
Perspektive wäre hier
die späte und fast schon nicht mehr für möglich gehaltene
Versöhnung mit den
Altschülern aus der
Bondy-Zeit zu erwähnen. Seit der Vertreibung des Ehepaares Bondy befand
sich
diese Generation von Altschülern
über Jahrzehnte hinweg zu der "Nachfolgeinstitution" in Marienau in
großer emotionaler
Distanz. Im Zuge einer Annäherung der unterschiedlichen Altschülergenerationen
entstand die Initiative
für den Bau eines Bondy-Hauses in Marienau. In den Planungen für
dieses Haus ist
von Anfang an neben einem
Seminarraum für Lehrerfortbildung auch ein Archivraum als Forschungsstelle
vorgesehen, um "das Werk
der Schulgründer und ihrer Nachfolger für die Zukunft zu dokumentieren
und lebendig zu halten",
so die offizielle Begründung. In den weiteren Ausführungen klingt
aber der
damals aktuelle Zeitgeist
mit: Die Wiederentdeckung der (historischen) Reformpädagogik für
die
gegenwärtige und zukünftige
pädagogische Praxis. Der Altschülerin Prof. Hedwig Wallis gelingt
in ihrer
beeindruckenden Rede über
die pädagogische Arbeit von Max und Gertrud Bondy auf dem Sommerfest
1987 ein Durchbruch auf
diesem Weg: Sie legte gewissermaßen einen "geistigen Baustein" für
das
Bondy-Haus, wenn sie die
"Ideen von gestern" auch als "Herausforderung für heute und morgen"
begreifbar machen konnte.
War das Archiv der Schule
Marienau zunächst eine Institution "ohne Raum", so ist inzwischen
das
Marienauer Schularchiv im
1990 fertiggestellten Bondy-Haus untergebracht. Im Sommer 1991 konnte
dann auch der für die
Archivarbeit vorgesehene Raum bezogen werden.
Aus diesen Hinweisen geht
aber auch hervor, daß es sich beim Archiv der Schule Marienau eben
nicht
um ein über viele Jahrzehnte
hinweg "gewachsenes" Archiv handelt, wie wir es beispielsweise in der
Odenwaldschule (vgl. "Rund-Brief"
Nr. 2, Nov. 1997, S. 44–49) vorfinden, sondern um eine nachträglich
zusammengetragene Sammlung
von Dokumenten zur Schulgeschichte Marienaus und dem dazugehörigen
geistesgeschichtlichen Umfeld,
aus dem heraus die Schule von Dr. Max und Dr. Gertrud Bondy in den
20er Jahren gegründet
wurde. Eine ebenfalls noch im Aufbau befindliche Präsenzbibliothek
zu den
Themen Jugendbewegung, Reformpädagogik,
Psychoanalyse und Pädagogik, (assimiliertes) Judentum,
Geschichte der Weimarer
Republik und des Nationalsozialismus sowie Widerstand im Dritten Reich
ergänzt diese Bestände
zusätzlich.
Der heutige Archivbestand
setzt sich also fast in vollem Umfang aus sog. Ergänzungsdokumentationen
zusammen: Die (Original-)Dokumente
zur Schulgeschichte wurden unter z.T. sehr schwierigen,
manchmal schon beinahe abenteuerlichen
Bedingungen wieder nach Marienau "zurückgeholt", zum
allergrößten
Teil aus den USA, der letzten Station der Bondys im Exil. An dieser Stelle
sollte man
vielleicht ergänzend
einfügen, daß diese finanziell ziemlich aufwendige Reise im
Frühjahr 1989 nicht ohne
Risiken war: Niemand konnte
im Vorfeld einigermaßen zuverlässig abschätzen, ob nach
den zahlreichen
Stationen der Bondys im
Exil überhaupt noch Dokumente zu ihren früheren Schulen in Deutschland
aufzufinden waren, zumal
inzwischen mehr als sechzig Jahre seit der Schulgründung in Gandersheim
(1923) vergangen waren.
Die von Annemarie Roeper, der Tochter Bondys, mit sehr vielen Vorbehalten
angekündigten "zwei
kleinen Kartons" mit Fotos und Dokumenten gab es dann auch tatsächlich
– und:
Darüber hinaus lagerten
in der Doppelgarage amerikanischen Zuschnitts noch weitere zahlreiche
Umzugskartons – gestapelt
in dreifacher Reihe bis oben hin zur Decke. Wir haben die Kartons damals
nicht gezählt. Der
zunächst nur mit drei Tagen angesetzte Aufenthalt in Oakland / Cal.
mußte unter den
neuen Bedingungen relativ
spontan um eine Woche verlängert werden, um überhaupt eine grobe
Sichtung
vornehmen zu können.
Zu diesem Zeitpunkt konnten wir die Relevanz der Unterlagen nicht immer
erkennen – bei der Rückkehr
konnten wir zumindest eine völlig unerwartete Menge von
dokumentarischem Material
als "Ausbeute" auspacken. Diese aus den USA zurückgeholten Unterlagen
stellen bis heute den wohl
größten Teil der Bestände dar, die die pädagogische
Tätigkeit, aber auch
biographische Zusammenhänge
der Bondys in Deutschland, in der Schweiz und in den USA
dokumentieren. Weiteres
dokumentarisches Material mußte allerdings vorläufig (glaubten
wir!) da bleiben,
vor allem aber das, was
schon aus rein technischen Gründen nicht gesichtet werden konnte:
Die
umfänglichen Bestände
von Dias, Tonbändern und Super-8-Filmen. Aber bevor in Marienau überhaupt
die Überlegungen abgeschlossen
waren, wie man auch noch das restliche Material nach Deutschland
zurückbringen könnte,
fegte 1991 ein Feuersturm über Oakland hinweg. Die Roepers konnten
nur ihr
Leben retten - das Haus
brannte mit dem Gesamtinventar bis auf die Grundmauern nieder. Die
zahlreichen Dokumente, die
sogar die Nazizeit und dann anschließend geradezu eine Odyssee von
zahlreichen Stationen in
der Schweiz, England und in den USA "überlebt" hatten, sind nun tatsächlich
unwiederbringlich vernichtet
– nur ein paar Monate nach Einrichtung des Archivraums im Bondy-Haus.
Lediglich die Bestände,
die rechtzeitig nach Marienau geholt wurden, gibt es jetzt noch: Aus nachträglicher
Perspektive erscheinen sie
so schon fast als der noch gerade eben "gerettete" Teil einer "verdrängten
Pädagogik". Ex negativo
sind damit auch Grenzen für den weiteren Ausbau der Bestände
für diesen Teil
der Schulgeschichte in Marienau
abgesteckt.
Ein wichtiger Hinweis noch
zum Schluß: Die Anforderungen und auch Herausforderungen für
die Arbeit
im Archiv einer Schule sind
prinzipiell wohl immer andere als die regulären Erwartungen an öffentliche
Archive. Für die vorrangige
Zielperspektive der Rekonstruktion von Schulgeschichte war der Aufbau des
Schularchivs gewissermaßen
die unabdingbare Voraussetzung. Eindeutige Präferenz für die
Arbeit im
Schularchiv haben die Bedürfnisse
der Schule, die (klassisch definierte) öffentliche Funktion kommt
einer
Einrichtung in privater
Trägerschaft eher sekundär zu.
Der Aspekt einer möglichst
zuverlässigen Rekonstruktion der "Schulgeschichte", also die Erforschung
und
Erkundung der Geschichte
vor Ort, rangiert in den allgemeinen Erwartungen der Schulöffentlichkeit
an
das Archiv ganz oben. Bei
solcher Akzentuierung war auch deshalb der Gedanke an eine Ausweitung des
Archivs zu einer Forschungsstelle
schon sehr früh präsent. Die Öffnung des Archivs für
Schüler und der
Einbezug von Schülern
in die vielfältige Arbeit des Archivs war ein weiteres konstituierendes
Moment, das
sich im Marienauer Konzept
von "Archivpädagogik" niedergeschlagen hat. Im Rahmen der
Landerziehungsheime scheint
diese pädagogische Ausrichtung und Ausweitung der Archivarbeit im
Sinne
einer inhaltlich sehr offenen
"Geschichtswerkstatt" bisher singulär: Sie wird deswegen im Anschluß
noch
gesondert dargestellt. Da
die inzwischen vorliegenden Archivbestände aber eine zumindest vorläufige
Rekonstruktion der Schulgeschichte
ermöglichen, sei sie hier noch einmal im Überblick dargestellt
– auch
als Hinweis auf die grundsätzliche
Öffnung unseres eher "kleinen" Archivs für andere Interessenten,
auch
aus Hochschule und Forschung,
vielleicht auch als Anregung für weitere Auseinandersetzung mit der
Geschichte der Schule Marienau.
Die Geschichte der Schule
Marienau im Überblick
Die heutige Schule Marienau
(Kreis Lüneburg) wurde 1923 von dem Ehepaar Dr. phil. Max Bondy
(1892–1951) und Dr. med.
Gertrud Bondy, geb. Wiener (1889–1977), in Gandersheim gegründet.
Ostern
1929 zog die "Schulgemeinde
Gandersheim" in die Nähe von Bondys Heimatstadt Hamburg: Sie nannte
sich von da ab "Schulgemeinde
auf Gut Marienau" und galt im Rahmen der Landerziehungsheime –
neben der Odenwaldschule
und der Schule des Bernhard Uffrecht auf Schloß Letzlingen – als
einer der
kühnsten und auch "modernsten"
Schulversuche der damaligen Zeit. Das Profil "progressiver Modernität"
und Internationalität
der Bondy-Schule hängt sicherlich auch ganz unmittelbar mit der geistigen
Provenienz ihrer Gründer
zusammen: Max und Gertrud Bondy stammten beide aus assimilierten
jüdischen Familien
großbürgerlichen und liberalen Zuschnitts, schon die Elternhäuser
in Hamburg bzw.
Prag waren Zentren zeitgenössischer
kultureller Auseinandersetzung. Diese primären Prägungen durch
moderne Kunst und Kultur
werden später durch die Berührung mit anderen, ebenfalls zeittypischen
Denk-
und Geistesströmungen
noch erweitert.
Max Bondy lernte während
seines Studiums in Freiburg die deutsche Jugendbewegung kennen, die sein
Denken maßgeblich
beeinflußt hat, wie er später in Ansprachen und Veröffentlichungen
immer wieder zu
erkennen gab. Die gesamte
Vorstellungswelt der deutschen Jugendbewegung, ihre Ideale von
Gemeinschaft, Naturverbundenheit
und gesellschaftspolitischer Verantwortung sind der eigentliche
ideologische "Nährboden"
seiner späteren Schulgründungen – zuerst auf dem Sinntalhof in
Bad
Brückenau / Bayern
(1920–23), dann in Gandersheim (1923–29) und in Marienau (1929–37).
Wenngleich Max Bondy sich
in seinen pädagogischen Zielsetzungen äußerlich und auch
programmatisch
immer in die Reihe der deutschen
Landerziehungsheime und Schulgemeinden stellte, so bekam die Schule
durch die beiden unverwechselbaren
"großen Persönlichkeiten" (Martha Philips, 1953) Max und Gertrud
Bondy ihr eigentliches "Gesicht",
ihr Profil.
War Max Bondy vornehmlich
geprägt durch die deutsche Jugendbewegung, durch seine freiwillige
Teilnahme am Ersten Weltkrieg
und sein großes Interesse an Kunst und Kunstgeschichte, so war seine
Frau ihm ähnlich und
doch "ganz anders" (Hedwig Wallis, 1987): Gertrud Bondy wuchs in Prag und
in
Wien auf, den Hochburgen
moderner Kunst und Kultur der Jahrhundertwende. Sie stammte aus einer
sehr kultivierten und hochgebildeten
Familie und wollte ursprünglich Konzertpianistin werden, studierte
schließlich Medizin
und absolvierte zusätzlich noch eine Ausbildung als Psychoanalytikerin
– damals für
eine Frau sehr ungewöhnlich.
Diese Voraussetzungen prädestinierten sie aber in besonderer Weise
dazu,
das pädagogische Konzept
einer "Schulgemeinde" als "Kulturschule" mitzutragen, das Max Bondy zeit
seines Lebens vorschwebte
und das er in seinen zahlreichen "Morgensprachen" aus ganz
unterschiedlichen Blickwinkeln
beleuchtete. Im Vergleich zu den anderen Landerziehungsheimen waren
der fast familiäre
Charakter sowie die Kennzeichnung als "unglaublich fortschrittlich" dann
spätestens ab
Mitte der 20er die eigentlichen
"Markenzeichen" der Schulgemeinde Gandersheim; man wollte "keine
Weltfremdheit", sondern
"Bejahen der Gegenwart", in jeder Hinsicht "Zeitgenossenschaft". Daß
die
fortschrittlichen, liberalen
und humanen Zielsetzungen dieses pädagogischen Konzepts den Nazis
im
Prinzip schon gereicht hätten,
um die Bondys aus Deutschland zu vertreiben, macht man sich heute
vielleicht nicht mehr ganz
klar, wenn man in diesem Zusammenhang ausschließlich auf die jüdische
Herkunft der Bondys verweist,
auf die auch das Gestapo-Gutachten besonders abhebt.
Die große innere Verbundenheit
zu Deutschland und seiner Kultur machte es Max Bondy fast unmöglich,
die Pläne für
die (unvermeidliche) Emigration durchzuführen. Mit Hilfe der internationalen
Kontakte von
Paul Geheeb, einem der engsten
Vertrauten von Max Bondy, gelingt es schließlich, eine Quäkerschule
mit
internationaler Konzession
zu übernehmen. Gertrud Bondy geht mit den beiden jüngeren Kindern
schon
1936 nach Gland am Genfer
See, um die Schweizer Schule "Les Rayons" zu "reorganisieren" – so die
offizielle Version. Max
Bondy bleibt mit der älteren Tochter noch in Marienau, steht aber
unter großem
politischen und persönlichen
Druck, da als Folge des Gestapo-Gutachtens von 1936 die Konzession für
die Leitung Marienaus Anfang
April 1937 definitiv ausläuft. Auf Empfehlung von Dr. Ernst Reisinger,
dem Leiter von Schondorf
/ Ammersee, übernimmt der Schondorfer Lehrer Dr. Bernhard Knoop zum
2.
April 1937 die Schule Marienau.
Da sich schon im Vorfeld die Übergabeverhandlungen sehr kompliziert
gestalten und es unübersehbar
ist, daß die zuständigen Behörden jedweden weiteren Einfluß
des Juden
Max Bondy ausschließen
möchten, geht mit diesem Wechsel in der pädagogischen Leitung
auch ein
"ideologischer" Kurswechsel
einher: Zwar bleibt die Landerziehungsheimidee im wesentlichen erhalten,
aber in der konkreten Ausführung
vollzieht sich hier deutlich ein Übergang vom progressiven "linken"
Flügel der Landerziehungsheime
zum eher konservativen "rechten" Flügel, als dessen Exponent das
damalige Schondorf gelten
darf.
Aus der "Schulgemeinde auf
Gut Marienau" wurde noch im Jahr 1937 durch offizielle Umbenennung das
"Niederdeutsche Landerziehungsheim
Marienau", um so auch "äußerlich die Abkehr von der bisherigen
liberalistischen Tradition
(Schulgemeinde) deutlich zu machen". Der große Einbruch bei den
Schülerzahlen nach
Bondys Weggang gestaltete die endgültige Übernahme schon im Folgejahr
als ziemlich
schwierig, aber die Behörden
hatten die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Bondy zur Bedingung
für die
Erteilung einer Konzession
gemacht. Das Landerziehungsheim Schondorf und ein Elternkonsortium
leisteten finanzielle Hilfe,
um Marienau als Landerziehungsheim zu erhalten. Der Ausbruch des Krieges,
die drohende Verstaatlichung
(November 1942), die Verhaftung von Angelika Knoop-Probst wegen des
Verdachts der Mitwisserschaft
bei den Aktionen der Widerstandsgruppe "Die Weiße Rose" stellten
aber
die Weiterexistenz von Marienau
immer wieder erneut in Frage. Am 1. April 1945 trat der durch
Verzögerungstaktik
lange verhinderte Pachtvertrag mit der Inspektion Deutscher Heimschulen
doch noch
in Kraft. Knapp einen Monat
vor Kriegsende wurde Marienau "Deutsche Heimschule". Dr. Knoop kam
im Juni 1945 aus amerikanischer
Kriegsgefangenschaft zurück.
Noch vor der offiziellen
Wiederaufnahme des Unterrichts im Oktober 1945 findet Ende August unter
Leitung von Adolf Grimme
eine Tagung zur Schulreform in Marienau statt, die später als "Marienauer
Tagung" in die Geschichte
eingeht.
Anfang 1946 trennt sich das
Ehepaar Knoop "in Freundschaft". Bernhard Knoop heiratet Anneliese Graf,
Schwester von Willi Graf,
letzterer ebenfalls Mitglied des Widerstandskreises "Weiße Rose".
Knapp einen
Monat später beantragt
Max Bondy durch seinen Rechtsanwalt eine Vormerkung im Grundbuch, wodurch
ihm das alleinige Rückkaufsrecht
von Marienau zugesichert wird. Schon Ostern 1947 möchte er Marienau
wieder übernehmen und
im Zuge der von ihm in der Emigration entwickelten Idee einer
"One-World-Pädagogik"
einem internationalen Schulverbund eingliedern. Dieser Plan scheitert,
da die
endgültige Gesetzgebung
für die Wiedergutmachung abgewartet werden muß. Noch vor Abschluß
des
offiziellen Vergleichs 1953
stirbt Max Bondy 1951 in Boston / USA. Die von ihm in den USA gegründete
Windsor-Mountain-School
wird von Gertrud Bondy und später von Sohn Heinz-Eric geleitet, besteht
aber
nur bis 1975.
Dr. Knoop leitete Marienau
bis zum Jahr 1969, also 32 Jahre. Trotz seines eher patriarchalischen
Führungsstils wird
in einem Gutachten von Minna Specht Anfang der 50er Jahre vor allem die
gut
funktionierende Schülerselbstverwaltung
gelobt. Die Gründung eines gemeinnützigen Schulvereins (1956)
bereitet den stufenweisen
Übergang des Privatbesitzes Marienau in die Verantwortung eines Trägervereins
vor. Neben den zahlreichen
musischen und schulischen Aktivitäten auf hohem Niveau ("Musische
Woche" / "Naturwissenschaftliche
Woche") ist die Knoop-Ära zunehmend eine Phase auch der reflexiven
Selbstbesinnung auf die
eigentliche Funktion der Landerziehungsheime im zeitgenössischen Kontext:
In
der spezifischen Struktur
dieser Schulen sieht Knoop eine besondere Chance für eine Erziehung
zu
demokratischem Verhalten
und politischem Engagement, also eine Erziehung zu öffentlichen Tugenden.
Sein Nachfolger, Dr. Günter
Fischer, knüpfte in seinem "Organisationsmodell der Schule Marienau"
genau
hier an: Es soll den Schülern
Gelegenheit geben, die für ein gesellschaftsbezogenes Handeln notwendige
Kooperationsfähigkeit
zu lernen.
1986 übernimmt Wolf-Dieter
Hasenclever die Leitung der Schule Marienau unter der Leitidee des
"Ökologischen Humanismus".
Diese Idee wird als die zeitgemäße Fortsetzung der Reformpädagogik
in der
Marienauer Tradition interpretiert:
Erziehung zu Freiheit und Verantwortung im internationalen
Kontext.
Die Schule Marienau ist heute
ein staatlich anerkanntes Gymnasium (Ersatzschule), das von 150 internen
und 200 externen Schülern
besucht wird.
Die Archivbestände (Übersicht)
1. Literatur
1.1. Fachliteratur
Allgemeine Pädagogik;
Reformpädagogik; lebensreformerische Bewegungen; Wandervogel und
Jugendbewegung (Quellensammlungen);
Landerziehungsheime allgemein; Monographien zu
(Kultur-)Philosophen und
Reformpädagogen; Schriften über einzelne Landerziehungsheime;
Jüdische
Kultur und jüdische
Assimilation; Judenverfolgung; Geschichte der Weimarer Republik / des
Nationalsozialismus / "Drittes
Reich"; Schule / Pädagogik im Nationalsozialismus; Deutscher Widerstand;
Pädagogik und Psychoanalyse;
Schulen in der Emigration – "Verdrängte Pädagogik".
1.2. Belletristik
Bücher von ehemaligen
Mitarbeitern oder Schülern in Marienau: Schlüsselerzählungen
über Marienau
oder (unverschlüsselte)
autobiographische Schriften.
Konvolut von "Marienauer
Theaterstücken" (Bearbeitungen von Martha Philips)
"Gelegenheitsdichtung" zu
Festen o.ä.
1.3. Zeitschriften
"Freideutsche Jugend"(Monatsschrift
der Jugendbewegung) [unvollst. / 1915–19]
"Psychoanalytische Bewegung"
(1929–36)
"Psychoanalytische Pädagogik"
(1928 / 29)
"Die Sammlung" (seit Okt.
1945) / "Neue Sammlung" (bis 1976)
1.4. Wissenschaftliche Arbeiten
Diplom- und Examensarbeiten
zu reformpädagogischen Themen am Beispiel Marienaus; Referate und
Seminararbeiten
2. (Einzel-)Publikationen
und Schulzeitschriftender Schule Marienau
Auskunftsblatt der Schulgemeinde
Gandersheim [vermutl. 1923]
Schulgemeinde Gandersheim
(Berichtshefte) [vermutl. 1926–28 / unvollst.]
Chronik der Schulgemeinde
Gandersheim. Hrsg. v. d. Schülern 1. Jg. (Okt. 1928)
Chronik der Schulgemeinde
auf Gut Marienau. 1 Jg. (Okt.1929) – 8. Jg. (1936)
Lunte. Schülerzeitschrift.
[2 Expl.e] 1931
Chronik (ab 1937–41); hg.
von B. Knoop (4 Hefte)
Chronik. Neue Folge (1948–98)
Cornet. Schülerzeitung.
1. Jg., H. 1 (Dez. 1958–94)
Pamphlet. Schülerzeitung.
[1 Expl., vermutl. 1969]
Marienauer Nachrichten. H.
1 (März 1992) – H. 20 (März 1999)
Tabula rasa. Schülerzeitung.
1 Jg. H. 1 (Dez. 1998) - H. 2 (März 1999)
Einzelpublikationen:
Prospekte, Rundbriefe, Mitteilungen,
Denkschriften, Schul- oder Heimordnungen, Satzungen, Protokolle
u.a.
3. Publikationen von Schulleitern
/ Mitarbeitern / Altschülern
Einzelveröffentlichungen
in Buchform, Aufsätze und Beiträge, Projektwochenzeitungen, Berichte
von
Exkursionen / Auslandsaufenthalten
/ Schüleraustausch, Berichte von Aktivitäten der Pfadfinder,
AG-Berichte, Praktikumsberichte,
Kataloge von Schulausstellungen, Programme von
Schulveranstaltungen u.v.a.m
4. Teil-Nachlässe
Familie Max und Gertrud Bondy,
Curt Bondy; Bernhard Knoop; Günter Fischer; H. H. Sanden; Oswald
Graf zu Münster
5. Briefe
Private Korrespondenz im:
Teilnachlaß Bondy (mit
Curt Bondy, Carl Zuckmayer, Dorothy Canfield-Fisher, Dorothy Thompson,
Eva
Michaelis-Stern u.a.)
Teilnachlaß Graf zu
Münster (u.a. mit Eduard Zuckmayer)
Teilnachlaß Sanden
(Briefwechsel mit Joachim Graf zu Bernstorff)
Teilnachlaß Dr. Knoop:
Konvolut mit Feldpostbriefen
6. Schulgemeindeprotokolle
Protokollbuch der Schulgemeinde
Gandersheim, ab Ostern 1929 Schulgemeinde auf Gut Marienau:
27.11.1928 – 01.02.1937
7. Akten
Allgemeine Schulakten: Erlasse
/ Schulverwaltungsblätter; Briefwechsel mit der Schulbehörde
Grundbuchakten (Auswahl als
Fotokopie)
Übergang Bondy – Knoop
(1937 / 38)
"Verstaatlichung": Korrespondenz
/ Gutachten (12.11.42 – 29.6.44 – 11.7.45)
Akten der Wirtschaftsprüfung
/ Korrespondenz (1938–50)
Rundbriefe an die Eltern
(1937–90)
Rückkaufverhandlungen
von Max Bondy: Korrespondenz nach 1945
Wiedergutmachungsverhandlungen
(1951–53)
Akten a.d. Bestand Prof.
Vogel (Vorstand des Trägervereins)
Akten des FFM aus der Gründungsphase
(ab 1962)
8. Baupläne
Aufteilungsplan für
das Gut Marienau (1928) / Duplikat vom Grundbuchamt
Umbaupläne "Vom Gut
zur Schule" (Steindrucke der Architekten Gerson) 1928
Pläne vom Gesamtgelände
Gesamtbauplanung von Martin
Kirchner (1966) u.a.
9. Medien
Fotos und Fotoalben (noch
weitgehend ungeordnet)
Filme in oder über Marienau
(z.T. inzwischen auf Video)
Toncassetten: Mitschnitte
von Radiosendungen, Interviews, Reden und Ansprachen auf
Schulveranstaltungen
Videos: Überspielungen
von historischem Filmmaterial; Mitschnitte von Sendungen, in denen die
Schule
Marienau Thema ist / war;
Mitschnitte von Schulveranstaltungen
10. Zeitungsartikel / Presseberichte
Berichte und Notizen zu Ereignissen
in der Schule Marienau (seit 1959)
11. Schulen von Max und Gertrud
Bondy im Exil (Gland / Schweiz [1936–39] und
Windsor-Mountain-School
[1939-41 in Windsor / Vermont; 1941–44 in Manchester / Vermont; 1944–75
in Lenox / Mass.])
Prospekte und Schulzeitschriften,
Jahrbücher, Publikationen von Max und Gertrud Bondy, Artikel in
Zeitungen und Zeitschriften,
zahlreiche Fotos u.a.
12. Andere Landerziehungsheime
/ Freie Schulen / Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime
Schulzeitschriften, Schulprospekte,
Jahrbücher, Festschriften und Einzelpublikationen Sekundärliteratur,
Zeitungsartikel zu verschiedenen
Heimen / Schulen:
Birklehof; Ecole d‘Humanité
Hermann-Lietz-Schulen; Schule Gut Honneroth; Stiftung Louisenlund;
Schule Schloß Kirchberg;
Max-Rill-Schule Reichersbeuern; Neubeuern; Nordeck; Odenwaldschule;
Schulen Schloß Salem;
Schulpforta; Stiftung Schondorf am Ammersee; Schule am Meer; Landschulheim
am Solling; Schule Schloß
Stein; Landschulheim Steinmühle; Urspringschule; Zinzendorf-Gymnasium
u.a.
Das Archiv der Schule Marienau
ist nach Terminabsprache zugänglich. Dort sind auch
Detailinformationen zu den Beständen
möglich.
Kontaktadresse: Barbara Kersken,
Schule Marienau – Archiv –, 21368 Dahlem Marienau
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