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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Miller-Kipp, Gisela
Titel: Jahrestagung der Sektion Historische Bildungsforschung vom 19.-22. September 1999. Das öffentliche Bildungswesen - Historische Entwicklung, gesellschaftliche Funktion und pädagogischer Streit.
Erscheinungsjahr: 1999
zusätzl. Angaben zum Autor: Heinrich-Heine Universität, Erziehungswissenschaftliches Institut
Text des Beitrages:

 
Die Sektion Historische Bildungsforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) hielt ihre Jahrestagung 1999 in der TU Dresden ab. Sie tagte vom 19. bis zum 21. September über "Das öffentliche Bildungswesen - Historische Entwicklung, gesellschaftliche Funktion und pädagogischer Streit". Damit wurden Geschichte und Geschichtsschreibung eines gesellschaftlichen Sektors thematisiert, in dem Pädagogik und Politik sich schneiden. Die Forschungslage ist daher von Materialreichtum und einer Vielfalt der Zugänge besonders gekennzeichnet, was Spielraum für konstruktive methodologische Kontroversen einschließt. - Die Beiträge zum Thema reichten von ersten Quellenerschließungen bis zu kategoriengeleiteten Beschreibungen, wobei als Anschlußtheorie vornehmlich die Gesellschaftstheorie in der Form von Systemtheorie (à la mode Niklas Luhman) gewählt wurde.

Der erste Tagungsabschnitt galt gleich der historisch-systematischen Beschreibung sowie der gesellschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion des Bildungswesens in den vergangenen 200 Jahren. Die Beiträge dazu leisteten: Peter Drewek, Heinz-Elmar Tenorth (Berlin): "Die deutsche Schule im 19. und 20. Jahrhundert - Systemdynamik und Systemreflexion"; Peter Lundgreen (Bielefeld): "Bildung und Bürgertum"; Bernd Zymek (Münster): "Repartikularisierung versus Universalisierung - Bildungshistorische Anmerkungen zu einer Reformstrategie." - Die Diskussion dazu zeigte, daß die Super-Theorien entnommenen Kategorien zur Beschreibung der Geschichte des Bildungswesens allgemein verständlich (formuliert) sein müssen, um - ad hoc - diskursiv fruchtbar zu werden, und daß die Neigung groß ist, von der (im vorliegenden Falle: system)theoretischen Beschreibung zur (im vorliegenden Falle: system)theoretischen Interpretation überzugehen. Im übrigen wurde gegen den gesellschaftstheoretischen Ansatz der lebensgeschichtliche Ansatz geltend gemacht und daran erinnert, daß Schule nicht nur eine Systemfunktion, sondern auch gelebtes Leben sei.

Der zweite Tagungsabschnitt brachte realgeschichtliche und historisch-hermeneutische Studien. Letztere lagen auf der Ebene des - ideellen und bildungspolitischen - Diskurses. Die Beiträge im einzelnen: Brita Rang (Frankfurt a.M.): "Der Streit um den Zugang zur Universität im 18. Jahrhundert"; Wolfgang Sünkel (Erlangen): "Das Elend des pädagogischen Friderizianismus"; Hanno Schmitt (Potsdam): Schule in Brandenburg-Preußen zwischen 1806 und 1813 - Tendenzen der Verstaatlichung". - Auf Geschichtsschreibung gesehen zeigten diese Beiträge zum einen, daß Quellenbestände ihre historiographische Verwendung resp. Deutung nicht mit sich bringen, daß diese eigens ausgewiesen werden muß. Sie zeigten zum anderen, daß die noch so sorgfältige Textauslegung historischen Deutungsspielraum läßt.

Der dritte Tagungsabschnitt brachte regional- und geschlechtergeschichtliche Beiträge. Hier wurde deutlich, daß die quellengesättigte Studie noch am besten funktionale Beschreibungen stützt und historische Zuschreibungen klärt. - Die Beiträge zur Geschichte des Mädchenschulwesens zeigten, daß dessen Entwicklung weniger geschlechter-anthropologisch geleitet war, als vielmehr pragmatisch vonstatten ging. Dieser Befund wirft die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion des Geschlechterdiskurses selbst auf; mutmaßlich folgt er der gesellschaftlichen Entwicklung nach und dient vornehmlich der Konstruktion kollektiver - weiblicher - Identität. Die Beiträge zu diesem Bereich kamen von: Monika Fiegert (Osnabrück): "Im Spannungsfeld von Privatheit und Öffentlichkeit. Zum Entstehungsprozeß des elementaren Mädchenschulwesens im Fürstbistum Osnabrück."; Wiltrud Drechsel (Bremen): "Zum Übergang des stadtbremischen privaten höheren Mädchenschulwesens in die kommunale Schulträgerschaft."; Inge Hansen-Schaberg (Rotenburg): "Die höhere Mädchenschule in Preußen zwischen 1848 und 1918. Der Weg vom privaten Status zum Bestandteil des öffentlichen Bildungswesens - eine Erfolgs- oder Verlustgeschichte?"; Eva Matthes (Erlangen): "Der Beitrag Helene Langes zur Entwicklung des öffentlichen Bildungswesens in Deutschland."
Die regionalgeschichtlichen Studien zeigten vergleichbar, daß Schulentwicklung weniger programmgeleitet denn pragmatisch war. Im Hinblick auf die zu Beginn vorgetragenen systembezogenen Deutungen zeigten sie auch, wie differenziert die geschichtlichen Entwicklungen im einzelnen sind, die man da mit Systembegriffen überdacht. Als Punkt der - ideologischen - Politisierung von Schule stellt sich deren Integrationsfunktion heraus. Die Beiträge zu diesem Bereich kamen von: Helmut Engelbrecht (Wien): "Der Weg zum öffentlichen Bildungswesen in Österreich. Zielsetzungen, Hindernisse und ihre Überwindung."; Margarete Laudenbach (Würzburg): "Schulreform und Schulwirklichkeit im geistlichen Territorium. Die Beispiele Würzburg und Passau."; Siegfried Däschler-Seiler (Ludwigsburg): "Auf dem Weg in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Volksschulen im Königreich Württemberg."; Frank Tosch (Potsdam): "Entwicklungsmuster gymnasialer Bildung: Zum Struktur- und Funktionswandel im höheren Knabenschulwesen der preußischen Provinz Brandenburg 1890-1937."; Christiane Griese (Berlin): Der Umgang mit Minderheiten in der öffentlichen Schule. Das Beispiel: Christliche Schülerinnen und Schüler in der Schule der DDR."

Der letzte Tagungsabschnitt differenzierte die Frage nach dem Verhältnis eben von Realität und Idealität in der Entwicklung des Bildungs- und Schulwesens. In unterschiedlich angelegten Studien wurde dem Realitätsgehalt pädagogischen Denkens, der Wirklichkeitsmacht und der Wirkmächtigkeit des pädagogischen Diskurses und der pädagogischen Wissenschaft sowie diesen konkurrierender Argumente resp. institutionellen Einflüsterungen nachgegangen. Die Beiträge zu diesem Komplex lieferten: Manfred Heinemann (Hannover): "`Endlösung` und bürgerliches Schulwesen. Zur Vernichtung des Bildungsgedankens im Nationalsozialismus."; Gerhard Kluchert (Berlin): "Von den ‚letzten Dingen` in der Schule. Dauerhaftigkeit der Argumente - Widerständigkeit der Praxis."; Werner Lesanovsky (Erfurt): "Der Einfluß der Abteilung für Erziehungswissenschaft und Jugendkunde der Erfurter Akademie gemeinnütziger Wissenschaften auf das öffentliche Bildungswesen in der Weimarer Republik."; Marnie Schlüter (Münster): "Die Aufhebung des humanistischen Bildungsideals. Eduard Spranger im Spektrum des Weimarer Konservativismus."; Friedhelm Schütte (Berlin): "Berufspädagogische und sozialpolitische Argumente zur Institutionalisierung des Systems beruflicher Bildung in Preußen-Deutschland 1870-1919."; Lothar Wigger (Vechta): "Bildungspolitische Argumente und Schulentwicklung."

Will man die Tagung im Hinblick auf Forschung zusammenfassen, so bieten sich zwei Segmente zur weiteren Bearbeitung an: 1. die Übergänge in den Schulformen mit den Fragen nach ihrer - gesellschaftlichen - Steuerung und den Schulstrategien; 2. der Zusammenhang zwischen dem pädagogischen (politisch-anthropologischen) Diskurs und der realen Schulentwicklung mit den Fragen nach der Verknüpfung oder dem ‚Andockpunkt` der Systeme von Reflexion und Gesellschaft, in welcher theoretischen Fassung immer.

Außerhalb des Forschungsdiskurses wurden auf der Tagung zwei Projekte präsentiert, und es wurde die vormoderne Erziehungsgeschichte erinnert. - Die Projekte waren: 1. das Web-Projekt HBO: "Historische Bildungsforschung online" (Dietmar Haubfleisch, Marburg; Klaus-Peter Horn, Berlin; Jörg-W. Link, Heppenheim; Christian Ritzi, Berlin); dazu berichteten Vera Lautenschläger und Christian Ritzi (Berlin) über "Pädagogische Zeitschriften und Nachschlagewerke als elektronische Dokumente im Internet". 2. gab es einen Bericht zur Edition der sämtlichen Werke Diesterwegs (Manfred Heinemann, Hannover; Ruth Hohendorf, Dresden; Sylvia Schütze, Düsseldorf; Elisabeth Gutjahr) mit einem Beitrag von Ruth Hohendorf (Dresden) über "Diesterweg und die öffentliche Schule"; hier wurde auch der inzwischen erschienene 18. Band (von projektierten 26 Bänden) dieser Ausgabe vorgelegt. - Mit einem Vortrag dazu, "Warum die voraufklärerische Geschichte der Bildung wieder ein Gegenstand der Historischen Bildungsforschung werden sollte", mahnte Erhard Wiersing (Detmold) die lange historische Perspektive an und stellte dazu eben die Arbeit des interdisziplinär besetzten Arbeitskreises Vormoderne Erziehungsgeschichte (AVE) in der Sektion für Historische Bildungsforschung vor.

Während der Jahrestagung fand zugleich die Mitgliederversammlung statt; dort wurden als Vorstand der Sektion für die Amtsperiode 1999-2001 gewählt: Prof. Uwe Sandfuchs (Dresden) als Vorsitzender (Wiederwahl) sowie Prof. Gisela Miller-Kipp (Düsseldorf; Wiederwahl) und Dr. Frank Tosch (Potsdam) als Stellvertreter; dem Beirat gehören an: Prof. Hans-Jürgen Apel (Bayreuth), PD Dr. Inge Hansen-Schaberg (Rotenburg), Dr. Klaus-Peter Horn (Berlin), HD Dr. Hans-Ulrich Musolff (Bielefeld), Prof. Hanno Schmitt (Potsdam).

Gisela Miller-Kipp

Erfassungsdatum: 06. 10. 1999
Korrekturdatum: 02. 04. 2004