Autor: | Miller-Kipp, Gisela |
Titel: | Jahrestagung der Sektion Historische Bildungsforschung vom 19.-22. September 1999. Das öffentliche Bildungswesen - Historische Entwicklung, gesellschaftliche Funktion und pädagogischer Streit. |
Erscheinungsjahr: | 1999 |
zusätzl. Angaben zum Autor: | Heinrich-Heine Universität, Erziehungswissenschaftliches Institut |
Text des Beitrages: |
Der erste Tagungsabschnitt galt gleich der historisch-systematischen Beschreibung sowie der gesellschaftsgeschichtlichen Rekonstruktion des Bildungswesens in den vergangenen 200 Jahren. Die Beiträge dazu leisteten: Peter Drewek, Heinz-Elmar Tenorth (Berlin): "Die deutsche Schule im 19. und 20. Jahrhundert - Systemdynamik und Systemreflexion"; Peter Lundgreen (Bielefeld): "Bildung und Bürgertum"; Bernd Zymek (Münster): "Repartikularisierung versus Universalisierung - Bildungshistorische Anmerkungen zu einer Reformstrategie." - Die Diskussion dazu zeigte, daß die Super-Theorien entnommenen Kategorien zur Beschreibung der Geschichte des Bildungswesens allgemein verständlich (formuliert) sein müssen, um - ad hoc - diskursiv fruchtbar zu werden, und daß die Neigung groß ist, von der (im vorliegenden Falle: system)theoretischen Beschreibung zur (im vorliegenden Falle: system)theoretischen Interpretation überzugehen. Im übrigen wurde gegen den gesellschaftstheoretischen Ansatz der lebensgeschichtliche Ansatz geltend gemacht und daran erinnert, daß Schule nicht nur eine Systemfunktion, sondern auch gelebtes Leben sei. Der zweite Tagungsabschnitt brachte realgeschichtliche und historisch-hermeneutische Studien. Letztere lagen auf der Ebene des - ideellen und bildungspolitischen - Diskurses. Die Beiträge im einzelnen: Brita Rang (Frankfurt a.M.): "Der Streit um den Zugang zur Universität im 18. Jahrhundert"; Wolfgang Sünkel (Erlangen): "Das Elend des pädagogischen Friderizianismus"; Hanno Schmitt (Potsdam): Schule in Brandenburg-Preußen zwischen 1806 und 1813 - Tendenzen der Verstaatlichung". - Auf Geschichtsschreibung gesehen zeigten diese Beiträge zum einen, daß Quellenbestände ihre historiographische Verwendung resp. Deutung nicht mit sich bringen, daß diese eigens ausgewiesen werden muß. Sie zeigten zum anderen, daß die noch so sorgfältige Textauslegung historischen Deutungsspielraum läßt. Der dritte Tagungsabschnitt
brachte regional- und geschlechtergeschichtliche Beiträge. Hier wurde
deutlich, daß die quellengesättigte Studie noch am besten funktionale
Beschreibungen stützt und historische Zuschreibungen klärt. -
Die Beiträge zur Geschichte des Mädchenschulwesens zeigten, daß
dessen Entwicklung weniger geschlechter-anthropologisch geleitet war, als
vielmehr pragmatisch vonstatten ging. Dieser Befund wirft die Frage nach
der gesellschaftlichen Funktion des Geschlechterdiskurses selbst auf; mutmaßlich
folgt er der gesellschaftlichen Entwicklung nach und dient vornehmlich
der Konstruktion kollektiver - weiblicher - Identität. Die Beiträge
zu diesem Bereich kamen von: Monika Fiegert (Osnabrück): "Im Spannungsfeld
von Privatheit und Öffentlichkeit. Zum Entstehungsprozeß des
elementaren Mädchenschulwesens im Fürstbistum Osnabrück.";
Wiltrud Drechsel (Bremen): "Zum Übergang des stadtbremischen privaten
höheren Mädchenschulwesens in die kommunale Schulträgerschaft.";
Inge Hansen-Schaberg (Rotenburg): "Die höhere Mädchenschule in
Preußen zwischen 1848 und 1918. Der Weg vom privaten Status zum Bestandteil
des öffentlichen Bildungswesens - eine Erfolgs- oder Verlustgeschichte?";
Eva Matthes (Erlangen): "Der Beitrag Helene Langes zur Entwicklung des
öffentlichen Bildungswesens in Deutschland."
Der letzte Tagungsabschnitt differenzierte die Frage nach dem Verhältnis eben von Realität und Idealität in der Entwicklung des Bildungs- und Schulwesens. In unterschiedlich angelegten Studien wurde dem Realitätsgehalt pädagogischen Denkens, der Wirklichkeitsmacht und der Wirkmächtigkeit des pädagogischen Diskurses und der pädagogischen Wissenschaft sowie diesen konkurrierender Argumente resp. institutionellen Einflüsterungen nachgegangen. Die Beiträge zu diesem Komplex lieferten: Manfred Heinemann (Hannover): "`Endlösung` und bürgerliches Schulwesen. Zur Vernichtung des Bildungsgedankens im Nationalsozialismus."; Gerhard Kluchert (Berlin): "Von den ‚letzten Dingen` in der Schule. Dauerhaftigkeit der Argumente - Widerständigkeit der Praxis."; Werner Lesanovsky (Erfurt): "Der Einfluß der Abteilung für Erziehungswissenschaft und Jugendkunde der Erfurter Akademie gemeinnütziger Wissenschaften auf das öffentliche Bildungswesen in der Weimarer Republik."; Marnie Schlüter (Münster): "Die Aufhebung des humanistischen Bildungsideals. Eduard Spranger im Spektrum des Weimarer Konservativismus."; Friedhelm Schütte (Berlin): "Berufspädagogische und sozialpolitische Argumente zur Institutionalisierung des Systems beruflicher Bildung in Preußen-Deutschland 1870-1919."; Lothar Wigger (Vechta): "Bildungspolitische Argumente und Schulentwicklung." Will man die Tagung im Hinblick auf Forschung zusammenfassen, so bieten sich zwei Segmente zur weiteren Bearbeitung an: 1. die Übergänge in den Schulformen mit den Fragen nach ihrer - gesellschaftlichen - Steuerung und den Schulstrategien; 2. der Zusammenhang zwischen dem pädagogischen (politisch-anthropologischen) Diskurs und der realen Schulentwicklung mit den Fragen nach der Verknüpfung oder dem ‚Andockpunkt` der Systeme von Reflexion und Gesellschaft, in welcher theoretischen Fassung immer. Außerhalb des Forschungsdiskurses wurden auf der Tagung zwei Projekte präsentiert, und es wurde die vormoderne Erziehungsgeschichte erinnert. - Die Projekte waren: 1. das Web-Projekt HBO: "Historische Bildungsforschung online" (Dietmar Haubfleisch, Marburg; Klaus-Peter Horn, Berlin; Jörg-W. Link, Heppenheim; Christian Ritzi, Berlin); dazu berichteten Vera Lautenschläger und Christian Ritzi (Berlin) über "Pädagogische Zeitschriften und Nachschlagewerke als elektronische Dokumente im Internet". 2. gab es einen Bericht zur Edition der sämtlichen Werke Diesterwegs (Manfred Heinemann, Hannover; Ruth Hohendorf, Dresden; Sylvia Schütze, Düsseldorf; Elisabeth Gutjahr) mit einem Beitrag von Ruth Hohendorf (Dresden) über "Diesterweg und die öffentliche Schule"; hier wurde auch der inzwischen erschienene 18. Band (von projektierten 26 Bänden) dieser Ausgabe vorgelegt. - Mit einem Vortrag dazu, "Warum die voraufklärerische Geschichte der Bildung wieder ein Gegenstand der Historischen Bildungsforschung werden sollte", mahnte Erhard Wiersing (Detmold) die lange historische Perspektive an und stellte dazu eben die Arbeit des interdisziplinär besetzten Arbeitskreises Vormoderne Erziehungsgeschichte (AVE) in der Sektion für Historische Bildungsforschung vor. Während der Jahrestagung fand zugleich die Mitgliederversammlung statt; dort wurden als Vorstand der Sektion für die Amtsperiode 1999-2001 gewählt: Prof. Uwe Sandfuchs (Dresden) als Vorsitzender (Wiederwahl) sowie Prof. Gisela Miller-Kipp (Düsseldorf; Wiederwahl) und Dr. Frank Tosch (Potsdam) als Stellvertreter; dem Beirat gehören an: Prof. Hans-Jürgen Apel (Bayreuth), PD Dr. Inge Hansen-Schaberg (Rotenburg), Dr. Klaus-Peter Horn (Berlin), HD Dr. Hans-Ulrich Musolff (Bielefeld), Prof. Hanno Schmitt (Potsdam). Gisela Miller-Kipp |
Erfassungsdatum: | 06. 10. 1999 |
Korrekturdatum: | 02. 04. 2004 |