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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Kampmann, Christoph
Titel: Prinz Albert und die Entwicklung der Bildung in England und Deutschland im 19. Jahrhundert
Erscheinungsjahr: 2000
Text des Beitrages:
 

[AHF] Vom 10. bis zum 12. September 1999 fand in Coburg die 18. Konferenz der Prinz-Albert Gesellschaft statt, die in Zusammenarbeit mit der Victorian Society veranstaltet wurde. In seiner Eröffnung erläuterte der Vorsitzende der Prinz-Albert-Gesellschaft, Franz BOSBACH (Bayreuth), daß sich die Konferenz als Fortsetzung der Tagung beider Gesellschaften verstehe, die im Juli 1999 in London stattgefunden hatte. Nachdem diese sich vornehmlich mit der Entwicklung der schulischen Bildung in beiden Ländern während des viktorianischen Zeitalters befaßt habe, stehe im Mittelpunkt der Coburger Konferenz nun die universitäre Bildung.
In einer ersten Sektion wurden die Grundlinien der universitären Entwicklung in beiden Ländern betrachtet. Dabei stellte Asa BRIGGS (London) in seinem Vortrag "Politics and Reform: The British Universities" heraus, daß sich das britische Universitätssystem im Verlauf des 19. Jahrhunderts grundlegend gewandelt hätte. Entscheidend sei vor allem der Prozeß der Säkularisierung der Universitäten - konkret: der Loslösung der Universitäten von der anglikanischen Staatskirche - gewesen, der sich zwischen 1840 und 1900 vollzogen habe. Für BRIGGS waren es weniger die Universitäten selbst, die für diese Änderungen verantwortlich waren. Die entscheidenden Anstöße seien vielmehr vom Wandel des gesellschaftlichen Umfelds ausgegangen, das die Universitäten vor völlig neue Anforderungen gestellt habe. So habe die akademische Abschlußprüfung (als gesellschaftlich immer bedeutsamer werdender) Nachweis der erworbenen Fähigkeiten, die bis zum Beginn des 19. Jahrhundert kaum eine Rolle gespielt habe, eine Schlüsselbedeutung im universitären Leben erlangt.
Die Veränderungen, die die deutschen Universitäten zur gleichen Zeit erlebten, waren nicht minder radikal, wie Rainer A. MÜLLER (Eichstätt) in seinem Vortrag "Vom Ideal der ‚Humboldt-Universität` zur Praxis des ‚wissenschaftlichen Großbetriebs`. Die Entwicklung des deutschen Hochschulwesens im 19. Jahrhundert" darlegte. An die Stelle der tradierten "Vorlesungsuniversität" mit "minderem Wissenschaftsbetrieb" sei im 19. Jahrhundert die "Arbeitsuniversität" getreten, die nun die Einheit von Lehre und Forschung propagiert habe. Charakteristika dieser Arbeitsuniversität sei die Ausdifferenzierung der Disziplinen- und Fächerstruktur (auch im Bereich der technischen Fächer), der Seminar-Unterricht und die herausragende Stellung der Lehrstuhlinhaber gewesen. Als ‚Ordinarienuniversität` sei diese deutsche Form der Universität bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zum weltweit bewunderten und vielerorts kopierten Universitätstypus geworden.
Die folgende Sektion "Prinz Albert und die Universität" wurde mit einem Vortrag von Thomas BECKER (Bonn) eröffnet, der sich mit "Prinz Albert als Student in Bonn" beschäftigte. BECKER konnte anhand gründlicher archivalischer Studien herausstellen, daß Prinz ALBERTs Studienaufenthalt in Bonn in zweifacher Hinsicht ungewöhnlich war. Zum einen war allein schon die Wahl des Studienortes Bonn durch die Coburger Prinzen ALBERT und ERNST keine Selbstverständlichkeit. Es gab zwar - wie BECKER zeigen konnte - relativ viele Adlige unter den Bonner Studenten; daß Angehörige regierender Häuser in Bonn studierten, war jedoch bis zu den Studienzeiten der Coburger Prinzen ungewöhnlich: Bonn wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - möglicherweise unter dem Einfluß der Coburger Prinzen - zur "Prinzenuniversität". Zum anderen hielt Prinz ALBERT als Student relativ große Distanz zum üblichen studentischen Leben in Bonn, das von den Landsmannschaften und Corps geprägt war und von BECKER anschaulich beschrieben wurde. Stattdessen widmete er sich intensiv seinen Studien und erwies sich dabei im übrigen als sehr genauer und kritischer Beobachter seiner akademischen Lehrer.
In seinem Vortrag "Prince Albert and Cambridge University" beleuchtete Derek BEALES (Cambridge) einen anderen wichtigen Aspekt des Verhältnisses von Prinz und der Universität, nämlich seine Zeit als Kanzler der Universität Cambridge. Nachdem ALBERT wohl eher als Zufalls- und Verlegenheitskandidat zum Kanzler gewählt worden sei, habe der Prinz wenigstens zu Beginn seiner Amtszeit enormes Interesse an der Universität und großen Reformeifer gezeigt. BEALES stellte heraus, auf welche Widerstände der Prinz bei seinen Bemühungen stieß. Sie trugen dazu bei, daß er sich mit seinen Ideen nur teilweise durchsetzen konnte und seine Position - auch nach seinem Tod - in Cambridge nicht ganz unumstritten war.
Mit der dritten Sektion über Geisteswissenschaften wandte sich die Tagung den Wissenschaftskontakten zwischen Großbritannien und Deutschland im Viktorianischen Zeitalter zu. In seinem Vortrag über "Hegel und die Philosophie des Common Law" stellte Julian ROBERTS (München) heraus, daß es zum Teil eindrucksvolle Parallelen zwischen den Vorstellungen von Vertretern des angelsächsischen Common Law und verschiedenen Denkansätzen HEGELs gegeben habe; dieser Befund sei um so erstaunlicher, als eine direkte Beeinflussung HEGELs durch Vertreter des englischen Common Law nicht nachweisbar sei. In mancherlei Hinsicht könne HEGELs Philosophie - so ROBERTS - als idealer philosophischer Überbau des englischen Common Law gelten.
Patrick BAHNERS (Frankfurt am Main) lenkte den Blick auf die Rezeptionsgeschichte des deutschen Historismus im Großbritannien des 19. Jahrhunderts. Einer der Gründe für das enorme Interesse englischer Gelehrtenkreise an der deutschen Geschichtsschreibung, etwa jener Niebuhrs, war nach Bahners Einschätzung, daß man sie - gerade in freidenkerisch orientierten Kreisen - für Musterbeispiele von wissenschaftlicher Vorurteilslosigkeit und gedanklicher Konsequenz hielt.
Wie naturwissenschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien aussehen konnten, wurde von Olaf BREIDBACH (Jena) und Marc FINLAY (Savannah) in zwei Vorträgen exemplarisch dargelegt. Breidbach zeigte in seinem Vortrag "`Evolution` in the 19th century remarks on the history of German-British / British-German relations" den bemerkenswerten Prozeß der Rezeption des Darwinismus in Deutschland, die bekanntlich eng mit der Person des Zoologen Ernst HAECKEL verbunden ist. Breidbach stellte dabei heraus, wie gerade die deutsche Physiologie als eine der biologischen Denkschulen - und zwar eine, in der Deutschland eine Führungsrolle einnahm - sich durch die Beschäftigung mit DARWIN in der zweiten Hälfte veränderte und in einer Zeit, in der deutsch-britischer Wissenschaftsaustausch noch nicht selbstverständlich war, enge Beziehungen zu Großbritannien aufbaute. Anschließend erläuterte Mark R. FINLAY (Savannah) in seinem Vortrag "German-British Relations in the History of Nineteenth-Century Chemistry: Personal Friendships and International Rivalries", daß die deutsch-englischen Naturwissenschaftskontakte gerade in einem Bereich besonders ausgeprägt waren, der für die industrielle Entwicklung beider Länder eine entscheidende Rolle spielte, der Agrarchemie. Dies lag nicht zuletzt an den vorzüglichen Englandkontakten Justus Liebigs, die in dem Vortrag erläutert wurden. FINLAY legte freilich Wert darauf herauszustellen, daß die englisch-deutschen Naturwissenschaftskontakte nicht nur von Harmonie geprägt waren. Ausgerechnet Justus Liebig selbst und einer seiner wichtigsten wissenschaftlichen Ansprechpartner in England, Joseph Henry GILBERT, trugen zu einem späteren Zeitpunkt nämlich scharfe Kontroversen aus, in denen mit zunehmender Heftigkeit der Auseinandersetzungen auch gegenseitige, nationalistisch geprägte Vorurteile, Stereotypen und Unterstellungen zum Ausdruck kamen.
In einer weiteren Sektion schließlich ging es um die literaturwissenschaftlichen Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert. Sie wurden beispielhaft anhand der Goethe-Rezeption in Großbritannien und der Shakespeare-Rezeption in Deutschland erläutert. Gerlinde RÖDER-BULTON (Guildford / Surrey) legte in ihrem Vortrag "Goethe in Great Britain" anschaulich dar, daß Goethes Werk in England zu Lebzeiten des Dichters - abgesehen von einer kurzen Periode in den 1780er Jahren - in England kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Erst durch CARLYLE seit Ende der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts sei die interessierte (gelehrte) Welt auf GOETHE aufmerksam gemacht worden und habe sich seit den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts in wachsendem Maße mit GOETHE auseinandergesetzt. Die Gründung der bis heute florierenden englischen Goethegesellschaft im Jahre 1886 bildete den Schlußpunkt dieser Entwicklung.
Sabine VOLK-BIRKE (Halle) legte in ihrem Vortrag "Shakespeare in Deutschland" im Anschluß dar, welch immensen Einfluß die Beschäftigung mit dem Werk dieses Dichters auf die Bildung eines anerkannten Universitätsfachs "Englische Philologie" in Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts gehabt habe. Es hing mit der enormen Reputation dieses Dichters in Deutschland zusammen, daß sich die Shakespeare-Gesellschaft erfolgreich für die Errichtung von Lehrstühlen der englischen Philologie, der Verstärkung des gymnasialen Englischunterrichts und die Gründung wichtiger wissenschaftlicher Periodika der englischen Philologie einsetzen konnte.
Reform und Expansion: dies waren - wie in den Vorträgen und den begleitenden lebhaften Diskussionen deutlich wurde -.die charakteristischen Aspekte des Wandels des englischen und des deutschen Universitätssystems im Zeitalter Prinz ALBERTs. In seinem Schlußvortrag griff Keith ROBBINS (Lampeter) diese historischen Bezüge auf und fragte nach dem, was heute in Großbritannien mit dem allgegenwärtigen Schlagwort der "University Reform" verbunden wird. Er zeigte deutlich, daß von Seiten der Politik nun -nach der Expansionsphase der 60er Jahre - sehr widersprüchliche Anforderungen an die Universitäten gestellt würden: Man werde einerseits nicht müde, nach "elite institutions" in Forschung und Lehre zu rufen, forciere aber zugleich die Öffnung der Universitäten für möglichst viele, fordere also "Spitzenforschung" und "Spitzenlehre" bei ständig rigideren Ausgabebegrenzungen und sinkenden Mittelzuweisungen. Den deutschen Teilnehmern kam vieles von dem, was Robbins zur schwierigen aktuellen Lage der britischen Universitäten ausführte, trotz der völlig andersartigen universitären Tradition nur allzu bekannt vor. Es wurde so deutlich, daß die mannigfachen Parallelen und Berührungspunkte, die während des Kolloquiums zwischen den deutschen und englischen Universitäten der Zeit Prinz ALBERTs in zum Teil verblüffender Weise deutlich geworden waren, sich bis in die Gegenwart fortsetzten. Das Kolloquium konnte so zeigen, wie sehr die Geschichtsschreibung der Universitäten, aber auch die aktuelle Hochschulpolitik davon profitieren können, sich mit den Erfahrungen des jeweils anderen Landes auf diesem Feld auseinanderzusetzen.
Die Ergebnisse des Kolloquiums werden im Band 17 der Prinz-Albert-Studien (Verlag Saur, München) dokumentiert werden.

Erfassungsdatum: 08. 06. 2000
Korrekturdatum: 02. 04. 2004