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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Miller-Kipp, Gisela
Titel: Fortschritt und Rückschritt, Irrwege und Hoffnungen - Erziehung und Bildung im historischen Umbruch
Erscheinungsjahr: 2001
zusätzl. Angaben zum Autor: Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Text des Beitrages:
 

Dies ist ein resümierender Bericht über das o.a. Symposion. Es präsentierte unter dem zitierten Titel beispielhaft fünf Forschungsstudien, mit denen das Kongressthema "Bildung und Erziehung in Übergangsgesellschaften" erziehungshistorisch aufgeschlossen wurde. Die ausgewählte Präsentation verdankt sich der besonderen Arbeitslage der historischen Bildungsforschung gegenüber diesem Kongressthema: Der mit "Bildung und Erziehung in Übergangsgesellschaften" nachgefragte - problematische - Zusammenhang zwischen Bildungsprozess und Gesellschaftsprozess lässt sich in historischer Perspektive besonders gut beobachten und ist in der historischen Bildungsforschung in Fülle rekonstruiert, beschrieben und analysiert worden. Dabei sind die Forschungsansätze ideengeschichtlich wie sozial- und strukturgeschichtlich ausgerichtet, liegen im ideellen wie im realen Horizont von Erziehung und Bildung. Angesichts dieser vielfältigen und ertragreichen Arbeitslage empfahl sich die Beschränkung auf neue Forschungsbeiträge mit der Konzentration auf das 20. Jahrhundert. Da die genau hierzu gehörenden Vorträge andernorts veröffentlicht werden , sind zur Kongressdokumentation an dieser Stelle alle Vorträge des Symposion systematisch vorzustellen. Das soll in einem kurzen Referat geschehen; es hält sich an die im Symposion vorgegebenen und erziehungs- und bildungshistorisch eingeübten deskriptiven Kategorien wie System und Prozess, Kontinuität, Tradition und Wandel, Traditionsbruch und Irrweg.

Prof. Dr. Johanna FORSTER (Erlangen-Nürnberg) pflegte die längste zeitliche Perspektive, um die Funktion von Erziehung in Übergangsprozessen darzustellen, nämlich die gattungsgeschichtliche ("Übergänge als Systemgröße in der Evolution von Erziehung und Bildung").
In einer längsschnittlichen und in einer querschnittlichen evolutionstheoretisch basierten Studie zeigte sie auf, wann und wie "Erziehung" in der Phylogenese des Menschen und in der Kulturevolution auftrat und dort funktionierte. - In der menschlichen Gattungsgeschichte, verfolgbar über 4,5 Millionen Jahre, liegen die beiden bekannten Bedingungen für "Erziehung": die cortikale Sonderstellung des Menschen (d.h. die Entwicklung seines Gehirns) als biologische Basis des Lernens und die lange Kindheit als dessen soziale Chance. Mit diesen beiden Bedingungen ist zugleich die Möglichkeit von "Erziehung" gegeben: Sie lasse sich, so FORSTER, in der Entwicklung des homo sapiens seit ca. 300 000 Jahren mit reichen paläoanthropologischen und paläoarchäologischen Funden belegen, und zwar: 1. als Tradierung von Kenntnissen und Fertigkeiten im Subsistenzbereich, besonders im Werkzeuggebrauch, 2. als soziales Lernen sowie als Vermittlung von Wissen im sozialen Bereich und 3. als Tradierung von Wissen und Normen im religiösen Bereich.
In den beschriebenen Formen und Funktionen wird "Erziehung" zwar auch erziehungs- und sozialwissenschaftlich begriffen, doch erscheint sie erst in der langen evolutionsgeschichtlichen Perspektive unauflösbar mit dem menschlichen Kultur- und Gesellschaftsprozeß verbunden. Von daher wächst "Erziehung" eine einzigartige historisch-anthropologische Bedeutung zu (oder wird ihr zugeschrieben), die angemessen nur als historischer Systemprozeß zu fassen ist. Für die Forschung rückt damit die Kopplung der Prozesse von Erziehung und Gesellschaft ins Zentrum der Aufmerksamkeit, wobei vom Erziehungsprozeß her gesehen besonders seine Abhängigkeit vom Kultur- und Gesellschaftsprozeß und seine Systemvariablen interessieren.
Das eine wie die anderen klärte FORSTER wiederum auf der evolutionstheoretisch montierten Forschungsbasis von Anthropologie und Archäologie sowie mit ethnologischer Forschung in einer querschnittlichen Betrachtung kultureller Diversifikation: Für diesen Prozess und damit für die gesellschaftliche Form von Erziehung seien die Parameter "Subsistenzform", "Populationsgröße" und "Komplexitätsgrad der Gesellschaft" entscheidend. So trete institutionalisierte Erziehung mit zunehmender gesellschaftlicher Komplexität auf, gleichzeitig segmentiere sich aber die vor dem tribal durchgängige Allgemeinbildung, forme privilegierte und exklusive Zugänge und Bereiche aus, mit weitreichenden sozialen und politischen Folgen.

Diese aus der Kulturevolution zu erkennende Entwicklungsrichtung von Erziehung und Bildung im Gesellschaftsprozess lässt deren gegenwärtige Systemlage schärfer erkennen - die referierte Aussage ist bildungspolitisch aktuell. Stellt man Erziehung und Bildung in den Horizont von Gattungsgeschichte und Kulturevolution, so zeigt sich ein evolutionäres Kontinuum fließender geschichtlicher Übergänge. In diesem Kontinuum läßt sich eine - oder die? - geschichtliche Entwicklungs- und Funktionslogik von Erziehung und Bildung rekonstruieren.

Als gesellschaftlicher Prozeß zwischen Vergangenheit und Zukunft kann Erziehung auch gedacht werden. Das ist im europäischen Abendland oft und klug geschehen. Prof. Dr. Johanna HOPFNER (Würzburg) suchte solches Denken als pädagogisches Denken bei SCHLEIERMACHER auf, dort insbesondere in der Vorlesung über Pädagogik aus dem Jahre 1826 ("Erhalten oder verbessern? Systematische Überlegungen zur gesellschaftlich ambivalenten Situation von Erziehung").
Verglichen mit der von FORSTER vorgelegten Perspektive rangiert dieser Beitrag sozusagen am entgegengesetzten Ende der Zeitskala, da er ein bestimmtes Denken über Erziehung punktuell fixierte. HOPFNER zeigte in einer historisch-systematischen Interpretation, dass SCHLEIERMACHER in seinen bekannten dialektischen Wendungen und Dichotomien zur Erziehung Erziehung eben als "soziales Übergangsphänomen" begreife. Die ambivalente Verortung von Erziehung zwischen den Zeiten sowie zwischen Individuum und Gesellschaft sei pädagogisch gesehen einzig angemessen. Sie bewahre Erziehung vor überzogenen gesellschaftlichen Ansprüchen wie vor eigenem gesellschaftlichen Ehrgeiz.

Von solchem Ehrgeiz aber, und damit vom Hoffen und Irren der Pädagogik, handelten die im folgenden skizzierten drei Beiträge. Sie fassten Pädagogik jeweils im historischen Moment eines politischen Systemwechsels und des Bruchs von pädagogischer Tradition - und stellten dabei ihr politisches Scheitern fest.

Prof. Dr. Christine LOST (Berlin) beschrieb Gestalt, Absicht und Tradition der pädagogischen Vorstellungen, die NADESHA ULIANOV (geb. KRUPSKAJA), die Frau LENINs, zwischen 1914 und 1917 im Schweizer Exil entwickelte ("Reformpädagogik als Staatspädagogik. Zum Konstruktionsprozeß von ‚Sowjetpädagogik`").
Diese pädagogischen Vorstellungen wurden im Verlaufe des politischen Prozesses in Rußland als "Staatspädagogik" beansprucht und im Zuge sozialistischer Staatsbildung nach 1945 rückblickend zur "neuen" oder "fortgeschrittensten" Pädagogik mythisiert. Sowohl im direkten politischen Zugriff wie auch in der pädagogischen Mythisierung sei die kritische Potenz des ursprünglichen Konzepts verloren gegangen, seien aber auch seine prinzipiellen Irrtümer und faktischen Irrwege überdeckt worden. Dazu gehörten die Unvereinbarkeit von Reform- und Staatspädagogik, die Unvereinbarkeit von politischer Unterordnung und politischer Beauftragung sowie die angenommene Wirksamkeit der konstruierten "neuen" Pädagogik außerhalb staatsozialistisch geschlossener Gesellschaften.
Die ursprüngliche Absicht und den ursprünglichen Gehalt dieser Pädagogik bei KRUPSKAJA rekonstruierte LOST aus bisher nicht veröffentlichten und erziehungshistorisch noch nicht ausgewerteten Quellen (Diarien der Bibliotheksarbeit in Bern und Zürich; dazu Briefe und Artikel aus der Exilzeit). Erkennbar wurde das Konzept einer "dritten" Pädagogik zwischen Reformpädagogik (amerikanischer und preußisch-deutscher Art) und Staatspädagogik (leninistischer Observanz). Sie versuchte eine Verbindung von neuer Arbeits- und alter Lernschule, von hohem Bildungseffekt und sozialem Ausgleich und also von Pädagogik und Politik. Am politischen Anspruch und an der politischen Beanspruchung, genauer an den ihr zugemuteten gesellschafts- bzw. staatsentwickelnden oder -gestaltenden oder -er-haltenden Aufgabe sei diese "dritte" Pädagogik gescheitert.

Zur - systemtheoretisch gefassten - Frage nach dem kritischen Punkt der Kopplung von Pädagogik und Gesellschaftsprozess gibt dieses Beispiel folgende Auskunft: ist oder erfolgt die Zuordnung und die Verbindung von Erziehung und Bildung zum Gesellschaftsprozess politisch, ist die Kopplung krisenhaft und zeichnet das Scheitern von Pädagogik vor.

Wie sich solches Scheitern lebensgeschichtlich abzeichnet, ließ der Vortrag von Prof. Dr. Johannes BILSTEIN (Düsseldorf) erkennen ("Jugendstil, Kommunismus, Reformpädagogik. Zur Analogie künstlerischer und pädagogischer Motive bei HEINRICH VOGELER").
BILSTEIN machte am Leben und Werk einer erziehungs- und gesellschaftsgeschichtlich eher randständigen Figur die argumentative Grundstruktur und den praktischen Spielraum von Reformpädagogik exemplarisch deutlich. HEINRICH VOGELER (1872-1942), Lebensreformer, Künstler vom Jugendstil bis zum Kubismus, christlicher Kommunist und kommunistischer Volkserzieher mit keinem geringeren Anspruch als dem der Welterneuerung und der Geburt des "neuen Menschen", nahm die Kunst, hier das Bild, zum pädagogischen und zum politischen Instrument. VOGELERs Bildwerk können mithin seine politisch-pädagogische Absicht und ihr Schicksal abgelesen werden. BILSTEIN tat dies und spiegelte am Leben und Werk des Künstlers zugleich den reformpädagogischen Komplex in seinen Brüchen, Widersprüchen und auch in seinen Kontinuitäten:
Aus politischer - demokratischer wie kommunistischer - Perspektive sei VOGELERs Lebensweg eine lange Folge von Irrtümern; in pädagogischer Hinsicht sei er eine Illusion, gescheitert an der politischen Absicht und Anbindung. In normativer und in ideologischer Hinsicht zeige sich freilich Kontinuität: Durchgehend begleite VOGELERs Lebensweg der Topos von der Natur als Lehrmeisterin, "Natur" bleibe eine konstant sich durchziehende Legitimationsformel und Berufungsinstanz. Durchgehend sei auch die weltanschauliche Fundierung und Bindung von Kunst und Pädagogik. Beiden fehle die Denkfigur "Autonomie".

Bezieht man diesen Befund auf das auch von LOST nachgezeichnete politische Scheitern von Pädagogik, in Sonderheit von Reformpädagogik, und sucht man dafür eine Bedingungsgröße, so könnte dies der Mangel an "Autonomie" sein. "Autonomie" wäre für Erziehung und Bildung im politischen Prozess korrektiv hinzuzudenken bzw. "Autonomie" wäre von Erziehung und Bildung zugleich mit politischer Einlassung zu reklamieren. Solche gesellschaftliche Selbstbehauptung setzt seitens der Pädagogik freilich Substanz voraus, Forschung im gesellschaftlichen Raum und einen pragmatisch fruchtbaren Wissensbestand. Nur damit wahrt sie die Chance erfolgreichen Handelns außerhalb der traditionell markierten und gefestigten pädagogischen Provinz, die Chance erfolgreicher politischer Intervention im eigenem, im pädagogischen Interesse.

Von einer mangels wissenschaftlicher Substanz verpassten historischen Handlungschance handelte der Vortrag von Hans MALMEDE (Düsseldorf). Er zeigte am Beispiel des jugendstrafrechtlichen Erziehungsgedankens, dass es der Erziehungswissenschaft nicht gelang, ein sich ihr neu öffnendes Handlungsfeld zu besetzen, da sie die dazu erforderliche Pädagogik, im vorliegenden Falle eine Kriminalpädagogik, nicht zu entwickeln vermochte ("Erziehung statt Strafe? Irrwege im Umgang mit jugendlichen Straftätern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts").
Der jugendstrafrechtliche Erziehungsgedanke wie die Kriminalpädagogik seien Merkmale des Modernisierungsprozesses in Deutschland, der in kriminalpolitischer und strafrechtlicher Hinsicht auf möglichst effiziente "Verbrechensbekämpfung" zielte. Besonders problematisch geworden und besonderes problematisiert worden sei dabei die Jugendkriminalität. Für sie sei am Beginn des 20. Jahrhunderts die Devise "Erziehung statt Strafe" formuliert worden, die sich im ersten Jugendgerichtsgesetz (JGG) von 1923 durchgesetzt habe, weswegen es auch als "kopernikanische Wendung auf dem Gebiet der deutschen Rechtsentwicklung" gefeiert worden sei. Heute dagegen stehe der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht in massiver Kritik, und der 1923 eingeschlagene Weg stehe zur Revision an. Nicht nur der innenpolitische Stammtisch, auch Juristen und Kriminologen forderten, jugendliche Straftäter wieder allein der Justiz zu überlassen; sie plädierten für weniger Pädagogik im Jugendstrafrechtsverfahren, ja, sie wiesen die "Einmischung von Pädagogik in das (Jugend-)kriminalrecht" laut zurück.
Dies sei vor allem auch ein Versagen von Pädagogik. Ihr sei es nicht gelungen, sich als Grundwissenschaft der Jugendstrafrechtspflege zu etablieren, d.h. eine Kriminalpädagogik zu entwickeln, ein empirisch fundiertes, pädagogisch stimmiges und gesellschaftlich überzeugendes Konzept zur Erziehung jugendlicher Straftäter oder, im Vorfeld dessen, zur Verhütung von Jugendkriminalität. Die von den Jugendjuristen und der Jugendgerichtsbarkeit in den 20er Jahren hinzugezogenen Pädagogen (Foerster, Nohl, Fischer) hätten sich auf einen Erziehungsgedanken als funktionalen Bestandteil eines kriminalpolitischen Zukunftsversprechens im sozialdarwinistischen Geiste eingelassen. Pädagogisch eingekleideter Sozialdarwinismus kontinuiere im deutschen JGG (von 1923 über 1943 bis zum 3. und derzeit letzten JGG von 1953). Dies sei aber die Denkungsart, die Jugendstrafrechtler und Kriminologen unter sich pflegten, weswegen sie sich die allgemein- und die kriminalpädagogischen Fragen des JGG gleich selbst beantworten könnten und das aus naheliegenden Gründen gesellschaftlicher Konkurrenz auch lieber täten bzw. getan hätten.

Dieser Befund lässt sich unschwer auf eine aktuelle gesellschaftliche Lage von Erziehung, Bildung und Erziehungswissenschaft beziehen. Sie werden für den sozialpolitischen Reparaturbetrieb beansprucht und zugleich bildungspolitisches als Abbruchunternehmen behandelt. Daher erlaubt sich die Referentin, die Vorträge des Symposions pragmatisch zu resümieren: scientia paedagogica, si rem politicam agis, age tua potestate.

Erfassungsdatum: 06. 04. 2001
Korrekturdatum: 02. 04. 2004