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Dies ist ein resümierender
Bericht über das o.a. Symposion. Es präsentierte unter dem zitierten
Titel beispielhaft fünf Forschungsstudien, mit denen das Kongressthema
"Bildung und Erziehung in Übergangsgesellschaften" erziehungshistorisch
aufgeschlossen wurde. Die ausgewählte Präsentation verdankt sich
der besonderen Arbeitslage der historischen Bildungsforschung gegenüber
diesem Kongressthema: Der mit "Bildung und Erziehung in Übergangsgesellschaften"
nachgefragte - problematische - Zusammenhang zwischen Bildungsprozess und
Gesellschaftsprozess lässt sich in historischer Perspektive besonders
gut beobachten und ist in der historischen Bildungsforschung in Fülle
rekonstruiert, beschrieben und analysiert worden. Dabei sind die Forschungsansätze
ideengeschichtlich wie sozial- und strukturgeschichtlich ausgerichtet,
liegen im ideellen wie im realen Horizont von Erziehung und Bildung. Angesichts
dieser vielfältigen und ertragreichen Arbeitslage empfahl sich die
Beschränkung auf neue Forschungsbeiträge mit der Konzentration
auf das 20. Jahrhundert. Da die genau hierzu gehörenden Vorträge
andernorts veröffentlicht werden , sind zur Kongressdokumentation
an dieser Stelle alle Vorträge des Symposion systematisch vorzustellen.
Das soll in einem kurzen Referat geschehen; es hält sich an die im
Symposion vorgegebenen und erziehungs- und bildungshistorisch eingeübten
deskriptiven Kategorien wie System und Prozess, Kontinuität, Tradition
und Wandel, Traditionsbruch und Irrweg.
Prof. Dr. Johanna FORSTER
(Erlangen-Nürnberg) pflegte die längste zeitliche Perspektive,
um die Funktion von Erziehung in Übergangsprozessen darzustellen,
nämlich die gattungsgeschichtliche ("Übergänge als Systemgröße
in der Evolution von Erziehung und Bildung").
In einer längsschnittlichen
und in einer querschnittlichen evolutionstheoretisch basierten Studie zeigte
sie auf, wann und wie "Erziehung" in der Phylogenese des Menschen und in
der Kulturevolution auftrat und dort funktionierte. - In der menschlichen
Gattungsgeschichte, verfolgbar über 4,5 Millionen Jahre, liegen die
beiden bekannten Bedingungen für "Erziehung": die cortikale Sonderstellung
des Menschen (d.h. die Entwicklung seines Gehirns) als biologische Basis
des Lernens und die lange Kindheit als dessen soziale Chance. Mit diesen
beiden Bedingungen ist zugleich die Möglichkeit von "Erziehung" gegeben:
Sie lasse sich, so FORSTER, in der Entwicklung des homo sapiens seit ca.
300 000 Jahren mit reichen paläoanthropologischen und paläoarchäologischen
Funden belegen, und zwar: 1. als Tradierung von Kenntnissen und Fertigkeiten
im Subsistenzbereich, besonders im Werkzeuggebrauch, 2. als soziales Lernen
sowie als Vermittlung von Wissen im sozialen Bereich und 3. als Tradierung
von Wissen und Normen im religiösen Bereich.
In den beschriebenen Formen
und Funktionen wird "Erziehung" zwar auch erziehungs- und sozialwissenschaftlich
begriffen, doch erscheint sie erst in der langen evolutionsgeschichtlichen
Perspektive unauflösbar mit dem menschlichen Kultur- und Gesellschaftsprozeß
verbunden. Von daher wächst "Erziehung" eine einzigartige historisch-anthropologische
Bedeutung zu (oder wird ihr zugeschrieben), die angemessen nur als historischer
Systemprozeß zu fassen ist. Für die Forschung rückt damit
die Kopplung der Prozesse von Erziehung und Gesellschaft ins Zentrum der
Aufmerksamkeit, wobei vom Erziehungsprozeß her gesehen besonders
seine Abhängigkeit vom Kultur- und Gesellschaftsprozeß und seine
Systemvariablen interessieren.
Das eine wie die anderen
klärte FORSTER wiederum auf der evolutionstheoretisch montierten Forschungsbasis
von Anthropologie und Archäologie sowie mit ethnologischer Forschung
in einer querschnittlichen Betrachtung kultureller Diversifikation: Für
diesen Prozess und damit für die gesellschaftliche Form von Erziehung
seien die Parameter "Subsistenzform", "Populationsgröße" und
"Komplexitätsgrad der Gesellschaft" entscheidend. So trete institutionalisierte
Erziehung mit zunehmender gesellschaftlicher Komplexität auf, gleichzeitig
segmentiere sich aber die vor dem tribal durchgängige Allgemeinbildung,
forme privilegierte und exklusive Zugänge und Bereiche aus, mit weitreichenden
sozialen und politischen Folgen.
Diese aus der Kulturevolution
zu erkennende Entwicklungsrichtung von Erziehung und Bildung im Gesellschaftsprozess
lässt deren gegenwärtige Systemlage schärfer erkennen -
die referierte Aussage ist bildungspolitisch aktuell. Stellt man Erziehung
und Bildung in den Horizont von Gattungsgeschichte und Kulturevolution,
so zeigt sich ein evolutionäres Kontinuum fließender geschichtlicher
Übergänge. In diesem Kontinuum läßt sich eine - oder
die? - geschichtliche Entwicklungs- und Funktionslogik von Erziehung und
Bildung rekonstruieren.
Als gesellschaftlicher Prozeß
zwischen Vergangenheit und Zukunft kann Erziehung auch gedacht werden.
Das ist im europäischen Abendland oft und klug geschehen. Prof. Dr.
Johanna HOPFNER (Würzburg) suchte solches Denken als pädagogisches
Denken bei SCHLEIERMACHER auf, dort insbesondere in der Vorlesung über
Pädagogik aus dem Jahre 1826 ("Erhalten oder verbessern? Systematische
Überlegungen zur gesellschaftlich ambivalenten Situation von Erziehung").
Verglichen mit der von FORSTER
vorgelegten Perspektive rangiert dieser Beitrag sozusagen am entgegengesetzten
Ende der Zeitskala, da er ein bestimmtes Denken über Erziehung punktuell
fixierte. HOPFNER zeigte in einer historisch-systematischen Interpretation,
dass SCHLEIERMACHER in seinen bekannten dialektischen Wendungen und Dichotomien
zur Erziehung Erziehung eben als "soziales Übergangsphänomen"
begreife. Die ambivalente Verortung von Erziehung zwischen den Zeiten sowie
zwischen Individuum und Gesellschaft sei pädagogisch gesehen einzig
angemessen. Sie bewahre Erziehung vor überzogenen gesellschaftlichen
Ansprüchen wie vor eigenem gesellschaftlichen Ehrgeiz.
Von solchem Ehrgeiz aber,
und damit vom Hoffen und Irren der Pädagogik, handelten die im folgenden
skizzierten drei Beiträge. Sie fassten Pädagogik jeweils im historischen
Moment eines politischen Systemwechsels und des Bruchs von pädagogischer
Tradition - und stellten dabei ihr politisches Scheitern fest.
Prof. Dr. Christine LOST
(Berlin) beschrieb Gestalt, Absicht und Tradition der pädagogischen
Vorstellungen, die NADESHA ULIANOV (geb. KRUPSKAJA), die Frau LENINs, zwischen
1914 und 1917 im Schweizer Exil entwickelte ("Reformpädagogik als
Staatspädagogik. Zum Konstruktionsprozeß von ‚Sowjetpädagogik`").
Diese pädagogischen
Vorstellungen wurden im Verlaufe des politischen Prozesses in Rußland
als "Staatspädagogik" beansprucht und im Zuge sozialistischer Staatsbildung
nach 1945 rückblickend zur "neuen" oder "fortgeschrittensten" Pädagogik
mythisiert. Sowohl im direkten politischen Zugriff wie auch in der pädagogischen
Mythisierung sei die kritische Potenz des ursprünglichen Konzepts
verloren gegangen, seien aber auch seine prinzipiellen Irrtümer und
faktischen Irrwege überdeckt worden. Dazu gehörten die Unvereinbarkeit
von Reform- und Staatspädagogik, die Unvereinbarkeit von politischer
Unterordnung und politischer Beauftragung sowie die angenommene Wirksamkeit
der konstruierten "neuen" Pädagogik außerhalb staatsozialistisch
geschlossener Gesellschaften.
Die ursprüngliche Absicht
und den ursprünglichen Gehalt dieser Pädagogik bei KRUPSKAJA
rekonstruierte LOST aus bisher nicht veröffentlichten und erziehungshistorisch
noch nicht ausgewerteten Quellen (Diarien der Bibliotheksarbeit in Bern
und Zürich; dazu Briefe und Artikel aus der Exilzeit). Erkennbar wurde
das Konzept einer "dritten" Pädagogik zwischen Reformpädagogik
(amerikanischer und preußisch-deutscher Art) und Staatspädagogik
(leninistischer Observanz). Sie versuchte eine Verbindung von neuer Arbeits-
und alter Lernschule, von hohem Bildungseffekt und sozialem Ausgleich und
also von Pädagogik und Politik. Am politischen Anspruch und an der
politischen Beanspruchung, genauer an den ihr zugemuteten gesellschafts-
bzw. staatsentwickelnden oder -gestaltenden oder -er-haltenden Aufgabe
sei diese "dritte" Pädagogik gescheitert.
Zur - systemtheoretisch gefassten
- Frage nach dem kritischen Punkt der Kopplung von Pädagogik und Gesellschaftsprozess
gibt dieses Beispiel folgende Auskunft: ist oder erfolgt die Zuordnung
und die Verbindung von Erziehung und Bildung zum Gesellschaftsprozess politisch,
ist die Kopplung krisenhaft und zeichnet das Scheitern von Pädagogik
vor.
Wie sich solches Scheitern
lebensgeschichtlich abzeichnet, ließ der Vortrag von Prof. Dr. Johannes
BILSTEIN (Düsseldorf) erkennen ("Jugendstil, Kommunismus, Reformpädagogik.
Zur Analogie künstlerischer und pädagogischer Motive bei HEINRICH
VOGELER").
BILSTEIN machte am Leben
und Werk einer erziehungs- und gesellschaftsgeschichtlich eher randständigen
Figur die argumentative Grundstruktur und den praktischen Spielraum von
Reformpädagogik exemplarisch deutlich. HEINRICH VOGELER (1872-1942),
Lebensreformer, Künstler vom Jugendstil bis zum Kubismus, christlicher
Kommunist und kommunistischer Volkserzieher mit keinem geringeren Anspruch
als dem der Welterneuerung und der Geburt des "neuen Menschen", nahm die
Kunst, hier das Bild, zum pädagogischen und zum politischen Instrument.
VOGELERs Bildwerk können mithin seine politisch-pädagogische
Absicht und ihr Schicksal abgelesen werden. BILSTEIN tat dies und spiegelte
am Leben und Werk des Künstlers zugleich den reformpädagogischen
Komplex in seinen Brüchen, Widersprüchen und auch in seinen Kontinuitäten:
Aus politischer - demokratischer
wie kommunistischer - Perspektive sei VOGELERs Lebensweg eine lange Folge
von Irrtümern; in pädagogischer Hinsicht sei er eine Illusion,
gescheitert an der politischen Absicht und Anbindung. In normativer und
in ideologischer Hinsicht zeige sich freilich Kontinuität: Durchgehend
begleite VOGELERs Lebensweg der Topos von der Natur als Lehrmeisterin,
"Natur" bleibe eine konstant sich durchziehende Legitimationsformel und
Berufungsinstanz. Durchgehend sei auch die weltanschauliche Fundierung
und Bindung von Kunst und Pädagogik. Beiden fehle die Denkfigur "Autonomie".
Bezieht man diesen Befund
auf das auch von LOST nachgezeichnete politische Scheitern von Pädagogik,
in Sonderheit von Reformpädagogik, und sucht man dafür eine Bedingungsgröße,
so könnte dies der Mangel an "Autonomie" sein. "Autonomie" wäre
für Erziehung und Bildung im politischen Prozess korrektiv hinzuzudenken
bzw. "Autonomie" wäre von Erziehung und Bildung zugleich mit politischer
Einlassung zu reklamieren. Solche gesellschaftliche Selbstbehauptung setzt
seitens der Pädagogik freilich Substanz voraus, Forschung im gesellschaftlichen
Raum und einen pragmatisch fruchtbaren Wissensbestand. Nur damit wahrt
sie die Chance erfolgreichen Handelns außerhalb der traditionell
markierten und gefestigten pädagogischen Provinz, die Chance erfolgreicher
politischer Intervention im eigenem, im pädagogischen Interesse.
Von einer mangels wissenschaftlicher
Substanz verpassten historischen Handlungschance handelte der Vortrag von
Hans MALMEDE (Düsseldorf). Er zeigte am Beispiel des jugendstrafrechtlichen
Erziehungsgedankens, dass es der Erziehungswissenschaft nicht gelang, ein
sich ihr neu öffnendes Handlungsfeld zu besetzen, da sie die dazu
erforderliche Pädagogik, im vorliegenden Falle eine Kriminalpädagogik,
nicht zu entwickeln vermochte ("Erziehung statt Strafe? Irrwege im Umgang
mit jugendlichen Straftätern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts").
Der jugendstrafrechtliche
Erziehungsgedanke wie die Kriminalpädagogik seien Merkmale des Modernisierungsprozesses
in Deutschland, der in kriminalpolitischer und strafrechtlicher Hinsicht
auf möglichst effiziente "Verbrechensbekämpfung" zielte. Besonders
problematisch geworden und besonderes problematisiert worden sei dabei
die Jugendkriminalität. Für sie sei am Beginn des 20. Jahrhunderts
die Devise "Erziehung statt Strafe" formuliert worden, die sich im ersten
Jugendgerichtsgesetz (JGG) von 1923 durchgesetzt habe, weswegen es auch
als "kopernikanische Wendung auf dem Gebiet der deutschen Rechtsentwicklung"
gefeiert worden sei. Heute dagegen stehe der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht
in massiver Kritik, und der 1923 eingeschlagene Weg stehe zur Revision
an. Nicht nur der innenpolitische Stammtisch, auch Juristen und Kriminologen
forderten, jugendliche Straftäter wieder allein der Justiz zu überlassen;
sie plädierten für weniger Pädagogik im Jugendstrafrechtsverfahren,
ja, sie wiesen die "Einmischung von Pädagogik in das (Jugend-)kriminalrecht"
laut zurück.
Dies sei vor allem auch
ein Versagen von Pädagogik. Ihr sei es nicht gelungen, sich als Grundwissenschaft
der Jugendstrafrechtspflege zu etablieren, d.h. eine Kriminalpädagogik
zu entwickeln, ein empirisch fundiertes, pädagogisch stimmiges und
gesellschaftlich überzeugendes Konzept zur Erziehung jugendlicher
Straftäter oder, im Vorfeld dessen, zur Verhütung von Jugendkriminalität.
Die von den Jugendjuristen und der Jugendgerichtsbarkeit in den 20er Jahren
hinzugezogenen Pädagogen (Foerster, Nohl, Fischer) hätten sich
auf einen Erziehungsgedanken als funktionalen Bestandteil eines kriminalpolitischen
Zukunftsversprechens im sozialdarwinistischen Geiste eingelassen. Pädagogisch
eingekleideter Sozialdarwinismus kontinuiere im deutschen JGG (von 1923
über 1943 bis zum 3. und derzeit letzten JGG von 1953). Dies sei aber
die Denkungsart, die Jugendstrafrechtler und Kriminologen unter sich pflegten,
weswegen sie sich die allgemein- und die kriminalpädagogischen Fragen
des JGG gleich selbst beantworten könnten und das aus naheliegenden
Gründen gesellschaftlicher Konkurrenz auch lieber täten bzw.
getan hätten.
Dieser Befund lässt
sich unschwer auf eine aktuelle gesellschaftliche Lage von Erziehung, Bildung
und Erziehungswissenschaft beziehen. Sie werden für den sozialpolitischen
Reparaturbetrieb beansprucht und zugleich bildungspolitisches als Abbruchunternehmen
behandelt. Daher erlaubt sich die Referentin, die Vorträge des Symposions
pragmatisch zu resümieren: scientia paedagogica, si rem politicam
agis, age tua potestate.
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