Text des Beitrages: |
Am 30. Januar 2002 verstarb
in Bochum Wilhelm ROEßLER, der erste Vorsitzende der 1971 eingerichteten
Historischen Kommission der DGfE (heute: Sektion für His-torische
Bildungsforschung).
Geboren am 19. Dezember
1910 in Duisburg als Sohn eines Talsperreningenieurs legte er nach einem
Studium in Leipzig, Tübingen und Bonn 1938 und 1940 in Trier (mit
einer Prüfung an einem ihm bis zum Examenstag unbekannten Gymnasium
in Düsseldorf) die Prüfungen für das Lehramt an höheren
Schulen ab - zum zweiten Mal, da Preußen die einphasige Lehrerbildung
in Sachsen nicht anerkannte. Unmittelbar danach wurde er zu den Pionieren
eingezogen. Die Promotion erfolgte während eines (von sieben) Lazarettaufenthaltes
1942 in Bonn. Die Promotionsschrift in Altgermanistik bei dem Germanisten
Naumann hielt nach 1945 der Nachprüfung stand. Eindruck machte ROEßLER
im Rahmen der Reeducation - wie vielen anderen Deutschen in der Nachkriegszeit
- ein Aufenthalt in Wilton-Park auf Einladung der britischen Besatzungsmacht.
1943 zum Studienrat ernannt
und in Bonn tätig, nahm ROEßLER von 1950-1957 die Funktion eines
Fachleiters am dortigen Studienseminar wahr. Die nebenamtliche Tätigkeit
am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Bonn wurde
1957 hauptamtlich. Bereits seit 1948 nahm ROEßLER ausgedehnte Feldforschungen
zur Situation der westdeutschen Jugend vor, die 1962 unter dem Titel: "Jugend
im Erziehungsfeld. Haltung und Verhalten der westdeutschen Jugend der Gegenwart"
veröffentlicht wurden. 30 Artikel folgten bis zu seiner Ernennung
1964 als o. Professor für Sozialpsychologie in der Abteilung für
Sozialwissenschaften, Sektion Sozialpsychologie und Sozialanthropologie,
an der neu gegründeten Ruhr-Universität. Unter seinen Publikationen
dieser Phase finden sich pädagogisch-psychologische Analysen zur Lebenslage
damaliger Jugendlicher, zum "Miterzieher Film", zur "Akzeleration", zum
"Infantilismus" und zur "seelisch-geistigen Situation", gefolgt von historisch-pädagogischen
Aufarbeitungen zur Schulgeschichte, zum Einfluss Hegels auf das Schulwesen,
zur Geschichte der Berufsschule, Familie usw. Die Habilitation erfolgte
1962 auf der Basis des Buches "Die Entstehung des modernen Erziehungswesens
in Deutschland" (1961). ROEßLER war schon in Bonn an der Aufwertung
des Berufsschullehrers und an der Einführung der Studienseminare für
die beruflichen Fachrichtungen beteiligt gewesen. Mit dem Kultusministerium
in Düsseldorf gab es nach seiner Ernennung eine langjährige Projektarbeit
zur Entwicklung des Berufsschulwesens und dessen Studienseminaren.
Auf der Basis des interdisziplinären
Studiums bei GADAMER, KÖHLER, LITT, DRIESCH-ESTERHUIS, SPRANGER u.a.
vertrat ROEßLER einen dezidiert sozialwissenschaftlichen Ansatz und
kooperierte, interdisziplinären Ansätzen vorausgreifend, mit
den neu eingerichteten Fächern Sozialmedizin und Sozialrecht. Sein
letzter öffentlicher Vortrag am 12. Januar 1987 markierte diesen Ansatz
noch einmal: "Sozialpädagogik, Sozialpsychologie, Sozialanthropologie.
Ortsbestimmung einer wissenschaftlichen Einrichtung im Grenzbereich der
Sozialwissenschaften" (Bochumer Universitätsreden H. 15, 1987). Der
1973 mit einem diesem Ansatz entsprechenden interdisziplinären Team
auf dem Paradigma der Sozialisationsforschung in der Abteilung für
Sozialwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum eingerichtete "Studiengang
Sozialpädagogik beruflicher Fachrichtung" war für Westdeutschland
neu, herausfordernd und praxisnah. ROEßLERS Auffassung nach hätte
der Studiengang in der universitären Pädagogik jener Zeit nicht
eingerichtet werden können. Die Lage des Faches Pädagogik/Erziehungswissenschaft
bestätigte ihn langfristig. In Zusammenarbeit mit pädagogischen
Fachkollegen eines großen Fachspektrums förderte er als langjähriger
Mitherausgeber die Zeitschrift "Bildung und Erziehung". Noch heute sind
ROEßLERS Artikel "Pädagogik" (Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe",
Bd. 4/1978) und "Sozialpädagogik" (Historisches Wörterbuch der
Philosophie, Bd. 9/1995) als Standardartikel zu nennen.
In den von reformerischen
Motiven getragenen Drittmittelforschungsprojekten ging es um die Realisierung
"der Werkstatt für Behinderte", die "Eingliederung der Hörgeschädigten
in die Arbeitswelt" und um die Lebenswelten geistig Behinderter, denen
er durch Anstoß der "Hilda-Heinemann-Stiftung" erstmals in Köln
eine fami-lienähnliche Unterbringung in Wohnungen eröffnen konnte.
ROEßLERS Motive dazu entstammten nicht zuletzt der eigenen Erfahrung.
Als zu 100% Kriegsversehrter hatte er nach dem Krieg eine Herunterstufung
erreicht, um wieder arbeiten zu dürfen. Bei seinem Ziel, Behinderten
den Zugang zur vollen Entwicklung ihrer jeweiligen Eigenwelt und zur vollen
Beteiligung an dem Weltgeschehen zu eröffnen, fand er potente und
kompetente Mitstreiter. Die Leistung des von ihm mitgeschaffenen zentralen
Instituts für Sozialrecht der Ruhr-Universität bei der Formulierung
des "Sozialgesetzbuches" und des "Bochumer Kommentars" dazu steht außer
Frage. Die Gründung eines interdisziplinären Instituts für
Familienforschung gelang dagegen nicht.
Mehrfach Dekan - auch in
der für die Abteilung für Sozialwissenschaft der RUB wirren Zeit
1968 -, brachte ROEßLER immer wieder die streitenden Parteien an
einen Tisch. Notfalls beriet er die Studierenden gegen die Polizeieinsätze
des damaligen Rektors Biedenkopf. Er förderte in akademischer Toleranz
und in Fortsetzung seiner pädagogischen Erfahrungen aus der Jugendbewegung
- bei klarem eigenem Stand-punkt zum Unverständnis so mancher - selbst
akademische Opposition bis zur Pro-motion, sofern sie wissenschaftlich
argumentierte. Seine "Prüfungsgespräche" auf dem hohen Niveau
eines umfassend belesenen Sozialwissenschaftlers werden den Beteiligten
unvergesslich sein.
ROEßLER gehörte
der Generation an, die von dem Erlebnis der Jugendbewegung, dem Freiwilligen
Arbeitsdienst und dem Erleben der Kameradschaft geprägt war. Die zweite
Haupterfahrung war der auch ihn gesundheitlich schädigende Krieg.
Mit seinen wissenschaftlichen Reflexionen, die von einer Nordlandexpedition
bei den Eskimos als Student bis hin zu den Treffen mit den "Großen"
des Fachs reichten, konnte er seine Zuhörer in den Bann schlagen.
Geschichte, für ihn ein Ergebnis "arbeitender Geselligkeit", war gelebte,
aufgearbeitete "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", Bewusstseins- und
Generationengeschichte, Geschichte des "ganzen Hauses", der Institutionen
und der professionellen Berufe. Resignativ bezeichnete er sich nicht selten
als "Faktotum", als Gelehrten ohne Zukunft und konnte sich dennoch gleichzeitig
sozialreformerisch vorwärtsweisend äußern. Viele seiner
Ideen wurden in den Heften der Zeitschrift "Bildung und Erziehung", deren
Mitherausgeber er seit den Zeiten des Reformpädagogen Franz HILKER
war, realisiert.
ROEßLER zeigte Emotionalität
und personenbindendes Engagement. Er vermied die unnahbare preußische
Strenge seines langjährigen Chefs Theodor LITT. Aus der Erfahrung
des Untergangs der bürgerlichen Lebenswelten seiner Generation und
der Anstrengung des eigenen akademischen Werdegangs gewährte er seinen
Assistenten eine kritisch begleitete Gestaltungsfreiheit, förderte
die "Eigenwelten" der Mitarbeiter, schickte sie in die Praxisfelder und
ließ jeden verheißungsvollen theoretischen oder empirischen
Ansatz in den Oberseminaren kritisch diskutieren. Spannungen und Reibungen
waren dabei erwartete und erwünschte Begleitmomente. Diskurse waren
Arbeit.
Die "Historische Kommission"
verdankt ihrem Vorsitzendem von 1971-1980 die Periode des Aufschwungs.
Eine Ehrenmitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft
wurde ROEßLER nach seiner Emeritierung vergeblich angetragen. Mit
Ausnahme eines Ehrensymposiums "seiner" Fakultät für Sozialwissenschaft,
hielt er von Ehrungen wenig. Hinsichtlich der Vergänglichkeit des
Tuns als Wissenschaftler hatte er wie viele seiner Generation wenig Illusionen.
|