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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Wiegmann, Ulrich
Titel: Wer kennt noch Walter Schmidt? - Ein Bericht über die 50-Jahrfeier der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft nebst einer Annotation ihrer Beiträge im Jubiläumsheft.
Erscheinungsjahr: 2002
zusätzl. Angaben zum Autor: Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Forschungsstelle Berlin
Text des Beitrages:
 

Nikolaustag 2002, ein Freitag, 20.00 Uhr im Gropiusbau - gegenüber des Berliner Abgeordnetenhauses, inmitten des hauptstädtischen Zentrums. Ganz in der Nähe trennte die Mauer vor zwei Jahrzehnten die damals hier ansässige und durch Helmut König geleitete Arbeitsstelle für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte von der westlichen Welt. 
Der Kinosaal war gut gefüllt. Die Gäste - zumeist ältere Herren, ansonsten gut durchmischt. Manchen glaubte man irgendwann schon einmal gesehen zu haben. 
Das Jubiläum, das hier gefeiert wurde, sucht seinesgleichen. Eine in der inzwischen längst untergegangenen anderen deutschen Republik gegründete wissenschaftliche Monatsschrift ist ein halbes Jahrhundert alt geworden. Sie hat die so genannte Wende um 12 Jahre überlebt.
Würde es sich um eine naturwissenschaftliche Zeitschrift handeln, dann hielte das Erstaunen sich gewiss in Grenzen. Indes beging man hier den 50. Jahrestag der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG). 
Starredner war Wolfgang Thierse. Gern gekommen sei er. Aus seinem Mund klang das glaubwürdig. Der Anlass bot ihm Gelegenheit, grundsätzlich Kritisches zu sagen über die Legitimitätsfunktion so genannter marxistisch-leninistischer Geschichtswissenschaft in der zweiten deutschen Diktatur des vergangenen Jahrhunderts. Aber er anerkannte auch die Arbeit solcher Historiker wie Fritz Klein, die nie in Frage gestanden hätten. Die Geschichte der ZfG in der neuen Bundesrepublik sieht er als ebenso bemerkenswerten wie seltenen Prozess des Aufeinanderzugehens ost- und westdeutscher Sozialwissenschaftler, schmerzlich durchaus für die Einen, nicht gerade unkompliziert auch für die Anderen. Der Beifall für seine Rede war erwartungsgemäß geteilt, wenngleich nicht strikt. Auch im Falle des etwas kürzeren Applaus’ blieb dieser anerkennend freundlich. 
Fritz Klein, in den Gründungsjahren der Zeitschrift ebenso wie bei ihrer Fortsetzung nach dem Ende der DDR Mitglied der Redaktion bzw. Mitherausgeber, sprach anschließend über die ersten Jahre. Eine sich auf Marx berufene Geschichtswissenschaft habe bis 1933 kaum Gehör gefunden. In der DDR sollte sie ein Forum erhalten. Die erste Ausgabe erschien aufwendig mit der Nachricht vom Tode Stalins. Dies behielt Symbolkraft. 
Wolfgang Benz, von altbundesdeutscher Seite prominenter Mitherausgeber seit Mitte der neunziger Jahre, berichtete über die anhaltenden Schwierigkeiten, eine Zeitschrift am Leben zu erhalten und ihr einen Platz im Diskurs zu verschaffen, deren Beiträge im Westen über Jahrzehnte häufig als kurios belächelt und nur selten als Wissenschaft akzeptiert wurden. Sein Dank galt insbesondere dem Redakteur und Verleger Friedrich Veitl, dem er hauptsächlich das Verdienst zuschrieb, die Zeitschrift in die Gegenwart geführt zu haben, auch wenn manch ehemaliger Historiker aus der DDR sie als in den Westen verschleppt empfunden haben mag.
Mindesten einer dieser zutiefst Verbitterten war auch an diesem Abend anwesend. Als Benz sich zustimmend über visionäre Elemente der marxistisch-leninistischen Doktrin äußerte, wollte jener mit seinem störenden Zuruf Menschlichkeit auch für die Stasi reklamieren. Er blieb allein damit und gab fortan Ruhe.
Das kulturelle Rahmenprogramm, das Benz gekonnt moderierte, erheiterte und bewegte. Im Geist der reformierten Zeitschrift und daher stets um Ausgewogenheit bemüht, gab es Manches aus Ost und West zu hören und zu sehen, was nachdenklich stimmte: ein zupackender, hemdsärmliger Walter Ulbricht, ein vor der Kamera völlig verunsicherter und desorientierter Franz Josef Strauß, Rudi Dutschke in revolutionär-pathetischer Rede, das vom Erich-Weinert-Ensemble professionell vorgetragene schreckliche Lied von der Grenze, das die Stimmung der Zuhörer in der Spannung zwischen Tragik und Komik nicht zur Ruhe kommen ließ, das rituelle Säbelrasseln einer Ehrenkompanie des Bundeskanzlers Kiesinger, das geschichtlichen Traditionsbestand dokumentierte. Ein gelungener Abend.
Und Walter Schmidt? Der vorzeitige Ruheständler, ehemalige Direktor des Zentral-instituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR (1984-1990) und langjährige Vizepräsident der DDR-Historikergesellschaft war auch anwesend. Zufällig hatte er zwischen dem Berichterstatter und Kurt Pätzold Platz gefunden, war also - wie schon einmal - ganz in meiner Nähe platziert, damals, 1988 als ich stolz meinen ersten und einzigen Beitrag (über die Aussonderung jüdisch-herkünftiger Kinder aus dem öffentlichen Schulwesen nach 1933) in der DDR-intern renommierten ZfG unterbrachte. Von seinem Sitznachbarn Kurt Pätzold hatte ich seinerzeit nahezu alles über den rassistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten gelernt. Der gestrengen Zeitschriftenredaktion verdankte mein Text eine wissenschaftsstilistische Korrektur. Geschichte zieht seltsame Kreise. 
Walter Schmidt freilich hatte damals das Heft eröffnen dürfen. Man wird nicht umhin können, die gesellschaftspolitische Indienststellung seiner Auslassungen grundsätzlich zu beklagen. Doch immerhin traf seine damalige wiederholte Mahnung, sich „zur gesamten Geschichte“ zu verhalten, noch immer auf taube Ohren bei den meisten Bildungshistorikern der DDR, die sich doch lieber bildungspolitisch konform der Traditionspflege widmeten. Das hatte schon zu prinzipiellem Konflikt Anlass gegeben und war dem Ansehen der Erziehungsgeschichte in der marxistisch-leninistischen Historikerzunft durchaus abträglich geblieben. 
Zur Feier des Tages lag das Jubiläumsheft aus. 
Eröffnet wird es durch die allesamt lesenswerten, sehr unterschiedlich akzentuierten, durchweg bedachtsamen Grußadressen internationaler und international bekannter alt- und neubundesdeutscher Historiker wie Peter Bender, Georg G. Iggers, Konrad H. Jarausch, Harald Kleinschmidt, Jürgen Kocka, Günther Mühlpfordt, Lutz Niethammer, Siegfried Prokop, Peter Steinbach, Günter Vogler, Hermann Weber und Manfred Weißbecker. 
Die Aufsätze sind einer Jubiläumsausgabe angemessen. Matthias Middel eröffnet mit einer vergleichenden Analyse der Beiträger und Beiträge vor und nach 1989. Sein Ziel ist es, den dominanten Geschichtsdiskurs in den neunziger Jahren herauszuarbeiten. Nach seiner Zählung kommen inzwischen rund 30 Prozent aller Autoren aus den alten und nur etwa 9 Prozent mehr aus den neuen Bundesländern (2001). Nach wie vor dominiert die Nationalgeschichte (gut zwei Drittel). Dabei hat nach 1990 vor allem das Interesse an Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg deutlich zugenommen. Kritische Rückblicke auf die DDR sind inzwischen ebenfalls dahinter zurück getreten. 
Sein Resümee dürfte Herausgeber und Redaktion der ZfG ermutigen. Sowohl hinsichtlich der Zusammensetzung der Autorenschaft als auch bezüglich ihrer Orientierung auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts sei sie unterscheidbar gegenüber konkurrierenden Periodika profiliert worden, wenngleich die ehedem verfeindeten ost- und westdeutschen Geschichtswissenschaften sich insgesamt noch ähnlicher geworden scheinen, als sie ohnehin schon immer gewesen wären. Vor allem für jüngere Historiker/innen würde die ZfG Publikationschancen eröffnen. Die Zeitschrift habe zwar mit der eigenen Geschichte gebrochen, aber dadurch Zukunft ermöglicht. 
Die beiden folgenden Beiträge führen das Thema fort. Zunächst bilanziert Klaus Melle das Erscheinungsbild der Mittelalterforschung in der DDR, das er zwischen dieologisierter Wissenschaft und Respekt verdienender marxistischer Mediavistik erkennt. Daran anschließend befasst sich Michael Schippan mit den Beiträgen in der ZfG zur Geschichte der Frühen Neuzeit während der achtziger Jahre.
Den Abschluss bildet Stefan Bergers Antwort auf die Frage "Was bleibt von der Geschichtswissenschaft der DDR?" Die ZfG ist es jedenfalls nicht, denn sie hat bekanntlich das Ende der institutionellen Strukturen der DDR-Geschichtswissenschaft bereits um fast ein Jahrzehnt überdauert. Manche Ressentiments zwischen ost- und westdeutschen Historikern aber hätten über das Ende der DDR hinaus ebenfalls fortbestanden, auch wenn in jüngerer Zeit hier und da fruchtbare Auseinandersetzungen begonnen haben. Zumindest die anhaltenden Vorbehalte einiger Vertreter der ehemaligen DDR-Historikerzunft scheinen angesichts der „Zerstörung der DDR-Geschichtswissenschaft“ auch nicht verwunderlich. Berger prognostiziert, dass auch die Reste einer alternativen historischen Kultur im Osten in einigen Jahrzehnten verschwunden sein werden. 
Walter Schmidt sollte ihm seine Zustimmung nicht verweigern. Was spräche zudem gegen Bergers Vorschlag, jüngere, noch in der DDR hoch qualifizierte Historiker besonders zu fördern, nachdem der altbundesdeutsche Nachwuchs vom Zusammenbruch der DDR jahrelang profitierte? Der Vorwurf ist jedoch nicht nur gegenüber westdeutschen Nutznießern angebracht. Auch die Schmidts der DDR-Historikerzunft tragen daran Verantwortung, weil sie ihren beträchtlichen Anteil zu dem verheerenden Ruf der DDR-Historikerzunft in der alten Bundesrepublik beigetragen haben. Zumindest müssen sie sich die rhetorische Frage gefallen lassen, ob sie, wie Klaus Melle mit Blick auf die Mittelalterforscher in der DDR zurückhaltend formuliert, bei der zweifellos häufig unumgänglichen „politisch-ideologischen“ Garnierung ihrer Leistungen „immer das richtige Augenmaß walten ließ(en)“ (S. 999).

PD Dr.Ulrich Wiegmann
Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung
Forschungsstelle Berlin

Erfassungsdatum: 16. 12. 2002
Korrekturdatum: 02. 04. 2004