Text des Beitrages: |
Eine interdisziplinär ausgerichtete
Tagung, an der sich Vertreter der Geschichtswis-senschaft, der Erziehungswissenschaft,
Theologie, Germanistik und Kunstgeschichte beteiligten, erörterte die
Frage nach dem Beginn der modernen Pädagogik im späten 16. und 17.
Jahrhundert. Um die Fragestellungen der verschiedenen Fächer zusam-menzuführen,
hatten die Veranstalter (Hans-Ulrich MUSOLFF, Bielefeld; Anja-Silvia GÖING,
Hamburg; Andreas SUTER, Bielefeld) den in der Geschichtswissenschaft seit
längerem etablierten Konfessionalisierungsansatz empfohlen. Dieser Ansatz
schien geeignet, die disziplinär unterschiedlichen Zugangsweisen und
Fragestellungen zu verklammern. Denn der Prozess der Konfessionalisierung,
der sich nach dem Urteil der Historiker als ein gesamtgesellschaftlicher Fundamentalvorgang
vollzog, brachte nicht zuletzt eine Bildungsreform bislang ungekannten Ausmaßes
mit sich. Die Aus-sicht auf die Formierung der Individuen im Sinne einer
konfessionell homogenisier-ten Lebensführung schien das Schulwesen zu
einem interessanten Ansatzpunkt für die Disziplinierungsanstrengungen
der jeweiligen Obrigkeiten zu machen. Um so erstaunlicher ist es, dass der
Konfessionalisierungsansatz von der historischen Päda-gogik bislang kaum
rezipiert wurde. Die Arbeitstagung sollte u.a. die Tragfähigkeit dieses
Ansatzes für die historische Bildungsforschung prüfen.
Indes offenbarten sich im Verlauf der Diskussion einige prinzipielle Schwierigkei-ten,
die mit dem Rückgriff auf den Konfessionalisierungsansatz verbunden
waren und die die interdisziplinäre Verständigung erschwerten. Zunehmend
wurde deutlich, dass vornehmlich die Vertreter der Geschichtswissenschaft
und der Theologie diesen Ansatz in seiner mehr oder weniger eng definierten
Begrifflichkeit fruchtbar mach-ten. Demgegenüber verhielten sich die
Vertreter der Pädagogik, aber auch der Ger-manistik und der Kunstgeschichte
gegenüber diesem Ansatz teils reservierter, teils applizierten sie ihn
in einer eher unorthodoxen Weise auf ihren jeweiligen Gegens-tand.
Zunächst wurden indes die wechselseitigen Erwartungen formuliert.
Die Vortrags-reihe wurde mit einer Einleitung von Hans-Ulrich MUSOLFF eröffnet.
Er verwies auf die Defizite der bisherigen historischen Bildungsforschung,
die den Beginn der mo-dernen Pädagogik lange in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts verortet und den von der Konfessionalisierung ausgehenden
Modernisierungsschub noch nicht hinrei-chend reflektiert habe. Zugleich betonte
er das Erfordernis, sich der regional und städtisch spezifischen Entwicklung
von einzelnen Schulen zu vergewissern. In die-sem Zusammenhang erwarte er
von den Historikern sowie den Vertretern der ande-ren Disziplinen Anstöße
in institutionengeschichtlicher Perspektive, aber auch hin-sichtlich der Erforschung
der konkreten Lehr- und Lerninhalte. Andreas SUTER fasste im Anschluss an
Wolfgang REINHARD und Heinz SCHILLING die bisherigen Erträge der Konfessionalisierungsforschung
noch einmal zusammen. Auch er betonte in die-sem Zusammenhang die Sinnhaftigkeit
einer Debatte insbesondere zwischen Histori-kern und Pädagogen, da die
Bildung sowohl der gesellschaftlichen Eliten als auch des übrigen Nachwuchses
ein wesentliches Forschungsinteresse dieses Ansatzes dar-stelle. Damit skizzierte
er den primär sozialgeschichtlichen Rahmen der Diskussion. In diesem
Sinn betonte Stefan EHRENPREIS (Berlin) das besondere Interesse der Kon-fessionalisierungsforschung
an fassbaren sozialen Entwicklungen und Veränderun-gen auf der gesellschaftlichen
Makro- und Mikroebene. Angeregt durch die Gewinne der einschlägigen
Forschungen in Frankreich, England und den Niederlanden mar-kierte er die
sozialhistorischen Defizite in der deutschsprachigen Forschung. Insbe-sondere
in der Katechese und im niederen Schulwesen konvergierten für ihn die
ge-samtgesellschaftlichen Formierungstendenzen, die weiterer bildungshistorischer
Aufklärung bedürften. Rudolf KECK (Hildesheim) konzentrierte sich
aus erzie-hungswissenschaftlicher Perspektive auf die Katechesierungsanstrengungen
in der Zeit der devotio moderna und des Humanismus. Er zeichnete eine Entwicklungslinie
von der vorkonfessionellen Katechese hin zu entsprechenden Bemühungen
der sich herausbildenden Bekenntnisse. Konfessionsübergreifend gemeinsam
sei in Intention und Ergebnis die neuartige Würdigung der Bildung gewesen.
Nach diesen Markierungen des Tagungsthemas aus historischer und erziehungs-wissenschaftlicher
Sicht folgte eine Reihe von Vorträgen, die sich der regionalen Schulgeschichte
widmeten. Agnes WINTER (Berlin) stellte die frühneuzeitliche Ge-schichte
der vier ältesten Berliner Gymnasien dar. Andreas LINDNER (Erfurt)
sprach aus theologischer Sicht über das bikonfessionelle Erfurter Schulwesen
und Jens BRUNING (Leipzig) über die Lateinschulen der „ostwestfälischen
Provinz“ (Minden, Herford, Bielefeld). Diese sehr informativen Untersuchungen
auf der Mikroebene der Schulforschung bestätigten einerseits den konfessionellen
Anspruch der Schulen, der sich vor allem in der Berufungspraxis der Lehrer
ausdrückte. Andererseits habe es konfessionsübergreifende Gemeinsamkeiten
gegeben, so insbesondere auf der E-bene der Lehrpläne, die insgesamt
das Erbe des Humanismus bewahrt und tradiert hätten. Der obrigkeitliche
Zugriff auf die Schulen durch den Landesherrn habe sich gegenüber dem
Einfluss der lokalen Behörden nicht verstärkt geltend machen kön-nen.
Wie diese Beiträge so trugen auch die Vorträge des Erziehungswissenschaftlers
Daniel TRÖHLER (Heidelberg) und des Historikers Thomas MAISSEN (Luzern)
dazu bei, den Konfessionalisierungsansatz vor dem Hintergrund lokaler und
regionaler Forschungen zu schärfen bzw. dessen Grenzen zu präzisieren.
D. TRÖHLER sprach über republikanische Tugend und Erziehung sowie
die MACHIAVELLI-Rezeption des Schweizer Stadtbürgertums. Th. MAISSEN
erläuterte frühe Formen der bürgerlichen Aufklärung durch
öffentliche Diskussionen in den Zürcher `CollegiaA, die sich dem
obrigkeitlichen und kirchlich-konfessionellen Zugriff entzogen. Beide Vorträge
ver-wiesen auf die Formierung bürgerlichen Selbstverständnisses
jenseits von Konfessi-onalisierungsbestrebungen.
Mit den Vorträgen von Anja-Silvia GÖING, Simone DE ANGELIS (London),
H.-U. MUSOLFF, Ulrich PFISTERER (Hamburg) und Frauke BÖTTCHER (Frankfurt)
wurden die Lehr- und Lerninhalte in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.
A.-S. GÖING sprach über Naturphilosophie und Ethik im Lehrplan der
Theologischen Lehranstalt in Zürich. S. DE ANGELIS interpretierte Melanchthons
„De anima“ im Kontext von Medizintheorie und reformatorischer Theologie.
H.-U. MUSOLFF diskutierte die Wiederkehr der Metaphysik in Curricula des
17. Jahrhunderts. U. PFISTERER sprach über Kunst im Curriculum, und
F. BÖTTCHER erläuterte Formen mathematischer und naturwissenschaftlicher
Wissensvermittlung für Laien in Frankreich. Für einzelne Schulen
wurde zudem nicht nur nachgezeichnet, welche Bestimmungen durch die Lehrpläne
vorgegeben waren und welche pädagogischen Intentionen mithin verfolgt
wurden. Vielmehr wurde darüber hinaus auch nach den Wirkungen des Lernens
ge-fragt, wie sie etwa in den öffentlichen Theses oder Disputationes
fassbar seien, die einen integralen Bestandteil des Curriculums gebildet haben.
Auch Schülerzeich-nungen und -briefe wurden als Quellen interpretiert.
Angesichts konfessionsüber-greifender inhaltlicher Übereinstimmungen
gerade im Hinblick auf die Lerninhalte sei die These von einer erfolgreichen
durchgängigen Konfessionalisierung fraglich. Die Reduktion konfessioneller
Gegensätze nicht nur auf der Ebene der Lehrpläne, sondern ebenso
hinsichtlich des Gelernten lege es daher nahe, auch mit mittelfristi-gen Transformationsprozessen
des Toleranzgedankens statt durchgängiger etatistisch durchgesetzter
Konfessionalisierung zu rechnen.
Indes konnten nicht alle der genannten Beiträge den Konfessionalisierungsansatz
für ihre Gegenstände nutzen. In besonderem Maße gilt dies
auch für den Vortrag von Lutz KOCH (Bayreuth), der die Tagung um eine
luzide wissenschaftsgeschichtliche Studie zu Comenius> Methodendenken bereicherte.
Koch vergewisserte sich zu-nächst der Kritik G. BUCKS an COMENIUS>
platonisierender Teleologie sowie der Analysen W. SCHMIDT-BIGGEMANNS, der
die Fundierung der synkritischen Methode in der Offenbarungstheologie aufgezeigt
hat. Jenseits dieser vormodernen Züge gelte es, COMENIUS> Modernität
in den von ihm herausgearbeiteten Formalkriterien des methodischen Denkens
zu suchen. Der Gang des Lernens, so KOCH, sei durch Me-thoden der Analyse
und Synthese bestimmt; das Lernen folge mithin nicht dem ver-meintlichen Wesen
der Sache, sondern vollziehe sich gemäß dem methodischen Entwurf.
Hierin sei eine Parallele zu DESCARTES festzustellen, und hierin erweise
sich COMENIUS> Modernität. Ungeachtet dessen, ob man diesen Schluss
teilt oder nicht: L. KOCHS Beitrag machte deutlich, dass für die Frage
nach den Grundlagen moderner Pädagogik der Rekurs auf sozialgeschichtliche
Modelle nicht hinreichend ist. Vielmehr erfordert die Aufhellung dieser Frage
stets auch philosophie- und wis-senschaftsgeschichtliche Zugangsweisen und
die Explikation theorieimmanenter Zu-sammenhänge. Dies wurde in dem sich
anschließenden Vortrag über I. DE LOYOLA leider nicht geleistet.
Dieser Vortrag blieb dem obsoleten historiographischen Muster einer Helden-
und Heiligenverehrung verhaftet.
An dem Status, der der Wissenschafts- und Theoriegeschichte für die
Frage nach den Anfängen moderner Pädagogik zugemessen wurde, und
an der Bereitschaft, den sozialgeschichtlichen Konfessionalisierungsansatz
zu applizieren oder nicht, zeigten sich nun deutliche Differenzen zwischen
den einzelnen Disziplinen. Diese Differen-zen mögen zunächst damit
zusammenhängen, dass die Historiker sich mit dem frag-lichen sozialgeschichtlichen
Ansatz auf einheimischem Terrain bewegten, während er für die Vertreter
der anderen Disziplinen einen Theorieimport darstellte. Was für letztere
die Rezeption des Ansatzes darüber hinaus erschwerte, hat vermutlich
mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen davon zu tun, was als soziale Wirklichkeit
an-zusprechen ist. Für die Sozialhistoriker wird diese Wirklichkeit primär
von städti-schen und staatlichen Verwaltungen, Alphabetisierungsraten,
in Daten fassbaren ma-teriellen Lebensbedingungen und in Bildungsinstitutionen
repräsentiert. Die Referenten der Pädagogik, aber auch der Germanistik
und der Kunstgeschichte bezogen demgegenüber auch die durch Lehr- und
Lerninhalte, Kunstwerke und das Gespräch über solche Objektivationen
repräsentierten geistigen und ästhetischen Wirklichkeiten in ihre
Untersuchungen mit ein. Dass diese divergierenden Herangehensweisen zu divergierenden
Bewertungen des Konfessionalisierungsansatzes sowie der Tagungsergebnisse
insgesamt führten, konnte nicht ausbleiben.
Dies zeigte sich auch in der Abschlussdiskussion. Von Seiten der Sozialhistoriker
wurde kritisch vermerkt, die Ergebnisse der historischen Bildungsforschung
seien nicht in befriedigender Weise auf den Konfessionalisierungsansatz
als „Auslegeord-nung“ (SUTER) zurückbezogen worden. Zudem habe sich
wiederum bestätigt, dass die Historiker eher an den gesellschaftlichen
Folgen und sozialen Sedimentationen von Ideen interessiert seien, während
die Erziehungswissenschaftler nach wie vor ideengeschichtlichen Verfahren
verpflichtet seien. Der Einschätzung der Historiker wurde von erziehungswissenschaftlicher
Seite teilweise widersprochen. Die Ergeb-nisse der historischen Bildungsforschung
hätten gezeigt, dass insbesondere die Kon-fessionalisierung auf der Ebene
der philosophischen und wissenschaftlichen Kultur nicht gelungen sei. Jenseits
der obrigkeitlich betriebenen Nützlichkeitsorientierung der schulischen
Ausbildung habe sich spätestens in der zweiten Hälfte des 17. Jahr-hunderts
die erneute Bevorzugung solcher Lehrinhalte gezeigt, die der Aristoteli-schen
epistéme zugehören. Im übrigen wurde geltend gemacht, dass
diese konfessi-onsübergreifende Wiederkehr von theoretisch-epistemischen
Lehrinhalten mehr be-deute als eine ideengeschichtliche Entwicklung. Vielmehr
zeuge dies, gerade auch mit Blick auf die transkonfessionelle Formierung
der Eliten, von einer sozialen Rea-lität sui generis.
Naturgemäß konnten diese Kontroversen nicht behoben werden.
Dies ist indes kein prinzipieller Einwand gegen Konzept und Durchführung
der Tagung. Denn wis-senschaftliche Forschung lebt von solchen Kontroversen.
Jedenfalls ist deutlich ge-worden, dass der Konfessionalisierungsansatz für
die Erforschung der frühneuzeitli-chen Pädagogik aus erziehungswissenschaftlicher
Sicht nur bedingt tauglich ist. So ist der Ansatz sicherlich relevant für
weitere institutionengeschichtliche Forschun-gen, nicht aber für die
Aufhellung der Kanon- und Curriculumgeschichte. Aber auch diese Reduktion
der Reichweite eines wissenschaftlichen Modells bedeutet einen Erkenntnisgewinn.
Prof. Dr. Stephanie HELLEKAMPS, Westfälische Wilhelms-Universität
Münster, In-stitut für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik,
Bispinghof 5/6, 48143 Münster, hellekam@uni-muenster.de
|