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Die Frage nach den frühneuzeitlichen
Wurzeln der modernen Pädagogik war Thema einer international und interdisziplinär
besetzten Tagung, die Ende November 2002 im Zentrum für interdisziplinäre
Forschung der Universität Bielefeld stattfand, initi-iert vom Arbeitskreis
Vormoderne Erziehungsgeschichte (AVE), organisiert und ge-leitet von Hans-Ulrich
MUSOLFF (Bielefeld), Anja-Silvia GÖING (Hamburg) und Andreas SUTER (Bielefeld).
So naheliegend diese Frage nach den „Anfängen und Grundlegungen“ ist,
so schwer schien es, interdisziplinär konsensfähige Antworten darauf
zu finden. Die unterschiedlichen Denkvoraussetzungen und Erwartungen der
Historiker, Pädagogen und Theologen erwiesen sich als spannungsreich
und letztlich kaum miteinander vereinbar.
Als heuristischer Schlüssel zum Verständnis der Politik-, Sozial-
und Theologie-geschichte der Frühen Neuzeit hat sich in den vergangenen
Jahrzehnten das Konfes-sionalisierungsparadigma erwiesen. Die Frage, ob und
wie weit die Kategorie „Kon-fessionalisierung“ auch für das Verständnis
der frühneuzeitlichen Erziehungs- und Bildungsvorstellungen hilfreich
und sinnvoll sein kann, gehört dagegen in der histo-rischen Pädagogik
noch nicht zum Standardprogramm. Ziel der Bielefelder Tagung war es, hier
anzusetzen und mit dem Konfessionalisierungskonzept im Anschluss an die Geschichtswissenschaft
für die (historische) Pädagogik neue Perspektiven zu er-öffnen.
So rekapitulierte Andreas SUTER in seinem Eröffnungsvortrag das von
Wolfgang REINHARD und Heinz SCHILLING entwickelte Konfessionalisierungsparadigma
und erläuterte daran anschließend das Konzept der in fünf,
recht ungleichgewichtige Sek-tionen gegliederten Tagung. In einem ersten
Teil widmeten sich zwei Grundlagen-vorträge dem Zusammenhang von „Konfessionalisierungsforschung
und Bildungs-geschichte“ aus allgemeinhistorischer (Stefan EHRENPREIS) und
erziehungswissen-schaftlicher Sicht (Rudolf W. KECK). Bereits hier wurde
erkennbar, wie unterschied-lich das gleiche Thema – je nach Perspektive –
akzentuiert werden kann. Während EHRENPREIs den heuristischen Wert der
Konfessionalisierungstheorie für das Thema „Bildung“ hervorhob, dabei
auf den Vorsprung der angelsächsischen und französi-schen Forschung
verwies und konkret auf konfessionell spezifische Entwicklungen einging,
betonte KECK die der Konfessionalisierung zeitlich und inhaltlich vorauslie-genden
prägenden Grundlagen der neuzeitlichen Pädagogik in Humanismus
und De-votio moderna. Beide Referenten wiesen dabei auf die Bedeutung der
spätmittelalter-lich-vorkonfessionellen und frühneuzeitlich-konfessionalistischen
Katechese und Katechismusliteratur hin, deren Erforschung für den deutschsprachigen
Raum noch in den Anfängen steckt. Das Beispiel verweist zugleich auf
die Notwendigkeit, die Theologie- und Kirchengeschichte einzubeziehen. Ein
ursprünglich geplanter, dann aber leider nicht realisierter analoger
Grundlagenvortrag aus Sicht der Kirchen- und Theologiegeschichte wäre
hier überaus sinnvoll gewesen.
In den beiden folgenden Tagungssektionen wurden konkrete Fallstudien zur
Dis-kussion gestellt – zunächst aus Berlin (Agnes WINTER über die
fünf ältesten Berliner Gelehrtenschulen), Erfurt (Andreas LINDNER
über Erfurts bikonfessionelles Schul-wesen; im übrigen einer der
wenigen Vorträge, der auch das Mädchenschulwesen berücksichtigte!)
und der „ostwestfälischen Provinz“ (Jens BRUNING über die Latein-schulen
in Minden, Herford und Bielefeld), dann aus der Schweiz: Daniel TRÖHLER
suchte die Prägung des Schweizer Stadtbürgertums durch den italienischen
Huma-nismus, genauer: durch MACHIAVELLIS Tugendbegriff und dessen Wandlung
von ei-ner politischen zu einer pädagogischen Kategorie vor dem Hintergrund
der Konfes-sionalisierung aufzuzeigen. Thomas MAISSEN stellte den Zusammenhang
mit der Frühaufklärung her, die in Zürich im späten 17.
Jahrhundert einsetzte und dem Bil-dungswesen neue Konturen gab: Die konfessionell
geprägte, an die traditionellen Institutionen gebundene Erziehung trat
zurück hinter die Selbstbildung der Bürger durch Vorträge
und Diskussionen in kirchlich und politisch unabhängigen „Colle-gia“.
Die vierte Sektion widmete sich Johann Amos COMENIUS (Lutz KOCH) und Ignati-us
VON LOYOLA (Luisa Margarita SCHWEIZER) und damit zwei Persönlichkeiten,
die für das frühneuzeitliche Bildungswesen überaus einflussreich
wurden. Beiden Refe-renten war daran gelegen, die geistesgeschichtliche „Modernität“
ihrer Protagonisten herauszuarbeiten, offen blieb jedoch, wie die jeweiligen
Konzepte und Methoden im Kontext der Konfessionalisierung zu verorten und
zu problematisieren sind.
Die letzte Sektion stellte schließlich explizit die in den verschiedenen
Unterrichts-systemen vermittelten Lehrinhalten zur Diskussion: Anja-Silvia
GÖING sprach über „Naturphilosophie und Ethik in der Theologischen
Lehranstalt in Zürich“, Simone DE ANGELIS über Melanchthons „De
anima“ im Kontext von Medizintheorie und re-formatorischer Theologie, Hans-Ulrich
MUSOLFF über die Metaphysik an westfäli-schen Gymnasien, Ulrich
PFISTERER über Kunst in frühneuzeitlichen Curricula und – einer
der interessantesten Vorträge! – Frauke BÖTTCHER über Formen
mathemati-scher und naturwissenschaftlicher Wissensvermittlung. So anregend
diese Beiträge im einzelnen waren, so sehr wurde doch deutlich, dass
die Konfessionalisierungsfor-schung in der historischen Pädagogik noch
wenig Fuß gefasst hat. Das analytische Instrumentarium des Konfessionalisierungsparadigmas
wurde allenfalls ansatzweise genutzt und seine heuristische Funktion im wesentlichen
auf die Frage nach der Kon-fessionszugehörigkeit reduziert.
In der Abschlussdiskussion wurde diese Problematik aufgegriffen und unter-schiedlich
bewertet: Während die Pädagogen betonten, dass von der Tagung wichti-ge
Impulse für die Erforschung der frühneuzeitlichen Pädagogik
ausgegangen seien, wurde seitens der Historiker bemängelt, der Anspruch,
das Konfessionalisierungs-konzept zum Tragen zu bringen, sei nur unbefriedigend
eingelöst worden, ein Ein-wand, der aus Sicht eingefleischter Konfessionalisierungshistoriker
sicher berechtigt ist, der aber übersieht, was als eigentlicher Gewinn
der Tagung festzuhalten ist: Me-thodisch und thematisch sehr unterschiedliche
Zugänge zur frühneuzeitlichen Päda-gogik wurden interdisziplinär
miteinander ins Gespräch gebracht. Es wäre zu hoffen, dass sich
dieses Gespräch fortsetzen lässt – in kritischer Offenheit, aber
auch in ge-genseitigem Respekt für den jeweils anderen Standpunkt.
Eine Publikation der Tagungsbeiträge wird unter dem Titel „Anfänge
und Grund-legungen moderner Pädagogik im 16. und 17. Jahrhundert“ von
Hans-Ulrich MUSOLFF und Anja-Silvia GÖING herausgegeben und soll in
der Reihe „Beiträge zur Historischen Bildungsforschung“ (Böhlau
Verlag, Köln, Weimar) noch im Jahr 2003 erscheinen. Für 2004 ist
eine weitere vom Arbeitskreis Vormoderne Erziehungsge-schichte (AVE) veranstaltete
Tagung zum Thema „Elementar- und Be-rufs(aus)bildung in und außerhalb
der Schule vom 15. bis 17. Jahrhundert“ (s.o.) ge-plant (Kontakt: hans-ulrich.musolff@uni-bielefeld.de;
goeing@unibw-hamburg.de).
Dr. Anne CONRAD, Universität des Saarlandes, FR 3.3: Institut für
Katholische Theologie, Postfach 151150, 66041 Saarbrücken, anne.conrad@t-online.de
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