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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Matthes; Eva; Heinze; Carsten
Titel: Tagungsbericht: ``Der Ort der Bildungsgeschichte``
Erscheinungsjahr: 11/2007
Text des Beitrages:

Das Thema der diesjährigen Jahrestagung der Sektion Historische Bildungsforschung in der DGfE lautete „Der Ort der Bildungsgeschichte“. Dabei standen vor allem folgende Fragen im Zentrum des Interesses: Welche Ziele wurden und werden mit Bildungsgeschichte verfolgt? Welche Funktionen und welche Wirkungen hat Bildungsgeschichte? An welchen Orten kam und kommt sie zum Tragen? Wie ‚verortet‘ sich die Historische Bildungsforschung selbst im aktuellen Bildungsdiskurs? Mit dieser Thematik hatte sich die Sektion ein anspruchsvolles und auch nicht leicht zu bearbeitendes Thema gestellt, da die Gefahr besteht, in der Beschäftigung mit der Geschichte und der Bedeutung der eigenen Disziplin in selbstreferentiellen Analysen die eigentliche Problemstellung aus dem Blick zu verlieren. Dieser Gefahr sind die Tagungsbeiträge allerdings nicht erlegen.

Der würdige Beginn der Tagung fand in der Aula der TU Braunschweig im Haus der Wissenschaft statt. Nach Begrüßung und einer Einführung in die Tagung durch Heidemarie Kemnitz und zwei Grußworten der Vizepräsidentin der TU, Barbara Jürgens, und der Dekanin, Ute Daniel, zeichnete Andreas v. Prondczynsky den Ort der Bildungsgeschichte in der Geschichte der Pädagogik/Erziehungswissenschaft nach und widmete sich insbesondere den spezifischen Formen des Verhältnisses von Erziehungsgeschichte und -theorie. Er plädierte nach der auch von ihm als unverzichtbar beschriebenen sozialgeschichtlich-empirischen Wende in den 60er/70er Jahren des 20. Jahrhunderts für eine Renaissance der erziehungstheoretisch-systematischen Perspektive in der historischen Bildungsforschung und damit für eine klare Verankerung derselben in der Erziehungswissenschaft.


Jun Yamana aus Japan skizzierte Geschichte und aktuelle Situation der historischen Bildungsforschung in Japan und sprach sich für einen Ort der historischen Bildungsforschung jenseits der Erziehungswissenschaft, in einem Netzwerk von an einschlägigen Fragestellungen interessierten Forschern aus unterschiedlichen Disziplinen aus, um einer unabhängig-sozialgeschichtlichen Perspektive zum Durchbruch zu verhelfen.

Durch die beiden Eröffnungsvorträge war der Boden für eine engagierte, durchaus kontroverse Diskussion bereitet. Im Zentrum der Wortmeldungen zum zweiten Vortrag stand die Frage nach der disziplinären Identität, nach der Gewinnung des wissenschaftlichen Nachwuchses, nach der Verankerung der historischen Bildungsforschung an den Universitäten und ihrer Überlebenschance in der Wissenschaftsgemeinschaft. An den ersten Vortrag wurden Fragen nach dem zugrundeliegenden Verständnis von Systematik und Theorie gestellt, die notwendige Freiheit der historischen Bildungsforschung gegenüber allen systematisch-theoretischen Ansprüchen betont und die interdisziplinäre Perspektive der erziehungstheoretisch-systematischen entgegengehalten.


Am Nachmittag war die Sektion vom Leiter des Museums, Gerd Biegel, in das Braunschweigische Landesmuseum eingeladen worden.

Ulrich Wiegmann gab in seinem Beitrag einen Überblick zur Entwicklung der historisch-pädagogischen Fachzeitschriften seit 1891 und rekonstruierte dabei den Entstehungszusammenhang, die Folge des Erscheinens und die Veränderungen in der inhaltlichen Struktur. In der Diskussion wurde die Frage nach dem Verhältnis der Entwicklung der Fachzeitschriften zu der der Historischen Bildungsforschung erörtert.

Sabine Harik stellte anhand der archivalischen Überlieferung der „Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte“ (1890-1939) dar, wie dieser Verein seinen Zweck in dem bildungshistorischen Editionsprojekt „Monumenta Germaniae Paedagogica“ zu verwirklichen suchte. Der eingetragene Verein, der vor allem vom Engagement seiner Vorsitzenden lebte, erlangte durch Bindung an die Reichsadministration beachtliche Erfolge. Harik zeigte aber zugleich die Konflikte auf, die aus einer solchen Liaison erwuchsen. In der Diskussion wurden vor allem die Querelen zwischen den verschiedenen Lehrergruppen und ihre Bedeutung für die Vereinsgeschichte thematisiert.

Wie Bildungsgeschichte zur Legitimation des eigenen pädagogischen Konzepts instrumentalisiert werden konnte, stellte Kristin Heinze am Beispiel der Rezeption des Philanthropismus durch M. C. Münch in seinem Universal-Lexicon (1841/42) dar. Münch betrachtete den Philanthropismus in Theorie und Praxis als Rückschritt und entfernte sich damit von den Positionen der katholischen Aufklärung. Er trug mit seinem Lexikon zu einer Verzerrung des Geschichtsbildes der Aufklärung bei. Vergleichbare Rezeptionsweisen des Philanthropismus wurden im Anschluss diskutiert.

Museumsdirektor Gerd Biegel setzte sich in einem leidenschaftlichen Plädoyer für die Anerkennung der Dignität der Objekte ein und erteilte Ideen von Museen als Orten des reinen Events und Happenings eine klare Absage. Museen sollten sich auch als Lernorte verstehen, ihre Lerngegenstände dürften dabei allerdings nicht neben methodischen Raffinessen ein Schattendasein führen. Bildung ereigne sich in der Auseinandersetzung mit Inhalten. Zudem müsse einer grenzenlosen Kommerzialisierung von Museen ein Anspruch der wissenschaftlichen Seriosität entgegengesetzt werden.


In dem am Dienstag Vormittag stattgefundenen Workshop „Orte des Forschens – Orte des Präsentierens“ zeichnete im ersten Vortrag Rebekka Horlacher die Geschichte des Pestalozzianums in Zürich nach und arbeitete heraus, wie sich dieses Institut schließlich als Ort der historischen Bildungsforschung etablieren konnte. Die Keimzelle hierfür waren die Pestalozzi-Studien, durch die das Pestalozzianum von Anfang an nicht nur eine nationale Bedeutung als Stätte der Weiterbildung von Lehrern hatte, sondern auch eine internationale Bedeutung als Ort der Pestalozzi-Forschung. Christian Ritzi beschrieb in seinem Vortrag den Weg der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin von einer pädagogischen Gebrauchsbibliothek zu einer bildungshistorischen Forschungsbibliothek und erläuterte die für diese Entwicklung notwendige Quantität und Qualität des Quellenbestandes. Die Bedeutung der Lehrerweiterbildung bzw. der Lehrmittelsammlungen als Fundierung einer historischen Bildungsforschung wurde in den Nachfragen herausgestellt.

Jürgen Overhoff präsentierte in seinem Vortrag die Universität von Pennsylvania in Philadelphia als hervorgehobenen Ort sowohl der historischen Bildungsforschung als auch der Bildungsgeschichtsschreibung der USA und erläuterte die historischen Hintergründe hierfür. Er wies darauf hin, dass die Bildungsgeschichte an der Universität von Pennsylvania weniger in erziehungswissenschaftlichen Studiengängen beheimatet ist, sondern ihren Ort vor allem in interdisziplinär ausgerichteten und miteinander kooperierenden Universitätssammlungen, -archiven und -museen habe.

Ulla Nitsch, Max Liedtke und Mathias Rösch stellten anschließend die von ihnen aufgebauten bzw. betreuten Schulmuseen als Orte der Bildungsgeschichte dar, deren erste Aufgabe das Sammeln sei. Um die gesammelten Objekte nun so präsentieren zu können, dass Bildungserlebnisse ermöglicht würden, müssten die gesammelten Gegenstände in ihrem historischen Kontext erforscht werden. Erstrebenswert sei eine Wechselwirkung zwischen Forschen und Präsentieren. In der Diskussion wurden die Leistungen der Schulmuseen betont und auf ihre Chance verwiesen, jenseits von Texten die gesamte Gegenständlichkeit von Erziehung in den Blick zu nehmen. Als schwierige Herausforderung wurde die Systematik der Auswahl der Gegenstände diskutiert.

Quer zu dieser Thematik lag der Vortrag von Johanna Goldbeck, die über die Rochowsche Dorfschule als bildungsgeschichtlichen Ort referierte, der für die heutige Bildungsforschung weiteren Aufschluss über die Epoche des Philanthropinismus bringen könne. In diesem Rahmen ist auch ihr Projekt zur Erforschung des Besucherbuches mit der Methode der Netzwerkanalyse angelegt. Inhaltliche Ausrichtung und methodische Vorgehensweise stießen auf großes Interesse der Zuhörer.


Parallel zu dem Workshop „Orte des Forschens – Orte des Präsentierens“ wurden einzelne bildungshistorische Projekte präsentiert. Petra Götte beschäftigte sich mit der deutschen Auswanderung in die USA im späten 19. Jahrhundert. In ihrem Beitrag verwies sie auf Forschungsdesiderate aus einer bildungshistorischen Perspektive. Dabei interessiert sie u.a. die Weitergabe der Erfahrungen von der ersten Auswanderergeneration auf die nachfolgenden Generationen oder der Wandel der Generationsbeziehungen und Erziehungsverhältnisse im Migrationsprozess. In der Diskussion standen vor allem methodische Fragen im Zentrum, so z.B. die Möglichkeiten und Grenzen der Analyse von Fotografien.

Mit den Auslandsaufenthalten deutscher Lehrerinnen beschäftigte sich anschließend Wolfgang Gippert. Vor dem Hintergrund des Konzepts des Kulturtransfers ging er vor allem der Frage nach, wie sich die Auseinandersetzung mit dem englischen Bildungssystem auf die Lehrerinnen, die dort Erfahrungen sammelten, auswirkte. Diskutiert wurde insbesondere die Frage, ob die Auseinandersetzung mit dem „Fremden“ die nationalkulturelle Identität der Frauen gefestigt habe und die Tatsache, dass die Auslandsaufenthalte kaum zu Transfers in das deutsche Bildungssystem geführt haben.

Die Eliten-Bildung an den Fürsten- und Landesschulen in Sachsen und Preußen zwischen 1868 und 1933 stand im Zentrum des Beitrages von Jonas Flöter, der zeigen konnte, dass in diesen Schulen der soziale Aufstieg nachhaltig befördert wurde. Die Ursachen sieht Flöter vor allem in drei Punkten: der Tradition der Schule (Orte der Gelehrsamkeit als Verpflichtung), der besonderen Staatsnähe sowie der Organisation als Alumnatsschulen. Dieses Ursachenbündel wurde dann auch in der Diskussion aufgegriffen und zugleich versucht, weitere Indikatoren zu benennen, um den – auch von Absolventen beschworenen – „Geist“ einer Schule forschungsmethodisch erfassen zu können.

Die nächsten drei Beiträge stammen aus einem Forschungsprojekt zur weltweiten Verbreitung des „Bell-Lancaster-Systems“. Patrick Ressler rekonstruierte Wege, Mittel und Strategien der englischen „British and Foreign School Society“ und der „National Society“ zur Verbreitung des „Bell-Lancaster-Systems“ im frühen 19. Jahrhundert und untersuchte die Ursachen für den beachtlichen Erfolg dieser von ihm als „Nonprofit-Organisationen“ bezeichneten Gesellschaften auf dem „Markt der Wohltätigkeit“. Im Anschluss daran zeigte Marcelo Caruso, dass die für die weltweite Verbreitung dieses Unterrichtssystems sehr maßgebenden zivilgesellschaftlichen Vereinigungen sich keineswegs als Ersatz der öffentlichen Hand (kommunal oder staatlich) verstanden, sondern in vielfältigen Abhängigkeits-, Kooperations- und Komplementaritätsverhältnissen standen. Jana Tschurenev arbeitete in ihrem Beitrag mit der in den „postcolonial studies“ diskutierten Idee, dass koloniale Kontexte als „Experimentierfelder“ für Sozialdisziplinierungstechniken dienten, die dann wieder reimportiert wurden. In ihren Untersuchungen konnte sie aber zeigen, dass z. B. zwischen Indien und Großbritannien ein Austausch von Erfahrungen stattfand, und zwar nicht nur in der Richtung „Zentrum-Peripherie“, sondern auch umgekehrt. Die Aufmerksamkeit, mit der die englischen Utilitaristen um Bentham und Mill die Erfahrungen der Bell-Lancaster-Missionsschulen in Indien verfolgten, diente hier als besonderes Beispiel dieser vielfältigen Kommunikationsprozesse. In der Diskussion aller drei Beiträge wurde sich vor allem mit der Begrifflichkeit des Untersuchungsinstruments auseinandergesetzt, so z.B. dem Begriff „Zivilgesellschaft“.

Am Dienstagnachmittag fand im Rahmen der Mitgliederversammlung im Erich-Weniger-Tagungshaus in Steinhorst die Verleihung des „Julius-Klinkhardt-Preises zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in der Historischen Bildungsforschung“ statt. Den Preis erhielt in diesem Jahr Frau Franziska Timm für ihre an der Universität Potsdam geschriebene Magisterarbeit zu dem Thema „Gott – Daimon – Missetäter. Überlegungen zum pädagogischen Eros in der klassischen Knabenliebe, in Platons ‚Symposion’ und in Gustav Wynekens Apologie ‚Eros’“. Frau Timm vergleicht in ihrer Arbeit real- und ideengeschichtlich die Rolle des Eros in der sozialen Praxis der griechischen Oberschicht im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr., in der sokratisch-platonischen Erziehungstheorie und in Theorie und Praxis des Reformpädagogen Gustav Wyneken.


Der letzte Tag war dem Thema „Ver-Ortung von Bildungsgeschichte“ gewidmet. Christiane Griese stellte die Ergebnisse einer Befragung von ca. 250 Lehrern vor, bei der das bildungshistorische Wissen und die Bedeutung, die der „Bildungsgeschichte“ im Rahmen der Lehrerausbildung zugewiesen wurde, im Zentrum der Untersuchung standen. In der Diskussion wurde vor allem die im Fragebogen durchgeführte Operationalisierung des bildungshistorischen Wissens thematisiert. Insbesondere die Frage, ob sich bildungsgeschichtliches Wissen auf Kenntnisse über „die“ Klassiker reduzieren lasse, wurde kontrovers erörtert.

Im Anschluss daran diskutierte Daniel Tröhler am Beispiel bildungspolitischer Umbrüche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Zürich methodische Zugänge zur Historischen Bildungsforschung. Er rekonstruierte den ideologischen bildungspolitischen Diskurs der Positionen verwendet wurden und zeigte zugleich, dass auf der Schulebene kaum Auswirkungen nachzuweisen seien. Tröhler führt dies auf die „grammar of schooling“ zurück. In dem abschließenden Vortrag der Tagung arbeitete Eva Matthes die bildungsgeschichtlichen Bezüge in den aktuellen Diskussionen über Hochschulreform heraus. Die Argumentationsmuster reichen in dem sehr stark ausdifferenzierten Diskurs von „Humboldt ist tot“ bis zu „Humboldt ist so lebendig wie nie“. Matthes konnte zeigen, wie immer wieder der Bezug auf Humboldt genutzt wird, um zum Teil gegensätzliche Positionen und Standpunkte zu begründen und zu legitimieren. Im Anschluss an den Vortrag wurden noch einmal grundsätzlich die Bedeutung der Historischen Bildungsforschung in aktuellen Diskursen und die Möglichkeiten und Grenzen der Einflussnahme diskutiert.

Die Tagung hat gezeigt, dass auf die Frage nach dem Ort der Bildungsgeschichte keine eindeutigen Antworten möglich sind, sei es unter einer wissenschaftstheoretischen, forschungspraktischen oder auch wissenschaftspolitischen Perspektive. Deutlich wurden aber die Leistungen der Historischen Bildungsforschung, die Pluralität der forschungsmethodischen Zugänge, die Breite an Themen und Fragestellungen und die Fähigkeit, die Frage nach dem „Ort“ der eigenen Disziplin in einem konstruktiven, kritischen Diskurs zu erörtern.

Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Historische Bildungsforschung; Jahrestagung; 2007
Eingetragen von: barkowski@bbf.dipf.de
Erfassungsdatum: 13. 11. 2007
Korrekturdatum: 13. 11. 2007