Die Seiten werden nicht mehr aktualisiert – hier finden Sie nur archivierte Beiträge.
Logo BBF ---
grün und orangener Balken 1   grün und orangener Balken 3

HBO Datenbank - Bericht

Autor: Jonas, Gabriele (Universität zu Köln); Te Heesen, Kerstin (Universität Luxemburg)
Titel: Familienkulturen – (und) Familientraditionen. Historische Forschungen und aktuelle Debatten: Tagung des Arbeitskreises Historische Familienforschung (AHFF) der Sektion Historische Bildungsforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft an der Universität Augsburg vom 28. bis 29. Januar 2011
Erscheinungsjahr: 05/2011
Text des Beitrages:

Zur diesjährigen Tagung hatte der Arbeitskreis Historische Familienforschung (AHFF) in der Sektion Historische Bildungsforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissen-schaft vom 28. bis 29. Januar an die Universität Augsburg eingeladen. Die Tagung setzte im Anschluss an die Tagung an der Universität Hildesheim (28.-30-01.2010) das Thema „Familienkulturen – (und) Familientraditionen. Historische Forschungen und aktuelle Debatten“ fort. In Hildesheim waren in empirischer Arbeit an Einzel- und Familienbiographien in historischer wie aktueller Perspektive einerseits die Rolle der Familie in Tradierungsprozessen und für kulturelle Konstanz und kulturellen Wandel deutlich geworden. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse wurde aber zugleich ersichtlich, dass das theoretische, begriffliche und konzeptuelle Instrumentarium der historischen Familienforschung im Zusammenhang der Tagungsthematik stärker reflektiert werden müsste und auch Geschlechterdiskurse sowie Migrationsprozesse stärker berücksichtigt werden sollten.

Die bisher fehlende und speziell auf die Historische Familienforschung bezogene Aufarbeitung der Diskussion der Begriffe Kultur und Tradition nahmen dementsprechend die Gastgeberin Petra Götte (Augsburg) und ihr Kölner Kollege Wolfgang Gippert mit einleitenden begriffstheoretischen Vorträgen vor. In diesem Doppelvortrag stellte Wolfgang Gippert zunächst die inflationäre Verwendung des Kulturbegriffs fest, der allen Bereichen des Lebens eine Kultur zuspricht (Streitkultur, Körperkultur, Esskultur, Familienkultur etc.) – allerdings ohne dass dabei eine Definition z.B. der ‚Familienkultur‘ vorgenommen würde. Statt einer Neudefinition schlug er einen Perspektivwechsel hin zu einer „kulturgeschichtlichen Betrachtung des Familialen“ vor. Damit werde eine neue Perspektive der Forschung für den Gegenstand des „Familialen“ erschlossen, wodurch ihr Forschungsobjekt, das Familiale, eine Öffnung erfahre und nicht nur ein weiteres Forschungsadditiv erzeugt werde. Petra Götte schloss sich mit Betrachtungen über die benachbarten Begriffe „Tradition“ und „Gedächtnis“ an. Auch sie legte die bisherige begriffsgeschichtliche Verwendung von „Traditionen“ dar und betonte sowohl die Notwendigkeit der Betrachtung des prozessualen Charakters von Traditionen als auch die Aufhebung der Differenz zwischen ‚echten’ und ‚erfundenen’ Traditionen. Entscheidend sei vielmehr, Konstruktions- und Funktionsweisen von Tradierungspraxen zu erforschen. Durch diesen begriffstheoretischen Auftakt waren die Zuhörenden mit differenziertem theoretischem Vokabular ausgestattet und für die weiteren Diskussionen sensibilisiert.

Der nächste Vortrag stammte von Jutta Ecarius (Gießen), die unter dem Titel „Familieninteraktion und Kulturbildung“ dem Kulturbegriff Clifford Geertz‘ folgte und darlegte, wie im Mikrokosmos des interaktiven Familiengeflechts Kultur überhaupt entstehe und weitergegeben werde. Dabei machte sie die enge Verknüpfung von primärer Identitätsbildung und der Kulturbildung bzw. -produktion deutlich.

Anschließend zeigten Simone Bahr, Dorothee Falkenreck und Dominik Krinninger (Osnabrück), wie praktische Forschung zu genau diesem Thema aussehen kann. Sie stellten in ihrem Vortrag „Familie als Handlungsgemeinschaft und symbolischer Raum“ ihr Projekt an der Universität Osnabrück vor, in dessen Rahmen sie acht Familien mit Hilfe von u.a. Videoaufnahmen untersuchen, um in ausgewählten Situationen (gemeinsame Mahlzeiten, Spielen etc.) die Kulturalität von Familienkonstellationen herauszuarbeiten. Teile des Filmmaterials wurden vorgeführt und exemplarisch unter der Frage ausgewertet, wie in der Familie als pädagogischer Gemeinschaft familiale Kultur vermittelt und angeeignet wird. Den Abschluss des ersten Tages bildete der Vortrag von Kerstin te Heesen (Luxemburg), die „Familienporträts als kulturgeschichtliche Quellen“ betrachtete und anhand ausgewählter Familiengemälde aus dem 16. bis 19. Jahrhundert die Relevanz von Bildern für die Herausbildung kultureller und sozialer Muster von Familie veranschaulichte.

Am zweiten Tag fanden die Vorträge in Parallelsektionen statt. Die erste Sektion beschäftigte sich in zwei ebenfalls an konkretem empirischem Material exemplifizierten Vorträgen mit der Arbeit an Familienbiografien. Barbara Rajkay (Augsburg) stellte in ihrem Vortrag „Die Augsburger Familie von Stetten – Autobiographie als Familientradition“ das Ehrenbuch dieser wohlhabenden Familie vor. Seit dem 16. Jahrhundert hatten Zweige der Familie immer wieder die „Erfolgsgeschichte“ ihrer Familie in diesem Buch beschrieben, wobei die Themen Brüderlichkeit und Patriotismus wiederkehrende Motive darstellten. Somit konnten hier am Beispiel einer Familie lokale ‚Familientraditionen‘ nachgezeichnet und erforscht werden. Der Vortrag von Ole Fischer (Jena) „Pietismus und Aufklärung in Familienkonstellationen“ schloss inhaltlich an die vorangegangene Biografieforschung an. Anhand der Familie Struensee untersuchte Fischer, in welchem Maße Pietismus und Aufklärung innerfamiliäre Beziehungen beeinflusst haben. Über die mikrohistorische Untersuchung dieser Familie wurde deutlich, dass eine klare Trennung zwischen Pietismus einerseits und Aufklärung andererseits, wie sie auf der Ebene der Ideen und Konzepte nach wie vor häufig behauptet wird, so nicht tragfähig ist.

Die zweite Sektion widmete sich Familienkulturen und -traditionen im 20. Jahrhundert. Ursina Bentele (Bern) befasste sich in diesem Kontext mit der „Tradition im Namen der Ehefrau“ und analysierte den schweizerischen Diskurs über das Namensrecht. Dabei führte sie ihre These aus, nach der die rechtliche Situation die von Sitte und Tradition überlieferte Rollennorm der Geschlechter widerspiegele, und verdeutlichte den anhaltenden Interessenkonflikt von Gemeinschaft und Individualität, von einheitlichem Familiennamen und rechtlicher Gleichbehandlung von Mann und Frau gemäß der Bundesverfassung. Insgesamt ließen sich anhand der Debatte die mit dem Familienideal verbundenen Norm- und Wertvorstellungen aufzeigen. Doreen Cerny (Salzburg) präsentierte Ergebnisse aus einer Studie zu Motiven der Wehrdienstverweigerung, in deren Rahmen Personen im Gedenkstättendienst befragt wurden. Am Beispiel eines Zeugen Jehova analysierte sie „Die Verschränkung familialer und religiös-milieuhafter Bedingungen einer Entscheidung gegen den Dienst an der Waffe” und ging der Frage nach, welche Zusammenhänge zwischen der eigenen Biographie, der Wehrdienstverweigerung und der Arbeit in einer Gedenkstätte existieren.

Nach der Mittagspause ging es wieder parallel weiter, in der dritten Sektion mit Vorträgen von Sandra Kirsch (Mainz) und Ljuba Vertun (Potsdam). Sandra Kirsch befasste sich in ihrem Vortrag mit „Emigration als Herausforderung für die Entwicklung des Selbst über kulturelle Einbindungs- und Ablöseprozesse“. Durch drei Fallrekonstruktionen von Personen, die allesamt während der NS-Zeit aus Deutschland emigriert waren, versuchte sie exemplarisch die Krisenbewältigungsmuster dieser Menschen herauszuarbeiten. Dabei verschränkte sie die Perspektiven Ulrich Oevermanns, der Sozialisation als Prozess der Krisenbewältigung versteht, und Robert Kegans, der die Entwicklung des Selbst in einbindenden Kulturen untersucht. Kirsch fokussierte damit den Zusammenhang von faktischen Krisenlagen und ontogenetischen Entwicklungskrisen. Ebenfalls mit Migration, hier allerdings von jüdisch-russischen EmigrantInnen, befasste sich Ljuba Vertun im Kontext von „Kontinuität oder Wandel von familientypischen Bildungsmustern“. Sie legte dar, dass eine qualitative Mehrgenerationenstudie für diese Bevölkerungsgruppe bislang ein Forschungsdesiderat darstellt. Weiter arbeitete sie heraus, wie bildungsbezogene Transferprozesse von der Großeltern- über die Eltern- bis hin zur Enkelgeneration stattfinden.

Die vierte Sektion richtete ihren Fokus auf die USA und die dortigen Familienkulturen und -traditionen im 20. Jahrhundert. Präsentiert wurden zwei laufende Forschungsprojekte aus der an der Universität Münster verorteten Forschergruppe „Familienwerte im gesellschaftlichen Wandel: Die US-amerikanische Familie im 20. Jahrhundert“. Dem Thema der Forschergruppe liegt die These zugrunde, dass Vorstellungen von der ,idealen Familie’ Regulative und damit Indikatoren zur Analyse gesellschaftlicher Wandlungsprozesse sein können. Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich Isabel Heinemann mit „Concepts of Motherhood“ und zeichnete für vier verschiedene Zeitspannen zwischen 1890 und 1980 die diesbezüglich geführten öffentlichen Debatten und Expertendiskurse sowie die Veränderung von Familienwerten nach. Zusammenfassend kann dabei die Aushandlung neuer Konzepte als ambivalenter Prozess beschrieben werden. In diesem Zusammenhang konnte Heinemann einen Widerspruch aufdecken: Die Ausbalancierung der Geschlechterrollen erfolgt unter Bezugnahme auf das Ideal der weißen Kernfamilie im Gegensatz zur realen Pluralität der Lebensformen. Claudia Roesch fokussierte „Umstrittene Familienkonzepte“ und erörterte „Repräsentationen von Familienwerten US-amerikanischer Experten und mexikanisch-amerikanischer Bürgerrechtsaktivisten im Wandel“. Unter Verwendung der Analysekriterien race, class und gender ging sie der Frage nach, wie sich das Verständnis von Familie im Untersuchungszeitraum von 1920 bis 1970 veränderte und wie ein Wertewandel durch unterschiedliche Familienstrukturen bedingt wurde. Mit diesem generationsgeschichtlichen Ansatz konnte Roesch die Familie als wichtigste Institution der Wertevermittlung charakterisieren und Familienform und Familienleben zudem als (zugeschriebene) Kennzeichen kultureller Zugehörigkeit beschreiben.

Der letzte Vortrag der Tagung wurde wieder im Plenum gehalten. Kontrovers wurde hier die „Theorie der Kulturtransmission“ diskutiert, die Irina Mchitarjan (Greifswald) in ihrem Vortrag „Die Bedeutung der Herkunftskultur in Migrantenfamilien: Empirische Befunde und ihre Erklärung durch die Theorie der Kulturtransmission“ präsentierte. Mchitarjan stellte Ergebnisse empirischer Forschung vor, die sie unter Zuhilfenahme dieser Theorie zu erklären versuchte.

In der abschließenden Reflexion der Tagung wurde vor dem Hintergrund der vielschichtigen Vorträge die Relevanz der Rolle der Familie für den Erhalt und den Wandel von Kultur hervorgehoben. Festgehalten wurde resümierend außerdem, dass sich im Rahmen der Tagung eine symptomatische Diskrepanz zwischen Theorien einerseits und historisch konkretisierbaren Fallbeispielen andererseits zeigte. Zugleich Abschluss wie auch Ausblick bildete das Votum für eine (noch) stärkere Arbeit mit empirischem Material, die zugleich theoriegeleitet ist, auf der nächsten Tagung.

Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Tagung; Genealogie; Familie; Kultur; Tradition
Eingetragen von: barkowski@dipf.de
Erfassungsdatum: 13. 05. 2011
Korrekturdatum: 13. 05. 2011