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HBO Datenbank - Bericht

Autor: Grunder, Hans-Ulrich
Titel: Kooperationen und Netzwerke in bildungshistorischer Perspektive - Bericht über die Jahrestagung 2011 der Historischen Sektion der DGfE in Basel (16.9.2011 – 18.9.2011)
Erscheinungsjahr: 11/2011
Text des Beitrages:


Länderübergreifende professionsbezogene Netzwerke, grenzüberschreitende Kooperationen oder auch lediglich lose Zusammenarbeitsformen, Interessenverbünde und berufliche Fachgesellschaften sowie Zusammenschlüsse (Lehrerverbände) sind in bildungs- und schulhistorischer Perspektive sowohl auf der individuellen Ebene als auch in institutioneller und vergleichender Hinsicht erst partiell bearbeitet und auf Grund jüngster Entwicklungen von zunehmendem Interesse.

Anlässlich ihrer Jahrestagung 2011 in Basel beschäftigte sich die Sektion Historische Bildungsforschung der DGfE - unter Bezugnahme auf bislang noch nicht bearbeitete Quellen - unter dem Titel Kooperationen und Netzwerke in bildungshistorischer Perspektive mit dem Thema der Beziehungen und Kommunikationsformen zwischen pädagogisch argumentierenden, aber auch die Aussenperspektive auf Pädagogik einnehmenden Akteuren, Akteursgruppen, Institutionen und Systemen in der Geschichte der Erziehung, Bildung und Schule der vergangenen Jahrhunderte, konzentriert auf die letzten zweihundertfünfzig Jahre. Es galt, Netzwerke und ihre Funktionen in ihren Charakteristika zu fassen und deren bildungshistorische und aktuelle Relevanz zu bestimmen.

Mit dem Tagungsort - in einem Dreiländereck gelegen und damit erstmals in der Geschichte der Historischen Kommission / der Sektion Historische Bildungsforschung der DGfE mit einer Stadt in der Schweiz als Tagungsort, erhielt das Thema seine lokale Affinität und Entsprechung.

Der thematische Akzent konkretisierte sich auf vier Ebenen: der individuellen, persönlichen Ebene, wo es um private, halbprivate und berufliche Beziehungen geht; hinsichtlich gruppenzentrierten Handelns, wo es um die Zusammenarbeit von an einem Thema Interessierten geht; was bundesländer- bzw. länderübergreifende (D, A), kantonsübergreifende (CH), nationale, aber auch übernationale Initiativen im Bildungssektor angeht; mit Blick auf internationale Organisationen und pädagogische Initiativen, die - oft lokal verankert (beispielsweise Fürstenschulen, Internate) - in den vergangenen Jahrhunderten im Bildungsbereich gegründet worden sind.

Die Tagungsorganisatoren verzichteten auf erwartbare thematische Gliederungen (z.B. nach Themen wie dem preußischen Schulwesen und der Reformpädagogik - oder nach Epochen) in der Absicht, das Potential der Theorie über Netzwerke und ihrer Methode deutlicher werden zu lassen. In Referaten und Diskussionen sollte die Fruchtbarkeit der Netzwerkanalyse in sieben Themenblöcken geprüft werden: Theorie und Methode der Netzwerkanalyse; Schulwesen, Berufsbildung, Hochschule; Bildungsreisen; Briefwechsel; Disziplingeschichte; Verbände - Konferenzen; Zeitschriften.


Der systematische Aspekt

Andreas Hoffmann-Ocon (PH Nordwestschweiz) diskutierte eingangs den zentralen, oft verwendeten Begriff. Demzufolge kann er sowohl positiv (‚Forschungsnetzwerk‘) als auch negativ (‚Terroristennetzwerk‘) konnotiert sein. Disziplinen und Subdisziplinen der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften sind in den letzten Jahren auf die ‚Theorieofferte Netzwerk‘ eingegangen. Auffällig ist Hoffman-Ocon zufolge, dass die Verhältnisbestimmung, die Nähe und Distanz von Disziplinen zur Netzwerkidee unterschiedlich ausfällt. Netzwerkanalyse falle historisch zusammen mit dem vor allem in den USA entstandenen Interesse für Soziometrie und Sozialanthropologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In dieser Etablierungsphase widmeten sich praxisrelevante Studien über mit den sozialen Strukturen in neu entstehenden Arbeitersiedlungen. Ende der 1960er Jahre wurde an der Universität Harvard die relationale Perspektive in den Sozialwissenschaften - eher empirisch-quantitativ – fundiert. Die Netzwerkforschung etablierte sich nun schnell in der Soziologie, der Wirtschafts- und Politikwissenschaft und langsamer in den Fächern der Geschichts- und der Erziehungswissenschaft. Im deutschsprachigen Raum wurde das Netzwerk-Paradigma Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre virulent. Später schlossen sich vor allem familiensoziologische Studien an, die oftmals auf dem Konzept des ‚Sozialkapitals‘ beruhten.

Insgesamt, so Hoffmann-Ocons Fazit, darf der ausser- und innerwissenschaftliche Erfolg der Netzwerk-Semantik nicht darüber hinwegtäuschen, dass zumindest in der Sozialwissenschaft Unsicherheit darüber herrscht, welche analytische Tiefenschärfe dem Begriff zukommt. Dies gilt ebenso für den Netzwerkbegriff in der historischen Bildungsforschung, wo sich zunächst die Frage stellt, ob ein bestimmtes bildungsgeschichtliches Phänomen, eine weitere bildungshistorische Methode oder ein theoretischer Zugang angesprochen sei.

In theoretischer Sicht stellen sich mit dem Blick auf den soziologischen, den historischen und den erziehungswissenschaftlichen Zugang Anschlussfragen etwa nach der Tauglichkeit des Netzwerkgedankens als gesellschaftstheoretischem Paradigma und nach etwaigen Mitnahmeeffekten für die historische Bildungsforschung.

In seinem Einführungsreferat verwies Georg Kreis (Universität Basel) darauf, dass Netzwerke `schon immer` existiert haben. Mit dem Hinzukommen des Begriffs seien aber mehr Netzwerke `entdeckt` worden - auch solche, die es nicht gebe. Mit einem Verweis auf die `Netzwerke` Isaak Iselins und Heinrich Pestalozzis problematisierte Kreis die Anwendung des Konzepts auf historische Sachverhalte. Marten Düring (Universität Essen) fokussierte auf die Potentiale der Sozialen Netzwerkanalyse als Theorie und Methode in den historischen Wissenschaften. Dort ermöglicht sie Düring zufolge die Erforschung und Beschreibung von komplexen sozialen Systemen (z.B. Organisations- und Zitationsbeziehungen, Mitgliedschaften, Briefwechsel, Kreditvergaben, Widerstandsleistungen, wissenschaftliche Kollaborationen). Düring betont, der Netzwerkansatz rücke die Bedeutung von Sozialbeziehungen in den Vordergrund und ermögliche es, diese vogelperspektivisch zu betrachten, zu systematisieren, zu visualisieren (Netzwerkkarten, Graphen) und zu analysieren.


Schulwesen, Berufsbildung, Hochschule

Martin Holý (Tschechische Akademie der Wissenschaften, Prag) konzentrierte sich auf die Beziehung zwischen der Erziehung und Bildung des Adels, die sich im 16. und frühen 17. Jahrhundert durchsetzte, und skizzierte den Einbezug der tschechischen Nobilität in die zeitgenössischen europäischen intellektuellen Netzwerke (Kontakte mit Gelehrten aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, der Schweiz, Frankreichs, Englands und den Niederlanden). Johanna Goldbeck (Universität Potsdam) stellte das Projekt „Das Besucherbuch der Reckahner Modellschule` vor, einer “Schlüsselquelle für europaweite Netzwerke im Zeitalter der Aufklärung“. Über die Quellenanalyse hinaus fragte sie mithilfe des Netzwerkansatzes nach der Bedeutung der Rochowschen Modellschule innerhalb der europaweit wirksamen Netzwerke der Aufklärung. Damit eröffneten sich Aussagen zur Wirkung der Rochowschen Pädagogik aufgrund der Rezeption der Besucher in Reckahn. Frank Tosch (Universität Potsdam) fragte vor dem Hintergrund der biographischen Stationen Karl Reinhardts, des Leiters des Städtischen Gymnasiums in Frankfurt, und dessen personellen, institutionellen, bildungspolitischen, administrativen und didaktischen Beziehungen und Netzen nach dem Erfolg des `Frankfurter Modells` der Schulorganisation, insbesondere nach jenen `Netzwerkfaktoren`, die dazu beigetragen haben, dass nach 1892 aus einem zunächst lokalen Schulversuch binnen dreier Jahrzehnte ein strukturelles Reformmodell in Preußen entstanden war, das bis zum Ende des Kaiserreichs zum ‚Marktführer’ höherer Schulen avancierte. Esther Berner (Universität Zürich) schilderte, wie sich in der Schweiz die professionelle Berufsberatung, Tests und Ausleseverfahren aufgrund des Zusammenwirkens mehrerer Akteure bzw. Akteursgruppen und Institutionen herausbildet haben. Carola Groppe (Universität Hamburg) verband die institutionellen und fachbezogenen Reformen an den preußischen Hochschulen mit einer Analyse der Personal- und Berufungspolitik von Carl Heinrich Becker (1876-1933), von 1919 bis 1925 Staatssekretär im preußischen Kultusministerium, 1921 und 1925 bis 1930 Kultusminister. Dessen Personal- und Berufungspolitik stand in engem Bezug zu Netzwerken, die Becker aufgrund seiner großbürgerlichen Herkunft besaß. Sie untersuchte mithilfe von Netzwerksanalysen die Beckersche Berufungspraxis und interpretierte sie als Teil einer Hochschulpolitik, die neben Strukturreformen insbesondere auf die inhaltliche Umgestaltung von Forschung und Lehre (Weltanschauung und Wertevermittlung als Teil der Wissenschaft) abzielte. Anhand der Archivakten analysierte Verena Stürmer (Universität Würzburg) das Netzwerk, das in der DDR monopolhaft die Entwicklung von Erstlesebüchern betrieb. Ihr Fokus lag auf der Identifizierung der für die Entwicklung und Zulassung der Fibel maßgeblichen individuellen und kollektiven Netzwerkakteure. Bezogen auf den diachronen Verlauf identifizierte sie zeitlich stabile und instabile personelle Überschneidungen zwischen den Akteursgruppen, die erkennen lassen, wie komplex das Netzwerk gewesen ist. Ausgehend von dieser Netzwerkanalyse schloss sie auf die Aushandlungsprozesse über die inhaltlichen Gestaltungselemente der Fibel zwischen den Beteiligten. Vor dem Hintergrund, dass die von den US-amerikanischen Streitkräften nach dem Zweiten Weltkrieg besetzten Gebiete sich in etlichen deutschen Städten zu dauerhaften Stationierungsstandorten entwickelten, dass ihre Infrastruktur wuchs, US-amerikanische Gemeinden entstanden, innerhalb derer auch Schulen für die Kinder der Militärangehörigen gegründet wurden, diskutierte Simone Gutwerk (Universität Würzburg) die inhaltliche Ausgestaltung der Programmkonzeption, also die historische Konzeption des Programms in den Jahren 1946 bis 1970, die sie mittels historisch-hermeneutischer Quellenforschung rekonstruiert hat.

Christoph Schindler (DIPF, Frankfurt) stellte eine webbasierte Forschungsumgebung vor, welche die kollaborative, kooperative Erforschung von Netzwerken in der Bildungsforschung unterstützen soll. Angesichts der zunehmend digitalisiert vorliegenden Materialien und Quellen bieten Virtuelle Forschungsumgebungen nach Schindler Instrumentarien zum kollaborativen Kodieren und Analysieren in räumlich verteilten Forschungszusammenhängen. Diese Virtuelle Forschungsumgebung wird zunächst exemplarisch und unter Verwendung digitalisierter Nachschlagewerke der Scripta Paedagogica Online der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung umgesetzt. Die Zusammenarbeit mit Bildungshistorikerinnen und Bildungshistorikern stellt dabei sicher, dass sie in konkreter Auseinandersetzung mit der Forschungspraxis entsteht. So lassen sich Anforderungen aus der Forschung iterativ umsetzen (flexible Anpassung der Klassifikationen, Integration von Qualitätsprüfungsverfahren unterschiedliche Visualisierungen von Ergebnissen in Listen, Tabellen, Diagrammen, Landkarten). Marcelo Caruso (Humboldt Universität Berlin) verortete den Begriff in einer `mittleren Position` zwischen starren Gebilden wie `Klasse` oder `Schicht` und den zufälligen, schwer zu erfassenden Alltagskontakten und erscheint damit vielen Forschern als angemessener Erklärungsansatz zur Beschreibung der Entstehung und von Veränderungen sozialer Beziehungen im Kontext medial ermöglichter, globaler Kommunikationen. Darum lenkt die Frage der Formalisierung von Netzwerken und der daraus entstehenden Verbindungen zum Staat und anderen Organisationen den Blick der historischen Netzwerkforschung auf Prozesse der Musterbildung und der geordneten Verdichtung von Verbindungen. Anhand der Übernahme und Einverleibung kleinerer Netzwerke in eine zentralisierte Institution der geordneten Lehrerausbildung (Escuela Normal Central) in Madrid im Jahr 1840 analysierte Caruso eine Dynamik der Formalisierung von Beziehungen - bedingt durch den Umstand, dass bei der Verabschiedung der allgemeinen Schulpflicht (1857) diese Normalschule eine unangefochtene Stellung als Ort der Zentralisierung von Innovationen errungen hatte. Andreas Pehnke (Universität Greifswald) fragte, warum die Chemnitzer Versuchsklassenarbeit an staatlichen Regelschulen von 1912 bis 1914 zu dem Ergebnis führte, dass seit Ostern 1914 sämtliche fünfzig Chemnitzer Volksschulen nach dem zuvor erfolgreich erprobten Unterrichtsreformmodell arbeiteten, während die zeitgleich in Leipzig und in Dresden sehr viel umfangreicher durchgeführte Versuchsklassenarbeit in der kommunalen und ministeriellen Schulaufsicht auf eine sehr eingeschränkte Resonanz stiess. Sein Fazit: Die netzwerkabgesicherten Petitionen, Anträge und Eingaben führten seitens der ministeriellen Schulaufsicht zu einem bemerkenswerten Entgegenkommen. Dem Netzwerk ist es zu verdanken, dass parteipolitische und ideologische Zwänge im Interesse des Voranbringens von Schulreforminitiativen weitgehend ausgespart blieben.


Disziplingeschichte

Dayana Lau (Universität Halle-Wittenberg) unterstellte, die Entwicklung der deutschen Sozialen Arbeit sei in ihrer Gründungsphase nur nachvollziehbar, berücksichtige man den zeitgenössischen Dialog mit der US-amerikanischen Sozialen Arbeit und deren Rezeption in Deutschland. So bemühte sich die frühe Soziale Arbeit um eine sozialwissenschaftliche Grundlage ihrer Methoden und orientierte sich an den Verfahren der Chicagoer Schule der Soziologie, deren Verfahren sie für die Praxis Sozialer Arbeit nutzbar machte, was sich schliesslich in einer Sicht der Sozialen Arbeit als `case work` niederschlug.

Peter Kauder (Universität Dortmund) erwartet - auf der Basis bisheriger Arbeiten zur Nohl-, Blankertz- und zur Petzelt-Schule -, dass wissenschaftliche Schulen sich insofern von anderen wissenschaftlichen Netzwerken unterscheiden, als sie altershierarchisch, wissenshierarchisch und statushierarchisch ausgelegt sind, über informelle Aufnahmerituale verfügen und ein `Schulprogramm` existiert. Er fragte danach, inwieweit sich die wenigen nachweislich vorhandenen wissenschaftlichen Schulen der Erziehungswissenschaft strukturell bestimmen und von anderen wissenschaftlichen Netzwerken (z.B. der DGfE, ihren Kommissionen) abgrenzen lassen. Atsushi Suzuki (Hyogo University, Japan) beschäftigte sich anhand der Analyse von Zeitschriften mit der Rekonstruktion innerer Wirkungsbeziehungen und der Frage nach Personenkonstellationen, die auf dem japanischen Interesse an deutscher Erziehungswissenschaft begründet sind. Darüberhinaus befasste er sich mit dem Zustandekommen japanisch-deutscher Beziehungen in der Erziehungswissenschaft und diskutierte die Bedeutung, welche der nach 2000 tendenziell verstärkten Amerikanisierung für die Tradition der philosophischen Erziehungswissenschaft in Japan zugekommen ist.


Zeitschriften

Der Ausgangspunkt Klemens Ketelhuts (Universität Halle-Wittenberg) lag in der Annahme, dass funktionierende Netzwerke reformpädagogische Bemühungen und ihr Gelingen begünstigt haben. Als Beispiel zog er Berthold Otto und sein Umfeld heran, indem er zu nächst methodologisch überlegte, wie das Feld der Netzwerkforschung zu untersuchen sei und welche Aspekte für die Auseinandersetzung mit der Fragestellung bedeutsam und wie diese für die Rekonstruktion des reformpädagogischen Netzwerks um Berthold Otto fruchtbar zu machen seien. Zu diesem Zweck wurden die Zeitschriften, die Berthold Otto edierte, und die Tagungen der `Gesellschaft für Deutsche Erziehung` als Anbahnungsplattform und Medium von Netzwerken interpretiert und als entstehende und sich verändernde Kooperationen rekonstruiert und dargestellt.

Michaela Vogt (Universität Würzburg) ging der Professionspublizistik unter den politischen Systembedingungen der DDR anhand des Beispiels der Zeitschrift `Die Unterstufe` nach. Anhand der analysierten Archivakten durchleuchtete sie Kooperations- und Kommunikationsprozesse der Zeitschriftenredaktion. Eine solche methodologisch fundierte und strukturierte Analyse der Zeitschrift im Sinn eines Dispositivs als auch die Aufschlüsselung der entsprechenden diskursiven Praktiken aufgrund archivierter Dokumente sind bislang in der bildungshistorischen Forschung zur DDR unberücksichtigt geblieben. Christiane Griese (Technische Universität Berlin) unterstellte mit Blick auf das Beispiel von `PAEDForum’, dass sich in einem Zeitschriften-Netzwerk, das in der Öffentlichkeit über die Präsentation ausgewählter Inhalte und Standpunkte im Periodikum sichtbar wird, auch Fachdebatten und Theorieentwicklung ablesen lassen. Sie befasste sich mit der Frage, wie sich über Inhalte ein bestimmtes interessen- und standpunktgeleitetes gruppenzentriertes Handeln dokumentieren lässt. Mit der Auswertung von Quellen zur Redaktion bzw. zur Herausgeberschaft von PÄDForum machte sie ein (ausser-)universitäres, informelles und zugleich überregionales, punktuell internationales Netzwerk kenntlich.



Verbände und Konferenzen

Matthias Blum (Freie Universität Berlin) beschrieb die Fortbildung katholischer Priester im Bistum Konstanz des 19. Jahrhunderts, die damals ganz in der Tradition der katholischen Aufklärung gestanden hat. Dabei spiegelten Überlegungen, wonach sich `Seelsorger-Tugenden nicht mit dem schwarzen Rock anziehen lassen`, dass `der Geistliche gebildet werden muss`, dass man `lieber gar keine Geistlichen als geistesträge Ignoranten` hätte und dass die Katholiken `keine Idioten auf dem Gebiet der Erziehung bleiben dürfen`, ein neues katholisches Bildungsverständnis wider. Lucien Criblez (Universität Zürich) schilderte überkantonalen Netzwerke im föderalistischen Bildungssystem der Schweiz, welche hinsichtlich des Auf- und Ausbaus der Schulen aller Stufen besonders relevant gewesen sind. Dies gilt Criblez zufolge insbesondere für das 19. Jahrhundert, jene Zeit, in der die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (gegründet 1897) als interkantonales Deliberationsforum noch nicht bestanden hat. Criblez verwies auf das für gesamtschweizerische volkswirtschaftliche, soziale und pädagogische Debatten in der Schweiz im 19. Jahrhundert wohl wichtigste Netzwerk, die Schweizerische Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG; gegründet 1810) - gleichzeitig Diskussionsforum, Ort gemeinsamer Initiativen und Innovationsagentur. Steffi Koslowski (Reinbek) zeichnete die 1921 von Beatrice Ensor, Elisabeth Rotten und Adolphe Ferrière in Calais zur Förderung der `Neuen Erziehung` gegründete New Education Fellowship (NEF) als eine sich ausdifferenzierende Organisationsstruktur zu einer global agierenden Vereinigung nach. Als Teil eines Internationalisierungsprozesses im pädagogischen Bereich realisierte die NEF über Konferenzen und Zeitschriften einen internationalen und interdisziplinären Austausch, der zentrale Figuren der sich konstituierenden und institutionalisierenden Fachdisziplinen Pädagogik und Psychologie und reformorientierte Praktiker zusammenführte. Sie fragte nach konkreten Kooperationsformen, -partnern und -ergebnissen der NEF. Anhand von Primärquellen (Zeitschriften der deutschen reformpädagogischen Lehrerschaft in der Tschechoslowakei) stellte Tomas Kasper (Universität Liberec) die Haupttendenzen und Diskurse in den deutschen reformpädagogischen Vereinen in der Tschechoslowakei im Zeitraum 1918 bis 1938 dar. Sein Blick richtete sich auf die Diskussion in den Vereinen (Freie Arbeitsgemeinschaft deutscher Volksschullehrer und Bürgerschullehrer, Deutscher Arbeitskreis für Neugestaltung der Erziehung in der Tschechoslowakei, Deutscher Lehrerbund im tschechoslowakischen Staate).Karin Manz (Universität Zürich) beschäftige sich mit der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK, vgl. in Deutschland: KMK), einer Organisation, die sie aufgrund ihrer Stellung und Funktion im Politikbetrieb Netzwerkcharakter zugestand. So hatte die EDK qua Auftrag des ersten Statuts vom 27. Juli 1898 ausschliesslich als Netzwerk funktioniert. Sie diente als Diskussionsplattform und Ort des Austauschs und sollte unter den Erziehungsdirektoren Konsens schaffen. Doch erste seit der stärkeren organisationalen Strukturierung und der Erweiterung ihrer Kompetenz als Konkordatsorgan des Schulkonkordats von 1970 wurde sie Manz zufolge zu einer `nationalen` Institution im schweizerischen Bildungsbereich.


Bildungsreisen

Sylvia Kesper-Biermann (Universität Paderborn) beschäftigte sich mit pädagogischen Reisen, d. h. dem Besuch von Lehr- und Bildungsanstalten innerhalb des deutschsprachigen Raums durch Schulfachleute im 19. Jahrhundert. Solche Reisen fanden staaten- bzw. länderübergreifend statt, dienten vornehmlich der Informationsbeschaffung sowie dem Transfer dieses Wissens und standen häufig im Zusammenhang mit Bildungsreformen in einzelnen Territorien. Sie bildeten, so die Hypothese Kesper-Biermanns, ein wesentliches Element staatenübergreifender Kommunikation und Netzwerkbildung bzw. -stabilisierung im Schulwesen zwischen 1800 und 1918. Toshiko Ito (Universität Mie, Japan) stellte die Zusammenarbeit zwischen dem Berner Lebensreformer Werner Zimmermann (1893-1982) und Kuniyoshi Obara (1889-1977) und dessen Landerziehungsheim in Japan dar und erörterte, inwieweit es Zimmermann gelang, im deutschsprachigen Raum eine Gefolgschaft für Obaras Erziehungsideal zu begründen.


Briefwechsel

Barbara Caluori, Rebekka Horlacher (beide Universität Zürich) und Daniel Tröhler (Université du Luxembourg) schilderten anhand eines Beispiels - dem grossen Erfolg der Subskription für die Gesammelten Werke Pestalozzis (1816/1817) - ein Netzwerk, welches aus einflussreichen und zahlungskräftigen Exponenten der europäischen Restauration bestand. Die Netzwerkperspektive erhellte, wie und über welche Schaltstellen sich das Netzwerk der Subskribenten organisierte.

Daniela Bartholome und Franz Hespe (beide Universität Braunschweig) definierten den Briefnachlass Friedrich Paulsens (1846-1908) als nationales und transatlantisches Netzwerk. Mit der Erschließung von bisher unbekannten Quellenbeständen - dem im Nachlass vorhandenen Briefbestand (1.400 Korrespondenzpartner, ca. 12.000 Einzelstücken mit 35.000 Seiten) - lassen sich offene Fragen dazu heute auf einer stark erweiterten Datengrundlage bearbeiten. Im Zentrum der Analysen dieses (DFG geförderte) Forschungsprojekts steht die milieubezogene Rekonstruktion eines Netzwerks bildungspolitischer und kulturphilosophischer Ideen, Personen und Denkformen im Kaiserreich unter Berücksichtigung der nationalen und der internationalen Wirkungsgeschichte. Edith Glaser (Universität Kassel) untersuchte das Briefnetzwerk Wilhelm Flitners. In dessen Korrespondenz aus den Jahren 1919 bis 1926 (550 ausgewählte Briefe) schneiden sich nach Edith Glaser mehrere Netzwerkebenen - die persönliche Kommunikation mit Freunden aus der gemeinsamen Studienzeit in Jena, der gruppenzentrierte Austausch mit jüngeren und älteren Kollegen aus der Erwachse-nenbildung und die disziplinorientierte Verständigung über die Etablierung der Zeitschrift `Die Erziehung`.

Diese Netzwerkebenen und deren Knotenpunkte sind rekonstruiert worden, bevor in einem zweiten Schritt zur Debatte stand, ob die soziale Netzwerkanalyse für eine biographisch orientierte Disziplingeschichtsschreibung eine notwendige Vorarbeit darstelle, um Denkkollektive und Denkstile (im Sinn von Ludwik Fleck) weiter zu identifizieren.


Ein Fazit

Ein erster Aspekt: Wer in bildungshistorischen Projekten mit Netzwerken arbeitet, setzt reflektiert ein Instrument ein, das Einsicht in Beziehungen zwischen Personen, Sachverhalten, Orten, Manifestationen verspricht. Schon da stellt sich die Frage des Vorgehens:

- Ein Netzwerk muss man konstruieren, indem man es einer Gruppe - wir greifen ein Beispiel heraus - einer Gruppe von Personen gleichsam als These `unterschiebt`, und dann zu zeigen hat, dass es existiert.

- Netzwerke, so vermutet man zuerst einmal, sind mittels der Quellen als existierend zu belegen. Es gilt also zu beweisen, dass diese oder jene Gruppe oder Begebenheit, dieser oder jener Sachverhalt als `Netzwerk` zu etikettieren ist.

- Netzwerkanalyse besteht dann darin, die Bezüge zwischen Knoten und Kanten zu beschreiben, die Stärke der Beziehungen und deren Art zwischen den Knoten zu illustrieren und die Funktionen von Knoten zu erklären, ebensowie die Stärke der Kanten.

Inwieweit solche Beschreibungen über die bekannten, herkömmlichen biographisch-historischen Ansätze hinausreichen, ist zu fragen. In einigen Vorträgen haben wir beobachtet, dass der systematische Nachweis von Netzverbindungen und Knoten den traditionellen personengeschichtlichen Ansatz deutlich erweitert. Wenn dann in einem Netzwerk noch die Chronoebene sichtbar gemacht werden könnte, bringt dies einen Zusatzgewinn, insofern als erklärbar würde, wie sich Netzwerke in der Zeit verändern.

Netzwerke sind also Arbeitsinstrumente einer personen-, institutionen-, real-, oder mentalitätsgeschichtlich vorgehenden historischen Bildungsforschung, die sich mit dieser `empirisch akzentuierten Herangehensweise` eines bislang oft zu wenig beachteten Aspekts der Bildungsgeschichte vergewissert, indem sie dessen Existenz - das Netzwerk -, zunächst vermutet, anhand der Quellen nachzuweisen versucht, mittels einer Netzwerkanalyse in seinen Eigenschaften näher bestimmt und dann daraus anderweitig unzugängliche Erkenntnisse über Positionen von Personen, Inklusions- und Exklusionsaspekte, über Dazugehören oder Ausgeschlossensein ableitet. Die Fruchtbarkeit des Ansatzes ist weiterhin in Einzelstudien zu belegen.


Dann ein zweiter Punkt: Ein gutes Objekt für eine solche Herangehensweise stellt die Stadt Genf als ein `pädagogisches Biotop` zu Beginn des 20. Jahrhunderts dar. Dort findet sich ein Lebens- und Arbeitsraum von schulreformerisch aktiven Persönlichkeiten, bildungspolitisch gleichlautenden Absichten, schuladministrativer Unterstützung, Support der Lehrervereine und reformfreundlicher Eltern - zunächst ein kleines Chaos an vielfältigen Institutionen um Personen wie Bovet, Flournoy, Claparède, Ferrière, Dottrens, Descoeudres, Dalcroze, später Piaget, das - so ist zu vermuten - mittels des Konstrukts `Netzwerk` besser zu erklären ist als mit dem Begriff `pädagogisches Laboratorium` oder `pädagogisches Zentrum“. Zu erklären wären dann jeweils auch die Ausnahmen, die Gegenläufigkeiten oder jene Knoten, die zwar zum Netz gehören, aber oft im Netz gegen den Stachel löken, ohne dass sie aus dem Netz entfernt würden. Zu erklären wäre aufgrund der Netzwerkanalyse, welche Mindestbedingungen etwa für eine Schulreform bestehen müssen, und zu erklären wäre, weshalb ein Netz wie dieses zerfällt oder andere neue Knoten wichtiger werden - hier zum Beispiel jenes von Célestin Freinet in Südfrankreich oder jenes von Ovide Decroly in Belgien.

Und wie steht es mit der Erklärungskraft von Netzwerken, was emotionale oder soziale Bezüge zwischen den `Knoten` und längs der `Kanten` betrifft. Wiederum das Beispiel Genfs: Flournoy war der um vieles ältere Cousin von Claparède Piaget, hat in Neuchâtel die Familie Bovets kennengelernt, Ferrière war Lehrer in Haubinda bei Lietz und ein guter Freund Freinets, Dalcroze war als Musiker und Komponist der Freund vieler Genfer, Piaget kam 1925 in ein `Nest` der `éducation nouvelle` nach Genf, er hat sich zwingend für die `éducation nouvelle` entscheiden müssen, Dottrens war Schulinspektor in Genf, zugleich Professor in Lausanne und Dozent am Institut Jean-Jacques Rousseau sowie Leiter der Versuchsschule `Ecole du Mail`, Malche war Kulturminister und setzte sich für die éducation nouvelle ein.

Bislang wurde das `reformpädagogische Zentrum Genf` des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht als Netzwerk beschrieben. Wir vermuten, hier zeitigte die Netzwerkanalyse über die bisherige Forschungsresultate hinausweisende zusätzliche Ergebnisse.

Ein dritter Aspekt: Wenn die Methode, das Instrument, zu einer Quantifizierungseuphorie führt, wäre dies nachvollziehbar. Wir haben jedoch nichts gegen den Versuch, Knoten und Kanten zu gewichten, einzuwenden. Wer ein Instrument anwendet, hat zu belegen, dass es valide Erkenntnisse liefert, die über den bisherigen Wissensstand hinausreichen, also einen Zugewinn bildungshistorischen Wissens erlauben. Allerdings sollten wir jetzt nicht versuchen, über jeden bildungshistorischen Sachverhalt ein Netz zu legen.

Fazit: Als Forschungsansatz sind der Ansatz des Netzwerks und jener der Netzwerkanalyse geeignet - bei allen anlässlich der Jahrestagung aufgeworfenen Fragen - zu neuen Erkenntnissen zu führen, nicht zuletzt deshalb, weil damit begriffsgeschichtliche, personengeschichtliche, ideengeschichtliche, institutionsgeschichtliche und mentalitätsgeschichtliche Herangehensweisen der Historischen Bildungsforschung zu verbinden sind.

Wer weiss: Vielleicht ersetzen die Bildungshistoriker den Begriff Netzwerk um jenen eines Instruments zur Identifizierung von Denkkollektiven und ihren Denkstilen . (vgl. Edith Glaser an der Jahrestagung 2011).

Hans-Ulrich Grunder, Prof. Dr. phil. I habil.; Leiter Zentrum Schule als öffentlicher Erziehungsraum, Pädagogische Hochschule der FHNW; Mail: hansulrich.grunder@fhnw.ch

Andreas Hoffmann-Ocon, Prof. Dr.; Leiter Professur für Allgemeine und Historische Pädagogik, Pädagogische Hochschule der FHNW; Mail: andreas.hoffmannocon@fhnw.ch

Peter Metz, Prof. Dr.; Professor für Allgemeine und Historische Pädagogik; Mail: peter.metz@fhnw.ch

Schlagwörter: Bildungsgeschichte; Tagung; Historische Bildungsforschung; Kooperation; Netzwerk
Eingetragen von: barkowski@dipf.de
Erfassungsdatum: 18. 11. 2011
Korrekturdatum: 18. 11. 2011